Jeanne d'Arc
Es sind jetzt grade
fünfhundert Jahre her, daß die belagerte Stadt Orléans von französischen
Truppen befreit wurde, die ein sechzehnjähriges Mädchen anführte. Mit diesem
Tag beginnt der schnelle Verfall der englischen Macht in Frankreich, die sich
vierzehn Jahre vorher bei Azincourt neu gefestigt hatte. Zugleich aber erhält
das Staatensystem des Mittelalters den vernichtenden Schlag. Schon sind die
italienischen Ansprüche der deutschen Könige Papier geworden, die Kreuzzüge in
ihr Gegenteil umgeschlagen: die Türken bedrängen Südosteuropa. Mit der
Vertreibung der Engländer aus Frankreich siegt in Europa das Prinzip der
Nationalstaaten. Wie später die Kanoniere von Valmy haben die Bogenschützen von
Orléans eine neue Epoche der Weltgeschichte eingeleitet. Die Fahnenträgerin der
neuen Idee war ein halbflügges Bauernmädchen aus dem lothringischen Domrémy,
Johanna, ein zartes Gefäß großen Inhalts nur, das von den Menschen bald
erbarmungslos zerschlagen wurde.
Noch das achtzehnte
Jahrhundert hat in Johanna nicht mehr gesehen als die gerissene Soldatenhure,
ein Blendwerk der Pfaffen, die durch eine Frau die Könige und Ritter
beherrschen wollten. In Voltaires «La Pucelle» klappert, von rüden Sexualspäßen
untermischt, ein hartes Gelächter über eine Menschheit, die sich willig von
einer Dirne am Narrenseil führen läßt. Erst als die Marseillaise über den Rhein
schmettert, erkennt Schiller in Jeanne d'Arc das neue heroische Prinzip der
Nation und wirft über die schmalen Schultern seiner Heldin den schweren Mantel
einer opernhaft schwellenden Sprache. In einem Buch voll zarter Ironie erzählt
Anatole France das Leben Johannas auf quellenmäßiger Grundlage. Hier bleibt,
ohne große historische Aspekte, nur ein sehr kindliches Mädchen, das sich mutig
zwischen schrecklichen eisengepanzerten Männern bewegt und Zwiesprache hält mit
den Geistern, die es abwechselnd aufmuntern und schelten. Und mitten in einen
moralpolitischen Disput stellt der gefeiertste Dramatiker unsrer Zeit das
Mädchen Johanna als erste Vertreterin der neuen Weltidee des Nationalismus. Es
wird sein ewiger Ruhm bleiben, daß er sich nicht allein auf die geniale
Spitzfindigkeit seiner Dialektik verließ, sondern eine Schlußszene von
unsäglicher Elegik hinzufügte, zarte dichterische Trauer eines Kenners der Welt,
die ihre Heiligen verbrennt, um ihnen nach Jahrhunderten großartig die Glorie
zuzusprechen. Bernard Shaws Drama, angeregt durch die Canonisation Johannas,
fiel fast kalendermäßig zusammen mit der neuen Mode der Frauen, die Haare kurz
zu tragen und einen schlanken, durch sportliche Übungen trainierten Körper zu
zeigen. So wurde Johanna zur Verkörperung der Amazone von Heute, und so ist für
ihren Nachruhm geistlich und weltlich bestens gesorgt.
Johannas Zeitalter war gläubig
und von Priesterlegenden so erfüllt wie das unsrige von denen der Zeitung.
Vielleicht war Sainte-Jeanne nur ein armes von Pubertätskrämpfen gepeinigtes
Ding, männlich in ihren Instinkten und in ihrem unbestimmten, unwissenden
Verlangen. In diesem rauhen und naiven Jahrhundert mußte ihr Anderssein sie
entweder zur Heiligen oder zur Hexe machen. Damals kontrollierte die Kirche die
Psychosen, förderte sie, wenn sie supranaturale Hilfe brauchte, brannte sie
aus, wenn die Geister zu frech wurden. Als vor ein paar Monaten in London eine
Frau als Colonel Barker die Oriflamme des Fascismus gegen die demokratische
Verschlampung ihres geliebten Vaterlandes erhob, da waren die Leute sehr böse
und sagten sehr wenig von Heroismus und Jeanne d'Arc, aber sehr viel von
Perversität oder strafwürdiger Dreistigkeit. Psychiater und Richter stritten
sich um das Opfer. Der Richter blieb Sieger. Schicksal der heldischen Amazone
in der bürgerlichen Zeit.
Im Grunde ist es gar nicht so
wichtig zu erforschen, ob Johanna eine andressierte Rolle spielte oder ob sie
als urwüchsiges Genie sich selbst durchsetzte. Denn eines ist nicht zu
bestreiten: etwas ist mit ihr in die Welt gekommen, das vorher nicht da war.
Der Glaubenssatz, daß kein Volk dem andern untertan sein soll, daß jedes Volk
das angeborene Recht hat, über sich selbst zu bestimmen, wehte zuerst von dem
Helme eines tapfern Mädchens, das drei Jahre hindurch Tausende von Männern
begeistert oder behext, jedenfalls elektrisiert hat. Der Zug verzweifelter
Franzosen nach Orleans, dem letzten Pont ihrer Hoffnung, angeführt von einem
kindhaften Geschöpf, das niemand kannte, dessen Glaube an die Sendung aber auf
das kleine Heer übersprang, bleibt ein unvergängliches Symbol der
unerrechenbaren Kraft der Idee gegenüber der kalten, phantasielosen Sekurität,
die so lange selbstzufrieden auf den Tatsachen thront, bis sie heiß werden und
ihr das Sitzfleisch verbrennen. Die ganz weittragenden Gedanken werden immer im
Stall geboren.
Heute ist Jeanne d'Arc
natürlich sehr arriviert. Prälaten und Generale feiern sie, nichts erinnert
mehr an ihre kleine Herkunft. Sie ist die Schutzheilige von Charles Maurras und
der <Action Francaise> geworden. Säbel und Krummstab kreuzen sich an
ihrem Sockel. Aber es wäre töricht zu leugnen, daß ihr Kultus dem französischen
Nationalismus eine Glut und einen Schwung gegeben hat, die der deutsche Rivale
nicht kennt, der in seiner klotzigen Materialität einfach die Macht will, ohne
die Idee zu achten. Zwei Mal zwischen Vierzehn und Achtzehn wollte an der Marne
sich Frankreichs Schicksal vollenden, und beide Male wendete es der Geist des
letzten furiosesten Widerstandes ab. Zwei Mal sind die deutschen Heere an der
Marne dem gepanzerten Mädchen aus Lothringen begegnet, und beide Male sind sie
geschlagen worden.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 21. Mai 1929
Anmerkung: Ohne an der Glorie eines Ossietky
kratzen zu wollen, sei darauf hingewiesen, daß man die Vorgänge an der Marne
auch ganz anders deuten kann.