Kritik an Sparta
von Friedrich Schiller
Eine einzige Tugend war es,
die in Sparta mit Hintansetzung aller anderen geübt wurde, Vaterlandsliebe.
Diesem künstlichen Triebe
wurden die natürlichsten schönsten Gefühle der Menschheit zum Opfer gebracht.
Auf Unkosten aller sittlichen
Gefühle wurde das politische Verdienst errungen und die Fähigkeit dazu
ausgebildet. In Sparta gab es keine eheliche Liebe, keine Mutterliebe, keine
kindliche Liebe, keine Freundschaft, es gab nichts als Bürger, nichts als
bürgerliche Tugend. Lange Zeit hat man jene spartanische Mutter bewundert, die
ihren aus dem Treffen entkommenen Sohn mit Unwillen von sich stößt und nach dem
Tempel eilt, den Göttern für den gefallenen zu danken. Zu einer solchen
unnatürlichen Stärke des Geistes hätte man der Menschheit nicht Glück wünschen
sollen. Eine zärtliche Mutter ist eine weit schönere Erscheinung in der
moralischen Welt als ein heroisches Zwittergeschöpf, das die natürliche
Empfindung verleugnet, um eine künstliche Pflicht zu befriedigen.
Welch schöneres Schauspiel
gibt der rauhe Krieger Coriolan in seinem Lager von Rom, der Rache und Sieg
aufopfert, weil er die Tränen der Mutter nicht fließen sehen kann!
Dadurch, daß der Staat der
Vater seines Kindes wurde, hörte der natürliche Vater desselben auf, es zu
sein. Das Kind lernte nie seine Mutter, seinen Vater lieben, weil es, schon in
dem zartesten Alter von ihnen gerissen, seine Eltern nicht an ihren Wohltaten, sondern
nur vom Hörensagen erfuhr.
Auf eine noch empörendere Art
wurde das allgemeine Menschengefühl in Sparta ertötet, und die Seele aller
Pflichten, die Achtung gegen die Gattung, ging unwiederbringlich verloren. Ein
Staatsgesetz machte den Spartanern die Unmenschlichkeit gegen ihre Sklaven zur
Pflicht; in diesen unglücklichen Schlachtopfern wurde die Menschheit beschimpft
und mißhandelt. In dem spartanischen Gesetzbuche selbst wurde der gefährliche
Grundsatz gepredigt, Menschen als Mittel und nicht als Zwecke zu betrachten;
dadurch wurden die Grundfesten des Naturrechts und der Sittlichkeit gesetzmäßig
eingerissen. Die ganze Moralität wurde preisgegeben, um etwas zu erhalten, das
doch nur als ein Mittel zu dieser Moralität einen Wert haben kann.
Kann etwas widersprechender
sein, und kann ein Widerspruch schrecklichere Folgen haben als diese? Nicht
genug, daß Lykurgus auf den Ruin der Sittlichkeit seinen Staat gründete, er
arbeitete auf eine andere Art gegen den höchsten Zweck der Menschheit, indem er
durch sein fein durchdachtes Staatssystem den Geist der Spartaner auf
derjenigen Stufe festhielt, worauf er ihn fand, und auf ewig alle
Fortschreitung hemmte.
Aller Kunstfleiß war aus
Sparta verbannt, alle Wissenschaften wurden vernachlässigt aller Handelsverkehr
mit fremden Völkern verboten, alles Auswärtige wurde ausgeschlossen. Dadurch
wurden alle Kanäle gesperrt, wodurch seiner Nation helle Begriffe zufließen
konnten; in der ewigen Einförmigkeit, in einem traurigen Egoismus sollte sich
der spartanische Staat ewig nur um sich selbst bewegen.