Meinungspluralismus
B u n d e s k a n z 1 e r H e 1 m
u t S c h m i d t auf dem 32. Deutschen
Historikertag in Hamburg am 4. Oktober 1978
"Herkömmlicherweise ist
es ein Vorrecht der Historiker, Gedanken über handelnde Politiker und über die
Bedingungen ihres Handelns zu äußern, Gedanken, die zu kritischen Urteilen
führen....
wobei ich ... als geborener
und geschichtsbewußter, geschichtsstolzer Hamburger hier stehe .....
Walter Scheel hat vor zwei
Jahren vor ihnen die Sorge ausgesprochen, wir könnten im Begriffe sein, ein geschichtsloses
Land zu werden. Solche Besorgnisse teile ich tendenziell.....
Die Geschichtswissenschaft muß
.... ihre Verpflichtung zu Toleranz und Meinungspluralismus ernst nehmen und
darin sogar Vorbilder setzen . .....
Die Pluralität der Meinungen
und Positionen muß allen Widerständen zum Trotz bejaht und auch tatsächlich
verwirklicht werden! .....
... ohne Toleranz aus gegenseitiger
Achtung ist Wissenschaft vom Menschen in einer pluralistischen demokratischen
Gesellschaft nicht möglich...
Ich kann mir weder ein
verbindliches noch ein einigermaßen verbindliches Geschichtsbild vorstellen....
Verbindlich .... ist für
Lehrer und Soldaten das Grundgesetz. Verbindlich ist für die Wissenschaft der
Wille zur Wahrheit. Aber die Normen des Grundgesetzes enthalten mit voller
Absicht, aus historischer Erfahrung gewonnener Absicht, das Grundrecht der
Meinungsfreiheit und keinerlei Vorschriften über Meinungsverbindlichkeit. ....
Dieses Plädoyer für Toleranz
und für Meinungspluralismus, das ich hier halte, geht über den Rahmen eines
Fachkongresses weit hinaus...
Mir scheint wertungsfreie
Geschichte kaum möglich. Aber andere als meine eigenen Wertungen müssen ebenso
zu Gehör kommen, und dafür muß ich selber mit sorgen. Und jeder von uns möge
sich seiner zeitbedingten, situationsbedingten Optik bewußt bleiben. ....
Ich halte es für einen
unvermeidbaren, aber keineswegs dem Verschweigen anheimfallen dürfenden Mangel,
daß Demokratie nicht unbedingt die Durchsetzung des Richtigen bewirkt, sondern
vielmehr nur die Durchsetzung dessen, was von der Mehrheit für richtig
angesehen wird zu dem Zeitpunkt, in dem die Mehrheit entscheidet . .....
Irren muß erlaubt bleiben.
Gerade in Deutschland muß irren erlaubt bleiben. Es kann in der offenen
Gesellschaft kein einheitliches, kein richtiges Geschichtsbild geben . .....
Damit eine gemeinsame
Darstellung einer an Verwicklungen und Leiden reichen Geschichte zweier
Nationen möglich wird, muß man die eigene Geschichte ohne Vorurteil prüfen. Die
Eliminierung, die Verdrängung von Teilen der Geschichte kann nicht helfen,
Streitfragen zu lösen ...
Quelle: Bulletin der Bundesregierung Nr. 114 / S. 1065 - Bonn 10.10.1978