Hitler-Putsch
Götzendämmerung
Das Novemberfest in der Ordnungszelle
Der
Hitler‑Ludendorff‑Putsch hat eine schnelle und verhältnismäßig
schmerzlose Erledigung gefunden. Das Gespenst der nationalsozialistischen
Aktionen hat seine Drohung verloren und ein unbändiges Gelächter beantwortet
allerorten den Komödienakt im Bürgerbräusaal. Dennoch muß vor leichtfertig
optimistischer Beurteilung der gegenwärtigen Situation sehr dringend gewarnt
werden. Denn mag Hitler tausendmal als Vogelscheuche entlarvt sein, die Herren
Kahr und Lossow haben ihn nicht zum Gerümpel geworfen, um der Republik zu dienen oder in Bayern
verfassungsmäßige Zustände wiederherzustellen. Sie haben ihn außer Betrieb
gesetzt wie einen Automaten, den sie selbst angekurbelt haben und den sie nun nicht mehr brauchen. Denn
Hitler und Ludendorff waren die Abgötter versteckter Terroristenkliquen, aber
Herr v. Kahr ist nicht nur der Treuhänder Rupprechts, sondern auch der erklärte
Liebling der ganzen deutschen Reaktion, die
durchaus kein Interesse daran hat, einen wirren Straßendemagogen wie Hitler,
der sich nicht ohne Wirksamkeit einer primitiven antikapitalistischen
Phraseologie bediente, zum deutschen Diktator zu erheben. Noch vor wenigen
Tagen weilte der Leiter der Berliner vaterländischen Verbände, der wohlbekannte
Herr Geisler, in München, um von
einem verfrühten Losschlagen abzuraten. Wäre der Putsch von Reichs wegen, das heißt: von den Streitkräften des Reiches,
niedergeschlagen worden, so könnte man von einem Siege der Republik und von
einer wirklichen Entspannung reden. So aber ist nur ein ärmlicher Popanz
zerstört worden, aber die tatsächliche Macht geblieben. Deutlicher und schärfer
noch als gestern liegt heute der Kontrast
zwischen den Plänen Kahrs und den Grenzen der Verfassung und der Demokratie
zutage.
Dieser Tatbestand darf nicht
verdunkelt werden, wenn wir uns nach kurzem Hoffnungstraum vor schrecklichem
Erwachen sichern wollen. Das bayerische System, mit seinen Reservatrechten und
Reservatdummheiten bisher auf eine bestimmte Ecke des Reiches beschränkt, droht
zum Programm der gesamten diktaturlüsternen Reaktion zu werden. Noch immer
bestehen die illegalen Verbände im
Reiche. Noch immer besteht die Möglichkeit für die Deutschnationalen und ihre
masochistisch pervertierten Anbeter vom Maretzky‑Flügel der Volkspartei,
mit diesem Instrument einen wirksamen Druck auf jede Reichsregierung auszuüben,
die, wie die gegenwärtige, nur zu geneigt ist, den Wünschen der sogenannten
«nationalen Bewegung» ein williges Ohr zu leihen.
Was jetzt in München vor sich
gegangen ist, das kann in diesem Zusammenhange wie der Prolog einer
ungeheuerlichen Tragikomödie vom kläglichen Verfall und lächerlichen Sterben
des deutschen Reiches aufgefaßt werden. Denn die Posse im Bürgerbräu hat als
Autor jenen Kahr, der in diesem Falle als Zensor seines eigenen Werkes gewirkt
hat. Eine seltsame Doppelrolle! Aber es muß festgehalten werden: ohne Kahr kein Hitler, ohne den Sieg der
Ordnungskämpen vom März 1920 nicht der törichte Novemberputsch von 1923! Eine
eindringliche Warnung für das ganze deutsche Volk, für diejenigen besonders,
die am Parlamentarismus vorübergehend irre geworden, aus Resignation heute
drauf und dran sind, sich dem Diktaturprinzip zu verschreiben. Denn was sich
hier im kleinen bayerischen Rahmen abspielte, das wird sich, wenn das System
Kahr siegt, im größeren Rahmen des ganzen Reiches wiederholen. Nur daß die
Entwicklung nicht drei Jahre gebrauchen und die Lösung nicht so humoristisch
gefärbt sein wird, wie jetzt in München. Die Folgen der berühmten Ordnungspolitik
haben sich in hellstem Glanze gezeigt. Kein
wüster Anarchist hätte demolierender wirken können, als es der philiströse
wittelsbachische Bureaukrat v. Kahr getan hat.
Und noch etwas anderes. In
Zeiten wie diesen pflegt die Moral nicht schwer ins Gewicht zu fallen. Wie in
geschäftlichen Dingen geht man in der Politik mit kurzem Achselzucken über die
einfachsten Gebote von Anstand und Sittlichkeit hinweg. Gerade deshalb muß es
in dieser Stunde gesagt werden, daß das, was seit langem und, zumal in den
letzten Tagen, unter dem «christlich‑nationalen
Kurs» in Bayern vor sich ging, ein so scheußliches Gemengsel von Eidbruch, Treulosigkeit und Doppelzüngigkeit war, daß sich jeder
Mensch, dessen Gewissen nicht zur Müllgrube geworden ist, mit Schaudern davon
abwenden muß. Man mag über Ludendorff und Hitler denken wie man will, aber wenn
jener Kahr öffentlich mit ihnen fraternisiert und treu‑deutsch ihren
Handdruck erwidert, um dann hinaus zu gehen, und mit seinem Lossow, dessen
Auffassung über Eidespflichten auch
heute noch eine höchst individuelle zu nennen ist und der auch nicht gegen
seine Bestellung zum Reichswehrminister protestiert hat, gemeinsam die Schlinge
für die Bundesbrüder knüpft, so ist das, um die Wendung des Grafen Pestalozza
im Fuchs‑Prozeß zu gebrauchen, vielleicht kein politischer, jedenfalls
aber ein menschlicher Hochverrat. Ein
gütiges Schicksal bewahre uns vor Politikern, deren geistige Rüstkammer
ausschließlich aus solchen Ränken und Finten besteht.
Und Ludendorff selbst, der Heros, der Übermensch, der sich anmaßte, die
Geschicke des deutschen Volkes in seine Hand zu nehmen? Der Götze ist gefallen.
Zurück bleibt ein Monomane von sturer Verbissenheit, ohne Weitblick, ohne Hirn,
ohne Herz. Der Mann, der sich einbildete, Weltgeschichte machen zu können und
sich doch stets als der ausgefallenste aller Politiker erwies, schließt seine
Laufbahn als Spießgeselle eines unfreiwillig komischen Psychopathen, den seine
marktschreierische Beredsamkeit geradezu zum Ausrufer beim Oktoberfest prädestiniert.
Ludendorff an Hitlers Seite! Es ist, als ob sich ein gealterter Don Juan an der
Seite einer längst verblühten Schönheit spreizt; er glaubt Triumphe zu feiern, ‑
aber die Welt lächelt über das verrückte Paar.
Am 9. November wollte
Ludendorff Hochgericht halten über seine Feinde. Aber was dabei heraus gekommen
ist, das ist mehr als ein alberner Mummenschanz, mehr als sein persönlicher
Bankrott. Dieser 9. November hat das verspätete aber gerechte Urteil über den ärgsten Unglücksführer der deutschen Geschichte gebracht. Viele
Gefahren liegen noch vor uns. Aber die große Bombe Ludendorff ist als
Blindgänger am Straßenrand liegen geblieben. Ludendorff hat den Sinn der
Geschichte in ihr Gegenteil umbiegen wollen. Nun, die Revisionsinstanz hat gesprochen.
Der 9. November 1923 hat den 9. November 1918 bestätigt.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Berliner
Volks‑Zeitung", 10. November 1923