Die manipulierte Masse
Von Prof. Dr. Jost Bauch
Spätestens mit der
Französischen Revolution begann die Geschichte der modernen Massengesellschaft,
die heute mit dem Siegeszug der modernen elektronischen Medien zu einem
vorläufigen Endpunkt gekommen ist. Seit der industriellen Revolution und der
damit verbundenen Konzentration von Menschenmassen in Großstädten, können wir
eine zunehmende "Vermassung" des sozialen Lebens konstatieren, die
alle Fasern der gesellschaftlichen Existenz des Menschen ergreift und alle
gesellschaftlichen Phänomene dem "Gesetz der großen Zahl" unterwirft.
Die Vermassung der
Gesellschaft hat nach der Niederschlagung des Feudalsystems und nach einer
kurzen Blütezeit einer distinktiven bürgerlichen Kultur alle Differenzen und
Separatismen hinweggefegt und eine minimalistische Einheitskultur geschaffen.
Schon früh ist an diesen Vermassungstendenzen Kritik geübt worden. Erinnert sei
an Gustave Le Bon, der bereits in den zwanziger Jahren in seinem Werk
"Psychologie der Massen" vom "Gesetz der seelischen Einheit der
Massen" sprach und betonte, daß die Masse eine Kollektivseele habe, die
eine Veränderung des Denkens, Fühlens und Handelns der einzelnen Menschen bewirke.
Für Le Bon ist die Masse durchweg negativ konnotiert, sie markiert den
Untergang der Zivilisation und den Abschied vom vernunftbestimmten Individuum:
"Bisher wurden alle Zivilisationen stets nur von einer kleinen
intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen.
Die Massen haben nur die Kraft der Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets
eine Stufe der Auflösung."
Die Masse ist nach Le Bon
impulsiv, leicht reizbar und geistig minderwertig. Der Mensch degeneriert in
der Masse zu einem Triebwesen, es kommt zu einem "Schwund der bewußten
Persönlichkeit", der Mensch werde durch Suggestion und Ansteckung zu einem
willenlosen Automaten. Auch Sigmund Freud ‑ ein Bewunderer Le Bons ‑
steht der Masse skeptisch gegenüber. Die Masse erlaube dem Einzelnen, die
Verdrängungen seiner Triebregungen abzustreifen und Eigenschaften des
Unbewußten an den Tag zu legen. In der Dynamik einer Massenbewegung gibt der
Einzelne nach Freud sein Ich‑Ideal auf und ersetzt die Vaterfigur durch
ein in der Gestalt eines "Führers" repräsentiertes Massenideal.
Siegfried Kracauer legte 1927
in seinem Aufsatz "Das Ornament der Masse" dar, wie die Kultur und Kunst
bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein gleichsam als Reflex auf den
Industriekapitalismus mit seiner Massenproduktion reagiert. Er verdeutlicht das
an den Tanzformen. Gegenüber dem bildungsbürgerlichen Ausdruckstanz entwickeln
sich in den Palästen urbaner Zerstreuung die sogenannten
"Tillergirls", die in Reih und Glied tanzen und als Teilelemente
eines dynamischen und kollektiven Ornaments auftreten. Wie im tayloristischen
Produktionssystem sind die Menschen nicht als Individuen, sondern nur als Teil
in der Funktionalität eines Gesamtgefüges gefragt. Insofern bilden die
Ornamente einen "ästhetischen Reflex zu der von dem herrschenden
Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität".
Wie Kracauer leitet der
spanische Philosoph Ortega y Gasset die Vermassung des gesellschaftlichen
Lebens aus der wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Entwicklung
der Moderne ab. In seinem 1931 erschienenen Werk "Der Aufstand der Massen"
legt er dar, wie als ungewollter Effekt der gesellschaftlichen Entwicklung der
Masse zur Herrschaft verholfen wurde. "Die Menge ist auf einmal sichtbar
geworden und nimmt die besten Plätze der Gesellschaft ein. Früher blieb sie,
wenn sie vorhanden war, unbemerkt; sie stand im Hintergrund der sozialen Szene.
Jetzt hat sie sich an die Rampe vorgeschoben, sie ist Hauptperson geworden. Es
gibt keine Helden mehr; es gibt nur noch den Chor."
Ortega y Gasset verdanken wir
die Einsicht, daß es sich bei "Masse" nicht nur um eine Menge von
irgendwie versammelten Menschen handelt, der "Massenmensch" ist eine
besondere psychische Ausprägung. "So verwandelt sich, was vorher nur
Anzahl war ‑ die Menge ‑, in eine Beschaffenheit." -
"Streng genommen läßt sich das Massesein als psychische Tatsache
definieren, ohne daß dazu die Individuen in Mengen auftreten müssten. Man kann
von einer einzigen Person wissen, ob sie Masse ist oder nicht". Ortega y
Gasset hebt hier ab auf den "homme moyen", den Durchschnittsmenschen
von Jacques Quetelet, dem Begründer der Sozialstatistik. Der Massenmensch ist
die "außengeleitete Persönlichkeit" (David Riesman), die sich dem
gesellschaftlichen Mainstream vorbehaltlos anpaßt. Ortega y Gasset schreibt:
"Wie es in Nordamerika heißt: Anderssein ist unanständig. Die Masse
vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und
erlesen ist. Wer nicht 'wie alle' ist, wer nicht 'wie alle' denkt, läuft
Gefahr, ausgeschaltet zu werden. Und es ist klar, daß alle eben nicht alle
sind. Alle waren normalerweise die komplexe Einheit aus Masse und
andersdenkenden, besonderen Eliten. Heute sind 'alle' nur noch die Masse."
Auch das Denken von Ortega y
Gasset war zeitgebunden. Er lebte im Zeitalter der industriellen
Massenproduktion, wo uniforme Produkte in großen Fabriken massenhaft erstellt
wurden. Die Szene hat sich im Zeitalter der Digitalisierung verändert. Jetzt
werden kleinste Serien industriell erstellt, das Produkt umgibt den Käufer mit
einer individuellen Aura, es versorgt das Individuum mit einem spezifischen
Image, das es abheben soll von der Masse aller anderen Konsumenten.
Gerhard Schulze hat dies in
seiner soziologischen Analyse "Die Erlebnisgesellschaft" eindringlich
beschrieben. Nicht "gleich sein" ist Kennzeichen der modernen
Vermassung, wie bei Ortega y Gasset unterstellt, sondern "ungleich
sein". Kennzeichen moderner Vermassung ist gerade das Abheben auf
Individualität und Abgrenzung. Die Moderne ermöglicht eine Multiplizierung und
Pluralisierung der Lebensformen, jeder ist bemüht, möglichst anders zu sein als
der andere. Gerade das Insistieren auf Individualität ist heute ein Kennzeichen
von Vermassung, weil es jeder tut und weil die "Individualitäten"
gesellschaftlich vorgestanzt sind. Ich "erwerbe" meine Individualität
über ein Produkt oder über ein medial zugerichtetes Image.
Die Ausdrucksform der
Subjektivität ist heute zwar in Kleinserie, aber eben deswegen doch ein seriell
hergestelltes Massenprodukt. Deswegen ist die moderne Form der Vermassung
perfider und subtiler, weil sie auf den ersten Blick gar nicht erkennbar ist,
sie produziert auf der gesellschaftlichen Oberfläche den schönen Schein der
Individualität, die aber in den MarketingAbteilungen der Industrie und
Kulturindustrie im Sinne von Merchandising an den Mann und die Frau gebracht
wird. Die Vermassung wird totalitär, weil sie sich hinter der Fassade der
Subjektivität verbirgt. Die Menschen schlüpfen in gesellschaftlich
vorgefertigte Rollen und werden gleichzeitig mit dem "enormen Bewußtsein"
versorgt, dabei "bei sich selbst zu sein". War die Vermassung in der
ersten Phase des industriellen Zeitalters echt und authentisch, weil sie
unmittelbar erlebbar war, so ist sie heute betrügerisch, aber eben deswegen um
so wirksamer und unaufhebbarer.
Die moderne Massengesellschaft
ist nicht zu verstehen ohne die Beachtung der Wirkweise der Massenmedien.
Niklas Luhmann eröffnet seine bekannte Studie "Die Realität der
Massenmedien" mit dem Satz: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja
über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die
Massenmedien." Im Klartext heißt das: Der massenmediale Zugriff auf unsere
"Meinungen" ist total. Schon Arnold Gehlen sprach davon, daß das Gros
der Erfahrungen des modernen Menschen "Erfahrungen zweiter Hand"
sind, es sind Erfahrungen, die er selber gar nicht gemacht hat, sondern die ihm
medial zubereitet zugetragen werden. "Er übersieht nur noch kleine
Ausschnitte riesiger und unerratbarer Ereignismassen, er befindet sich
sozusagen chronisch auf der Talsohle der Wirklichkeit, und wenn er über die
Wohnung, den Arbeitsplatz hinausdenken will, muß er sich auf die gewerbsmäßigen
Meinungsverbreiter oder das Zimmerkino verlassen".
Für Gehlen ergibt es keinen
Sinn mehr, die im kleinen Individualbereich gemachten Erfahrungen auf die
großen Verhältnisse zu übertragen. Die Unübersehbarkeit der großen Superstrukturen
stellt keine einsehbare und damit beurteilbare Umwelt für das einzelne
Individuum mehr her. "Man muß sich da mit Meinungen und Gefühlsstößen
begnügen, auf die man von den Massenmedien eingeübt wird, deren langfristig
gesehen enorme Indoktrinationskraft nur noch von ihnen selbst bestritten wird."
Das reduzierte Beurteilungsvermögen manifestiert sich in bloßen
"Meinungen", wobei Politisches nur noch insoweit wahrgenommen wird,
als es in die Erlebnisbegriffe des Alltags übertragbar ist. Solchermaßen wird
Politik moralisiert, intimisiert und personalisiert. Cora Stephan spricht von
der Etablierung eines politischen "Betroffenheitskults", Gehlen von
einer "Moralhypertrophie".
Nach Luhmann kommt dem
Fernsehen die größte manipulative Wirkung der Massenmedien zu. Denn die
Bildhaftigkeit des Fernsehens vermittelt einen Glaubwürdigkeitsbonus. Bilder
zeichnen sich durch Ähnlichkeit mit der realen Realität aus. Im Gegensatz zu
Schrift und Druck lassen sie keinen Widerspruch zu. Die abgefilmte Realität ist
"realzeitabhängig". "Man kann nichts filmen, bevor es geschieht
oder nachdem es geschehen ist.( ... ) Ein Film kann nur aufgenommen werden,
wenn das, was gefilmt wird, tatsächlich geschieht ‑ weder vorher noch
nachher."
Das Fernsehen unterläuft damit
permanent die bei Kommunikationen übliche Differenzierung von Information und
Mitteilung. Bei Schrift und Druck und alltäglicher Kommunikation gibt es immer einen
Rückbezug zum Absender der Information, die damit als Mitteilung identifiziert wird:
Der Autor XY hat gesagt oder geschrieben. Nicht so beim Bild: Hier hat man den
Eindruck ‑ da man sieht, was geschieht ‑, man sei unmittelbar und
leibhaftig dabeigewesen, man hält das, was man sieht, für wahr. Man übersieht
systematisch, daß das, was als bloße Information wahrgenommen wurde, eine
Mitteilung ist. Hinter der vermeintlich objektiven Information steckt ein
Absender, der selektiert und eigene Interessen vertritt. Die Inszenierung wird
als wahre Realität erfahren. So kommt es, daß Kinder glauben, Kühe seien wirklich
lila, oder frustrierte Ehefrauen, daß eine Ehe nach dem Muster der Vormittagsseifenopern
von RTL ablaufen müsse.
Selbst "Nachrichten",
also massenmediale Informationen, die sich der Wahrheit am weitesten
verpflichtet haben, sind hochselektierte Konstruktionen, wobei im wesentlichen
acht "Selektoren" wirksam sind: 1. Die
Information muß neu sein; 2. Bevorzugt werden Konflikte; 3. Ein besonderer
Aufmerksamkeitsfänger sind Quantitäten; 4. Ein lokaler Bezug gibt einer
Information Gewicht; 5. Normverstöße verdienen besondere Beachtung; 6.
Moralische Bewertungen werden Normverstößen beigemischt; 7. Die Medien
bevorzugen eine Zurechnung auf Handlung, Handelnde, also Personen; 8. Das
Erfordernis der Aktualität führt zur Konzentration der Meldungen auf Einzelfälle.
Nach Maßgabe dieser Selektoren
wird die Wirklichkeit medial übersetzt und als Konstruktion neu
zusammengesetzt. Diese Konstruktionsprinzipien wirken auf struktureller Ebene
und beeinflussen die Wirklichkeitsauffassung, von Verzerrungen der Wahrnehmung
durch programmatische Konzepte wie "political correctness" haben wir
an dieser Stelle bewußt abgesehen. Nach Luhmann führt die Dominanz des
Fernsehens und seiner Nachbarmedien zu einer gesellschaftlichen
Rückentwicklung. Hatte sich Europa durch die gesellschaftliche Durchsetzung der
Schrift zu einer Hochkultur entwickelt, so führt die neue Dominanz der Bilder
zu einer zunehmenden Entschriftlichung unserer Kultur, wir fallen zurück in den
Status von "oralen Gesellschaften", also von primitiven
Gesellschaften, in denen Informationen nur in direkter und gesprochener Form
vermittelbar waren. Luhmann spricht von "elektronischer Oralität":
"Wir können noch anfügen, daß diese Reproduktionstechnik der sogenannten
Massenmedien bei der am spätesten entwickelten Kommunikationsweise, der Schrift,
angesetzt hatte, dann aber gleichsam die Kette der Evolution zurückgelaufen ist
und mit Hilfe des Funks auch das gesprochene Wort, dann sogar die sprachlose
Kommunikation, das volle Bild, einbezogen hat." Die Auswirkungen der
gesellschaftlichen Involution zur "Oralität" können wir in den
diversen Pisa‑Studien nachvollziehen.
Zbigniew Brzezinski,
Sicherheitsberater unter US‑Präsident Jimmy Carter, hat den Begriff des
"Tittytainment" in die öffentliche Diskussion gebracht. Nach
Brzezinski reichen zwanzig Prozent der Weltbevölkerung aus, um die Gesamtheit
der Menschheit mit Waren und höherwertigen Dienstleistungen zu versorgen,
achtzig Prozent der Bevölkerung müssen mit "Tittytainment" bei Laune
gehalten werden. Die Masse muß in doppelter Weise "gefüttert" werden:
mit einer Grundversorgung, damit sie als Körper überleben können, und mit einem
Fernsehanschluß, damit sie sich unterhalten fühlen und ruhiggestellt sind.
Hartz IV erscheint in diesem Zusammenhang als deutsche Version des
Tittytainment, der Grundversorgung mit Fernsehanschluß. Es steht zu erwarten,
daß der wachsende Anteil der funktionslosen Masse durch die Imagination der
bunten Bilder sich weiter ruhig verhält. Allenthalben kann es zu kurzfristigen
gewaltsamen Entladungen wie in den Pariser Vorstädten kommen. Diese werden die
Alimentierungsraten erhöhen, die Verhältnisse aber nicht nachhaltig ändern.
Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz.
Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt zum Thema "Die Nation
ist unverzichtbar" (JF 16/06).
Quelle: JUNGE FREIHEIT vom 2. Juni 2006
Anmerkung: Wer nun auch noch wissen will, warum die vorstehend in den
Auswirkungen feinsinnig und akademisch beschriebenen soziologischen (und
politischen) Veränderungen seit der Französischen Revolution abgelaufen sind -
und die sind weiß Gott nicht vom Himmel gefallen - arbeite sich durch die einschlägigen
Beiträge auf dieser Weltnetzseite. Es muß allerdings auf die Gefahr hingewiesen
werden, als Verschwörungstheoretiker stigmatisiert zu werden, wenn man gewisse
dort vorgefundene historische Tatsachen dem "glotzenverblödeten"
Bekanntenkreis präsentiert. Aber wie sagte schon Bruder Martin in höchster
Gewissensnot vor Kaiser und Reichstag in Woms: "Hier stehe ich, ich kann
nicht anders, Gott helfe mir! Amen!"