Der Ursprung des Nationalsozialismus

 

Auf der Suche nach Wahrheit und Klarheit hinsichtlich des Werdens und Wachsens der NSDAP ist Dr. Dietrich Bronder zu vier bedeutsamen Ergebnissen gelangt ... Sie lauten:

 

1. Der Nationalsozialismus ist keine Bewegung, die zufällig nur auf Hitlers Persönlichkeit oder den Folgen des Versailler Diktates oder der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre beruht. Er ist vorwiegend eine geistige Bewegung, die eine ganze Reihe von idealisierenden Bestrebungen, Wünschen und Träumereien, ja z. T. Phantasien, zusammenfaßt, die in der deutschen Geschichte seit über 150 Jahren lebendig sind. Daher darf die Geistesgeschichte des Dritten Reiches nicht erst 1918 einsetzen, sondern muß tief in die deutsche Vergangenheit zurückleuchten, um verständlich zu werden. So weist z. B. Franz Schonauer auf jene günstige geistige Prädisposition hin, die Hitler für sich im Klein- ­und Mittelbürgertum vorfand (Franz Schonauer, Deutsche Literatur im Dritten Reich, Olten 1961). Er sei keine "plötzlich und unmotiviert auftauchende Figur", die ein ahnungsloses Volk vergewaltige, sondern habe historische Ursachen, die sich bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen ließen. Hitler sei das Resultat der deutschen geschichtlichen Entwicklung und der politisch wie geistig ungelösten Probleme seit 1830. Auch die nationalsozialistische Weltanschauung als eine Mischung von vielen Ideologien habe dort ihre Quellen. Das wird an unseren folgenden Ausführungen deutlich sichtbar.

 

Es soll hier nicht bis auf das Mittelalter zurückgegriffen werden, wie das vor 30 Jahren im Sinne der Reeducation einmal üblich war. Aber mit der Zeit der deutschen Freiheitskriege, mit dem Abwehrkampf gegen den französischen Eroberer und Unruhestifter Kaiser Napoléon I. beginnt jene geistige Tendenz stärker und stärker zu werden, die schließlich im Nationalsozialismus endet. Einzelne Entwicklungslinien, wie etwa Luthers Staatstheorie, der Jesuitenorden und der katholische Index oder der christliche Antisemitismus, lassen sich dabei noch weiter zurückverfolgen. Es ist aber ‑ bis auf Ausnahmen ‑ sonst hierauf verzichtet worden, weil es wesentlicher schien, die Tendenzen zum Nationalsozialismus im 19. und 20. Jahrhundert zu verfolgen. Und zwar fast durchweg nur bis zum Jahre 1933, bis zur Machtübernahme durch Adolf Hitler.

 

2. Die zum Nationalsozialismus hinführenden geistigen Tendenzen sind im 19. und 20. Jahrhundert von der Mehrheit des deutschen Volkes getragen und gebilligt worden. Eine große Anzahl hervorragender Persönlichkeiten unseres Volkes hat daran mitgearbeitet, vor allem im Bereich der Bildungsstätten der Intelligenz, an deren höheren Schulen- und Universitäten. Von den hier aufgezeigten Tendenzen völlig frei geblieben und bis auf wenige Personen keine geistige Hilfe bietend ‑ ist nur der Sozialismus, der von der Marxschen Arbeiterbewegung her kommt. Er hat aber bisher stets nur eine Minderheit zu erfassen vermocht und konnte nie jene Kraft entwickeln, die den bürgerlichen Schichten zur Verfügung stand. Die aus diesen Kreisen kommende und durch Generationen geübte systematische geistige Hinleitung zu einem Dritten Reich nationalistischer Prägung macht es verständlich, daß Adolf Hitler mit seiner vom deutschen Bürgertum sowie großen Teilen der Intelligenz, des Kapitals und der Wehrmacht getragenen Partei schließlich zum Zuge kam. Er hatte in geschickter Weise im Nationalsozialismus praktisch alle jene Tendenzen und geistigen Entwicklungslinien vereinigt, die das Bürgertum theoretisch erfüllten. Die NSDAP war damit der tatsächliche Abschluß, ja die Erfüllung eines mindestens ein Jahrhundert alten Strebens nach einem großen deutschen Reiche, nach dem Wiedererwachen des alten Kaisers Barbarossa, der im Kyffhäuser wartend sitzt. So erklärt sich der Wahlerfolg und das gewaltige Echo, das sie ‑ wie keine deutsche Partei je zuvor ‑ in weiten Schichten des Volkes erweckte. Kurt Sontheimer schreibt dazu: "Der Nationalsozialismus vereinigte in seiner Bezeichnung die beiden mächtigsten ideologischen Antriebe der Epoche. Er nahm schon als Begriff die Synthese vorweg, die das Zeitalter vollbringen mußte. Die sozialistischen Parteien alten Stils waren nicht national, die national‑bürgerlichen nicht sozialistisch. Hier aber schien die Partei zu sein, die beides zugleich war, die Partei der deutschen Zukunft" (Kurt Sontheimer, in "Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik", S. 353).

 

3. Die den Nationalsozialismus vorbereitenden Ideen kamen keinesfalls aus den Gehirnen eines Hitler, Goebbels, Rosenberg, Feder und anderer ihrer Zeitgenossen. Wir haben jene daher als geistige Vorläufer ‑ von wenigen Ausnahmen abgesehen ‑ nicht erwähnt. Denn diese haben nur zusammengefaßt und wiederholt, was vorher erdacht und geschrieben wurde; und zwar vorher z. T. noch tiefer und besser, als sie es vermochten, die Männer der praktischen Tat. Die vorbereitenden Ideen entwachsen einem vielfältigen Boden. Sie sind nicht auf das deutsche Volk allein beschränkt. Sie finden sich bei fast allen Völkern Europas und des mit ihm in geistiger Tradition verbundenen Nordamerika. Sie entstammten nicht nur den Gedanken angeblich "sittenloser" Nichtchristen, sondern sind zutiefst mit dem Christentum verbunden und ohne dieses undenkbar. Sie sind nicht nur eine Angelegenheit einer Nation, sondern zählen zu Verläufern und Mitarbeitern, bis in die Praxis des Dritten Reiches hinein, Menschen verschiedener Rassen und Völker (Angesichts der fürchterlichen Foltermethoden französischer Soldaten im Algerienkrieg schrieb der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1952 Francois Mauriac: "Wenn es eine Wahrheit gibt, an der ich heute nicht mehr zweifle, so ist es die, daß es kein Volk gibt, das fürchterlicher ist als das andere."). Daraus ergibt sich aber auch, daß jene oft gebrauchten Begriffe einer "Kollektivschuld" oder "Kollektivscham", wie sie zum Beispiel der ehemalige Bundespräsident Professor Dr. Theodor Heuss aus seiner geistigen Mitschuld und Mitbelastung heraus zu gebrauchen pflegte (er stimmte als Reichstagsabgeordneter 1933 dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zu und brachte während des Dritten Reiches Presseartikel in der Goebbels‑Zeitung "Das Reich" zu Papier, über die man heute gerne den Schleier des Vergessens breitet), nicht den Tatsachen entsprechen. Einer geistigen Mitverantwortung, wenn eine solche überhaupt einen Sinn hat und danach strafrechtlich gefragt werden soll, könnten sich viele kaum entziehen. Das bedeutet keineswegs, daß echte und persönliche Schuld und Teilnahme an Verbrechen vergessen oder vergeben werden müssen. Aber billige Kollektivurteile haben nichts mit wissenschaftlicher Wahrheitssuche gemeinsam.

 

4. Wenn schließlich der Mann Adolf Hitler die im folgenden ausgebreiteten Ideen fast alle aufnimmt und zum Teil zu verwirklichen beginnt, so ist er damit nur der Schlußpunkt einer geistigen Entwicklung, die eines Tages zur praktischen Gestaltung übergehen mußte. Daß es so geschah, wie wir es schmerzhafterweise erlebt haben, hängt nur von ungefähr mit der zufälligen Gegebenheit der Persönlichkeit Hitlers zusammen. Auch daß sich das Ganze in Deutschland abspielte, ist in gewissem Sinne Zufall. Sicher, ein "Drittes Reich" war nur in der Mitte des europäischen Kontinents denkbar. Aber faschistische, nationalistische, militaristische und ähnliche Gedankengänge waren und sind heute noch oder schon wieder bei vielen anderen Völkern auch zu finden ‑ und wirken sich dort keineswegs immer zum Besten der Betroffenen aus.

 

Quelle: "Bevor Hitler kam" von Dietrich Bronder, 2. Auflage, Genf 1975