Kollektivschulddenken
»Wenn mir der Platz zur
Verfügung stünde, so könnte ich mich mit dem empörten Aufschrei über die
Buchenwald‑>Enthüllungen< befassen, die keinerlei Enthüllungen für
alle die bedeuteten, die unentwegt seit 1933 bemüht gewesen waren, das Gewissen
eines denkfaulen und zweiflerischen Publikums aufzurühren und das Wort für
Männer und Frauen zu ergreifen, die, von der Außenwelt abgeschlossen und ohne
eigene Stimme, unsagbare Qualen in jenen Lagern der Rechtlosigkeit erduldeten.
Jetzt, so sagte man, wüßten wir nun endlich, daß die deutsche Nation als Ganzes
schuldig wäre: warum nämlich hätte sie nicht, wofern es anders wäre, um jeden
Preis sich gegen diese Verbrechen ausgesprochen und sich gegen Hitler
aufgelehnt? Dabei kam man gar nicht auf den Gedanken, sich die Frage
vorzulegen, was man denn selber unter ähnlichen Verhältnissen geleistet haben
würde; man hielt nicht einen Augenblick inne, um sich innerlich darüber
Rechenschaft abzulegen, ob man wohl, wofern der Preis, über den man so glatt
dahinschwätzte, Tod oder Folter nicht nur für einen selbst, sondern auch für
die eigenen Kinder gewesen wären ‑ ob man auch dann noch, jenseits aller
Zweifel, das hinreichende Maß von Heroismus besessen haben würde, um solche
Gefahren auf sich zu nehmen. Man fragte sich nicht einmal, warum man denn
Buchenwald, solange noch Friede herrschte, keinerlei Bedeutung beigemessen
hatte, obschon das weder Tod noch Folter noch auch nur die Gefahr der
Einkerkerung gekostet haben würde, wenn man damals seine Stimme hätte vernehmen
lassen, sondern schlimmstenfalls einen Zeitverlust von wenigen Sekunden und den
Verbrauch eines belanglosen Bruchteils von Energie. Anstatt auf diese Weise in
sich zu gehen, schwelgte man schon lieber im Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit.«
Quelle: Auszug aus dem Essay des britisch-jüdischen Verlegers und
Schriftstellers Victor Gollancz "Unser bedrohtes Erbe", London 1946,
zitiert nach Heinz Nawratil "Schwarzbuch der Vertreibung", 11. Auflage,
S. 118