Offene Täter-Fragen im Holocaust

Im Vollbesitz der "Gnade der späten Geburt" ist es einfacher, im Interesse historischer Wahrheit (und nicht nur nationaler Unbeflecktheit) Behauptungen zu hinterfragen, die alle Schlechtigkeit des 20. Jahrhunderts der Generation unserer Väter und Großväter in die Schuhe schieben wollen.

Einer dieser "wunden" – mit einem Tabu belegten – Punkte ist die Beteiligung anderer europäischer Völker an der Mißhandlung und Tötung von Juden während des Zweiten Weltkrieges.

Um einen Einstieg zu finden und insbesondere, um zu erkennen, daß von interessierter Seite gefälscht, manipuliert und vertuscht wurde, wird dringend zur Lektüre empfohlen: "Offene Fragen der Holocaust-Forschung. Das Beispiel des Baltikums" von Hans-Heinrich Wilhelm (Jahrgang 1944).

Daraus einige signifikante Auszüge:

"... In zahlreichen Fragen tappen wir noch völlig im dunkeln. Vielleicht am schlechtesten erforscht ist die Judenvernichtung in der Ukraine, soweit sie erst im Frühjahr 1942 oder später stattfand – obwohl es darüber vermutlich vielerorts noch unpubliziertes Archivmaterial gibt: in der Ukraine, in Rumänien, in London und im Vatikan; sogar das amerikanische "Office of Strategic Services" scheint teils direkt, teil über London im Krieg recht gut über die Vorgänge unterrichtet gewesen zu sein ...."

"Was sich 1941 im Baltikum, in Lemberg, Minsk und Kiew abgespielt hat, ist vergleichsweise gut dokumentiert, aber jenseits dieser Linie gibt es riesige Gebiete, die hinsichtlich der Holocaust-Forschung bis heute (1990) terra incognita sind. ..."

"Über Himmler und Heydrich wurde bereits einiges publiziert, auf sehr unterschiedlichem Niveau. Aber über zahlreiche kaum weniger prominente "Endlösungs"-Protagonisten hat die breite Öffentlichkeit bisher noch bemerkenswert wenig erfahren; etwa über Heydrichs Nachfolger Kaltenbrunner, über "Gestapo"-Müller, über Oswald Pohl und Arthur Nebe.

Wenn schlimme Blamagen abgewendet werden sollen, wird die Zeitgeschichtsforschung in den nächsten Jahren alles daran setzen müssen, ihre Quellenbasis nicht nur besser abzusichern, sondern auch wesentlich zu verbreitern. ..."

"Eines der immer noch besonders heiß diskutierten Themen ist die Frage der Mitwisserschaft bzw. des Grades der Verstrickung in die "Endlösung", an deren Beantwortung auch die sowjetische Historikerschaft künftig intensiver mitarbeiten sollte. Aus unschwer zu erratenden Gründen wurde vor allem in Deutschland nach 1945 sehr oft die These vertreten, von der "Endlösung" habe so gut wie niemand etwas gewußt. Die Durchführung habe auf einem "Führerbefehl" beruht, gegen den jeder Widerstand zwecklos gewesen sei. Erst nach und nach stellte sich heraus, daß in Wirklichkeit der Kreis der Mitwisser doch recht groß gewesen sein muß. Und erst neuerdings häufen sich die Verdachtsmomente, daß mit der systematischen Vernichtung der Juden möglicherweise erst einige Zeit nach dem Überfall auf die Sowjetunion begonnen worden ist, und zwar ohne völlig unmißverständliche Direktiven aus Berlin. Es gibt recht eindeutige Hinweise darauf, daß erst in Nürnberg 1945 "Sprachregelungen" verabredet worden sind, nach denen die betreffenden Befehle 1941 schon vor dem Antreten im Osten ausgegeben sein sollten. Die Zeugenaussagen differieren ganz erheblich. Es gibt Zeugen, die in einer ganzen Serie von Prozessen zu den gleichen Fragen immer wieder vernommen worden sind und gezwungen waren, in der direkten Konfrontation mit ihren früher gemachten Aussagen diese nicht nur zu modifizieren, sondern völlig umzustoßen. ..."

"Natürlich würde in diesem Zusammenhang auch außerordentlich interessieren, was z.B. die Litauer und Letten dazu zu sagen haben. Ob man sich auch in Riga vorstellen kann, daß die Deutschen und ihre landeseigenen Helfershelfer in Litauen und vielleicht auch noch in Riga mit der unterschiedslosen Abschlachtung jüdischer Männer, Frauen und Kinder begannen, ohne von Berlin dazu autorisiert worden zu sein, ..."

"...der Höheren SS- und Polizeiführer, die am 2. Juli 1941 von Heydrich noch schriftlich instruiert worden waren, "nur" die Juden in Partei- und Staatsstellungen exekutieren zu lassen." ...

"Mit Andrew Ezergailis läßt sich in der Tat fragen, ob der lettische Eigenanteil an der Judenvernichtung in Lettland und später auch anderswo in Wirklichkeit nicht viel größer gewesen sein muß, als sich den zeitgenössischen SS-Berichten entnehmen läßt." ...

"Erst Claude Lanzmanns Film "Shoah" hat die breite Öffentlichkeit in Europa auf das bystander-Problem in Polen aufmerksam gemacht. Daß es ukrainische Hilfsmannschaften in den polnischen Vernichtungslagern gab, haben viele wohl erst der Berichterstattung über den Demjanjuk-Prozeß in Israel entnommen. Der Prozeß gegen Viktor Arajs, in dem ein deutsches Gericht die Rolle der lettischen Kollaboration bei der "Endlösung" aufzuarbeiten versuchte, wurde weitgehend totgeschwiegen." ....

"Vermutlich wird es noch Jahre dauern, bis sich wenigstens unter den historisch Gebildeten des Landes die Erkenntnis durchsetzt, daß es einen nicht zu vernachlässigenden lettischen Anteil an der "Endlösung" gegeben hat. Wann auch die lettische Schuljugend mit dieser schockierenden Tatsache konfrontiert werden wird, ist noch gar nicht abzusehen. Die neuen chauvinistischen Tendenzen sind sicher nicht der ideale Nährboden für die Propagierung eines Geschichtsbildes ganz ohne nationale Scheuklappen." ...

"Weil 1941 mit den "spontanen" Pogromen im Baltikum die Massenvernichtung der Juden in ganz großem Stil ins Rollen gebracht wurde, ist eine gründliche nochmalige Durchleuchtung aller Tatumstände in dieser Region besonders vordringlich. Es sollte aber klar sein, daß analoge Untersuchungen auch für die anderen Regionen folgen müssen."