„Hitlers willige Vollstrecker“ und die Identitätskrise des amerikanischen Judentums
(...) Die
Debatte über »Hitlers willige Vollstrecker« beschäftigte den Deutschen
Historikertag 1996 in München, jedoch außerhalb des offiziellen Programms. Die
Fachwissenschaft hatte bis dahin in den einschlägigen Organen noch fast
überhaupt keine Notiz von Goldhagens Buch genommen. Darin spiegelte sich die internationale wissenschaftliche Resonanz
auf diesen historischen Bestseller wider. Während Goldhagen von der öffentlichen
Meinung in den USA mit überwältigendem Lob aufgenommen wurde, stießen seine
Thesen und Methoden auf die Ablehnung nahezu aller auf diesem Gebiet
arbeitenden Fachhistoriker.
Der Hiatus (das
Auseinanderklaffen, d.B.) zwischen öffentlichem Lob und internationaler
Ablehnung durch die Fachwissenschaft ist in dieser Form einzigartig. Er
verweist darauf, daß mit diesem Buch tiefere emotive Schichten angesprochen
werden, die mit dem Bedürfnis nach rationaler Aufklärung nicht in Verbindung stehen. Was die USA anbetrifft, so spiegelte
die Begeisterung, mit der Goldhagens Charakterisierung der Deutschen
als zutiefst antisemitisch geprägter Nation aufgenommen wurde, tiefgründige
Ressentiments wider, wie sie von trivialen filmischen Umsetzungen des Zweiten Weltkrieges
und des NS-Terrors (zusammen mit antijapanischen Ressentiments) genährt
werden. Darüber hinaus hat die Popularität des Goldhagen-Buches mit der
Identitätskrise des amerikanischen Judentums zu tun, die durch erneute Beschwörungen
des Holocaust überdeckt und gemildert wird. Der hohe Anteil von Mischehen
deutet darauf hin, daß der bislang festgefügte Block der jüdischen Community
anhaltenden auseinanderstrebenden Kräften ausgesetzt ist. (...)
Die Reaktion
der internationalen Holocaust-Forschung auf Goldhagens Anspruch, eine völlig
neuartige Erklärung der Genesis des Holocaust vorgelegt und die bisherige wissenschaftliche
Literatur zur Makulatur gemacht zu haben, war, von ganz wenigen Aussagen
abgesehen, eindeutig. Fast alle internationalen Kritiker erhoben schwerwiegende
methodische Einwände und hielten Goldhagens monokausalen Erklärungsversuch
für einen Rückfall in den Forschungsstand der fünfziger Jahre. Zugleich
stellten die Rezensenten die viel zu schmale Quellenbasis, die unzureichende
Heranziehung der jüngeren Sekundärliteratur, insbesondere auch im zentralen
Bereich die Rolle der Polizeibataillone und der Arbeitslager, und eine große
Zahl von unzulässigen Verallgemeinerungen, abgesehen von Fehlern im Detail,
nachdrücklich heraus. (...)
Bettina Birns
an sich im Rahmen des Üblichen liegende fachwissenschaftliche Besprechung des
Goldhagen-Buches („Revising the Holocaust“ in „The Historical Journal“ 1997,
S. 195 – 215) hat eine breite internationale Aufmerksamkeit gefunden, weil
die Autorin - im Unterschied zu den meisten Rezensenten, die Goldhagen eine
gewisse Originalität im Bereich der primären Quellenforschung zusprachen - die
dessen Analyse zugrunde liegenden archivalischen Dokumente aus erster Hand
kennt und vor allem auf dieser Basis zu einem extrem abträglichen Urteil
bezüglich der wissenschaftlichen Verläßlichkeit der Analyse Goldhagens
gelangte.
Ihre Kritik hat Goldhagen so
empfindlich getroffen, daß er meinte, abgesehen von einer weitgehend leer
laufenden Entgegnung in German Politics and Society', sich nicht anders
wehren zu können, als Bettina Birn und dem Herausgeber der Zeitschrift, Jonathan Steinberg, sowie der Cambridge University
Press Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe anzudrohen. Es ist
bedauerlich, daß sich Goldhagen dazu
veranlaßt sieht, anstelle einer inhaltlichen wissenschaftlichen
Auseinandersetzung, die die Berechtigung von Vorwürfen oder Unterstellungen
nicht von vornherein zurückweist, den Weg juristischer Pressionen zu
beschreiten, um seine akademischen Kritiker mundtot zu machen. (...)
Quelle: Hans Mommsen – Ausschnitte aus der
Einleitung zu Norman G. Finkelstein / Ruth Bettina Birn in „Eine Nation auf dem
Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit“, Hildesheim 1998,
S. 9 f + 12 + 13 f
Anmerkung: Hans Mommsen ist einer der bekanntesten
und profiliertesten Historiker der Nachkriegszeit. Von 1968 bis 1996 hatte er
mit kurzen Unterbrechungen den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der
Ruhr-Universität in Bochum inne. Seine Spezialgebiete liegen zeitlich in der
Weimarer Republik und im Dritten Reich. Er ist Urenkel des Historikers und
Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen.