Opfer des Kommunismus

 

(...) Die Geschichte der kommunistischen Regime und Parteien, ihrer Politik, ihrer Beziehungen zur Gesellschaft in den jeweiligen Ländern und zur Völkergemeinschaft erschöpft sich nicht in dieser Dimension des Verbrechens, auch nicht in einer Dimension des Terrors und der Unterdrückung. In der Sowjetunion und den »Volksdemokratien« schwächte sich der Terror nach Stalins, in China nach Maos Tod ab, die Gesellschaft gewann wieder Farbe, die »friedliche Koexistenz« wurde ‑ selbst als »Fortsetzung des Klassenkampfs in anderer Form« ‑ zu einer Konstante der internationalen Beziehungen. Dennoch belegen die Archive und unzählige Zeugenaussagen, daß der Terror von Anfang an ein Grundzug des modernen Kommunismus war. Verabschieden wir uns von der Vorstellung, diese oder jene Geiselerschießung, dieses Massaker an aufständischen Arbeitern oder jene Hungersnot, der man zahllose Bauern zum Opfer fallen ließ, sei lediglich dem zufälligen Zusammentreffen unglückseliger Umstände zuzurechnen, die sich nur in eben diesem Land oder zu jener Zeit ergeben konnten. Unser Ansatz geht über spezifische Themenkomplexe hinaus und untersucht die verbrecherische Dimension als eine, die für das gesamte kommunistische System charakteristisch war, solange es existierte.

 

Von welchen Verbrechen sprechen wir also? Der Kommunismus hat unzählige begangen: vor allem Verbrechen wider den Geist, aber auch Verbrechen gegen die universale Kultur und die nationalen Kulturen, Stalin ließ in Moskau an die zehn Kirchen niederreißen. Ceaucescu zerstörte den historischen Stadtkern Bukarests, um Gebäude megalomanischen Ausmaßes zu errichten. Auf Geheiß Pol Pots wurden die Kathedrale von Phnom Penh Stein für Stein abgetragen und die Tempel von Angkor dem Dschungel überlassen. Während der maoistischen Kulturrevolution zerschlugen oder verbrannten die Roten Garden Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Doch wie schwer diese Zerstörungen auf lange Sicht für die einzelnen Nationen und die ganze Menschheit auch wiegen, was sind sie gegen den Massenmord an Männern, Frauen, Kindern?

 

Deshalb geht es hier nur um die Verbrechen gegen Personen, den Kern des terroristischen Phänomens. Sie haben eine gemeinsame Nomenklatur, auch wenn, je nach Regime, die eine oder andere Praxis stärker ausgeprägt ist: Hinrichtung mit verschiedenen Mitteln (Erschießen, Erhängen, Ertränken, Prügeln; in bestimmten Fällen Kampfgas, Gift, Verkehrsunfall), Vernichtung durch Hunger (Hungersnöte, die absichtlich hervorgerufen und/oder nicht gelindert wurden), Deportation (wobei der Tod auf Fußmärschen oder im Viehwaggon eintreten konnte oder auch am Wohnort und/oder bei Zwangsarbeit durch Erschöpfung, Krankheit, Hunger, Kälte). Die Zeiten sogenannten Bürgerkriegs sind komplizierter zu beurteilen: Hier ist nicht leicht zu unterscheiden, was zum Kampf zwischen Staatsmacht und Rebellen gehört und was ein Massaker an der Zivilbevölkerung ist.

 

Dennoch können wir eine erste Bilanz ziehen, deren Zahlen zwar nur eine Annäherung und noch zu präzisieren sind, die aber, gestützt auf persönliche Schätzungen, die Größenordnung aufzeigen und klarmachen, wie wichtig dieses Thema ist:

 

- Sowjetunion: 20 Millionen Tote

‑ China: 65 Millionen Tote

‑ Vietnam: 1 Million Tote

‑ Nordkorea: 2 Millionen Tote

- Kambodscha: 2 Millionen Tote

‑ Osteuropa: 1 Million Tote

- Lateinamerika: 150 000 Tote

- Afrika: 1,7 Millionen Tote

‑ Afghanistan: 1,5 Millionen Tote

‑ kommunistische Internationale und nicht an der Macht befindliche kommunistische Parteien: etwa 10 000 Tote.

 

Alles in allem kommt die Bilanz der Zahl von hundert Millionen Toten nahe.

 

Hinter diesem groben Raster verbergen sich große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Relativ gesehen, gebührt der erste Platz zweifellos Kambodscha, wo es Pol Pot gelang, in dreieinhalb Jahren rund ein Viertel der Bevölkerung auf grausamste Weise umzubringen, mit allgemeinem Hunger und Folter. Beim Maoismus hingegen macht die immense Masse von Toten schaudern. Was das leninistische und stalinistische Rußland betrifft, so gefriert einem das Blut in den Adern, betrachtet man den einerseits experimentellen, andererseits jedoch absolut durchdachten, logischen und politischen Charakter der Maßnahmen. (...)

 

Quelle: "Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror" von Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin, München 1998, S. 15 f

 

Anmerkung: Um die Verbrechen des Kommunismus hinsichtlich Größenordnung und Motivation in einen weiteren Zusammenhang der Menschheitsgeschichte zu stellen, empfiehlt sich die Lektüre von "Massenmord im Weltgeschehen. Bilanz zweier Jahrtausende" von Gerhard Ludwig, Stuttgart 1951 und "Massaker in der Weltgeschichte. Ein Versuch über Grenzen der Menschlichkeit" von Imanuel Geiss, in "Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus" von Uwe Backes / Eckhard Jesse, Rainer Zitelmann (Hg.), Frankfurt am Main / Berlin 1990, S. 110 - 135.