Hitlers
Wirtschaftswunder
Im Januar 1933, als Hitler Reichkanzler wurde, gab es in
Deutschland sechs Millionen Arbeitslose. Drei kurze Jahre später, 1936,
herrschte Vollbeschäftigung. Aus schreiender Not und Massenelend war allgemein
ein bescheiden‑behaglicher Wohlstand geworden. Fast ebenso wichtig: An
die Stelle von Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit waren Zuversicht und
Selbstvertrauen getreten. Und noch wunderbarer: Der Übergang von Depression zu
Wirtschaftsblüte war ohne Inflation erreicht worden, bei völlig stabilen Löhnen
und Preisen. Das ist später nicht einmal Ludwig Erhard gelungen.
Man kann sich die dankbare Verblüffung, mit der die
Deutschen auf dieses Wunder reagierten und die insbesondere die deutsche
Arbeiterschaft nach 1933 in hellen Haufen von der SPD und KPD zu Hitler
umschwenken ließ, gar nicht groß genug vorstellen. Sie beherrschte in den
Jahren 1936‑1938 die deutsche Massenstimmung absolut und verwies jeden,
der Hitler immer noch ablehnte, in die Rolle eines querulantischen
Nörglers. »Der Mann mag seine Fehler haben, aber er hat uns wieder Arbeit und
Brot gegeben« ‑ das war in diesen Jahren die millionenfache Stimme der
ehemaligen SPD‑ und KPD-Wähler, die noch 1933 die große Masse der
Hitlergegner gebildet hatten.
War das deutsche Wirtschaftswunder der dreißiger Jahre
wirklich eine Leistung Hitlers? Man wird die Frage trotz denkbarer Einwände
wohl bejahen müssen. Es ist vollkommen richtig: Hitler war wirtschaftlich und
wirtschaftspolitisch ein Laie; die einzelnen Einfälle, mit denen das
Wirtschaftswunder in Gang gesetzt wurde, stammten größtenteils nicht von ihm,
und besonders das halsbrecherische Finanzierungskunststück, von dem alles
abhing, war eindeutig das Werk eines anderen Mannes: seines »Finanzzauberers«
Hjalmar Schacht. Aber es war Hitler, der Schacht holte ‑ erst an die
Spitze der Reichsbank, dann auch des Wirtschaftsministeriums ‑ und ihn
machen ließ. Und es war Hitler, der all die Ankurbelungspläne, die schon vor
ihm existiert hatten, aber vor ihm eben aus allen möglichen hauptsächlich
finanziellen Bedenken gestrandet waren, aus den Schubladen holen und ins Werk
setzen ließ ‑ von den Steuergutscheinen bis zu den Mefowechseln,
vom Arbeitsdienst bis zu den Autobahnen. Er war kein Wirtschaftspolitiker,
nein, und er hatte sich nie träumen lassen, daß er
auf dem Umweg über eine Wirtschaftskrise und mit der Aufgabe, eine
Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, zur Macht kommen würde. Die Aufgabe war
ganz und gar nicht auf ihn zugeschnitten; in seinen Plänen und politischen
Gedankengebäuden hatte das Wirtschaftliche bis 1933 kaum eine Rolle gespielt;
aber er besaß genug politischen Instinkt, um zu begreifen, daß
es jetzt für den Augenblick die Hauptrolle spielte, und, überraschenderweise,
auch genug wirtschaftspolitischen Instinkt, um, im Gegensatz etwa zu dem
unseligen Brüning, zu erfassen, daß Expansion in
diesem Augenblick wichtiger war als budgetäre und monetäre Stabilität.
Außerdem besaß er freilich auch, im Gegensatz zu seinen
Vorgängern, die Macht, mindestens den Schein momentärer
Stabilität mit Gewalt zu erzwingen. Denn auch diese Schattenseite des Hitlerschen Wirtschaftswunders darf nicht übersehen werden:
Da es sich inmitten einer fortdauernden Weltdepression abspielte und
Deutschland zu einer Wohlstandsinsel machte, erforderte es die Abschottung der
deutschen Wirtschaft gegen die Außenwelt, und da seine Finanzierung der Tendenz
nach unvermeidlich inflationär war, erforderte es von oben auferlegte
Zwangslöhne und ‑preise. Für ein diktatorisches Regime, mit den
Konzentrationslagern im Hintergrund, war beides möglich: Hitler brauchte weder
auf Unternehmerverbände noch auf Gewerkschaften Rücksicht zu nehmen, er konnte
beide in der »Deutschen Arbeitsfront« zusammenzwingen und damit lahmlegen, und
er konnte jeden Unternehmer, der ungenehmigte Auslandsgeschäfte machte oder die
Preise seiner Ware erhöhte, ebenso ins KZ sperren wie jeden Arbeiter, der
Lohnerhöhungen verlangte oder gar dafür zu streiken drohte. Auch insofern muß man das Wirtschaftswunder der dreißiger Jahre das Werk
Hitlers nennen, und insofern waren sogar diejenigen in gewissem Sinne nur
konsequent, die um des Wirtschaftswunders willen auch die Konzentrationslager
in Kauf nahmen.
Quelle:
"Anmerkungen zu Hitler" von Sebastian Haffner, München 1978, S. 31 f