Heinrich von Treitschke
Der Berliner Senat hat im Juni 2003 Herbert
Marcuse, der 1933 wegen seiner jüdischen Abkunft Deutschland verließ, ein
Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte beschlossen und
gleichzeitig dem Historiker Heinrich von Treitschke das Ehrengrab auf dem
Schöneberger Friedhof aberkannt. Um in diesem Zusammenhang einen Beitrag zur
historischen Aufklärung zu erbringen, kommen nachfolgend der Halbjude Dr.
Dietrich Bronder über Heinrich von Treitschke und Heinrich Heine über Martin
Luther zu Wort. Bruder Martin hat nämlich den Antisemitismus des Historikers
von Treitschke erheblich übertroffen:
"Neben dem Populär‑Antisemitismus
ist uns schon mehrfach die Judenfeindschaft der Gebildeten begegnet. Wenn wir
einige ihrer Vertreter nennen, so muß an die Spitze wohl der große Historiker Heinrich
von Treitschke gesetzt werden. Als Sohn eines sächsischen Generalleutnants in
Dresden geboren (1834/96), wirkte er als Professor der Geschichte in Freiburg/Br.,
um 1874 nach Berlin berufen zu werden. Nach Rankes Tod 1886 auch "Historiograph
des preußischen Staates", gehörte er als Liberaler 1871/88 dem Reichstage
an, obwohl sein leidenschaftlicher Patriotismus von einer Abneigung gegen den
herkömmlichen Liberalismus getragen war. Treitschke galt als eine Art "Vater
der Alldeutschen" im Auslande, wenn er etwa nach 1871 erklärte: "Wir
wollen die Macht und die Herrlichkeit der Staufen und Ottonen erneuern, doch
nicht ihr Weltreich. Unser Staat dankt seine Kraft der nationalen Idee, er soll
jedem fremden Volkstum ein redlicher Nachbar, nicht herrschüchtiger Gegner
sein." Denn "glückselig das Geschlecht, welchem eine strenge
Notwendigkeit einen erhabenen politischen Gedanken auferlegt, der groß und
einfach, allen verständlich, jede andere Idee der Zeit in seine Dienste zwingt!"
Diesen Gedanken glaubte der Sachse im preußischen Staat zu sehen ‑
ähnlich wie Hegel, weshalb man ihn auch einen "Erzpriester des
Preußenklubs" genannt hat. Er verherrlicht den Staat als Ausdruck der
Autorität und Macht und verkündet immer wieder: "Der Staat ist Macht und
keine Akademie der Künste!" Da erscheint ihm natürlich auch der Krieg
nicht als verurteilenswert, sondern wird zur reinigenden moralischen Kraft
emporidealisiert: "Die Hoffnung, den Krieg aus der Welt zu verbannen, ist
nicht nur zwecklos, sondern auch unmoralisch, denn sein Verschwinden würde die
Erde zu einem großen Tempel des Egoismus machen." Der einzelne und sein
Glück sind ihm nämlich recht gleichgültig, ebenso wie die Freiheit ‑ sie
müssen dem Staate unterworfen und ihm bedingungslos aufgeopfert werden, falls
das verlangt wird. Was gilt dann noch das Recht? "Alle Rechtspflege ist
politische Tätigkeit!" ein Vorwort zu den späteren Theorien von Carl
Schmitt. Zu den Zersetzungserscheinungen, die Treitschke in seinem geliebten
Reiche bekämpfte, gehörte neben den Parteien, dem Marxismus, dem Materialismus
und der Sozialdemokratie nun auch das Judentum, gegen das er ab 1879 seine
glänzende Beredsamkeit einsetzt. Die damals herrschende Stimmung faßt er in die
Worte zusammen: "Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter
Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts
mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: "Die
Juden sind unser Unglück!" Da ist sie also erfunden, jene Parole, mit
denen die Nationalsozialisten ihren Kampf gegen das Judentum bis zur letztmöglichen
Härte aufnehmen und sich daran selber zugrunde richten. Trotzdem ist unser
Professor gegen jegliche Gewalt. In der Schrift "Ein Wort über unser
Judentum" (1881) empfiehlt er, ganz im Sinne Nietzsches, die Lösung der
Judenfrage durch Blutmischung: "Sie sollen Deutsche werden unbeschadet
ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig
sind." In seinem ab 1879 erscheinenden Hauptwerk "Deutsche Geschichte
im 19. Jahrhundert" wertet er den "halbjüdischen Radikalismus"
des Jungen Deutschland ab und beurteilt Heine und Börne negativ, denn die Juden
"wirken zerstörend und zersetzend, weil das nationale Selbstgefühl der Deutschen
noch unfertig ist."
Quelle: "Bevor Hitler kam" von Dietrich Bronder, 2. Auflage,
Genf 1975, S. 379 f
Martin Luther war insbesondere
in seinen alten Tagen mit den Erfahrungen eines - für damalige Verhältnisse -
langen Lebens ein weitaus schärferer Antisemit als Heinrich von Treitschke
dreieinhalb Jahrhunderte später. Man denke da nur an seine Streit- und
Schmähschrift "Über die Jüden und ihre Lügen".
Aber an Luther traut sich der
Berliner Senat offenbar nicht heran und - Gott sei Dank - liegt sein Grab
außerhalb der Hoheitsgewalt einiger kleiner Geister in der Hauptstadt, die
besser daran täten, die ungeheuerliche Korruption in ihrer Stadt zu bekämpfen,
als verdienten Ordinarien, die in anderen Zeiten anderen Gedanken nachhingen,
ihre letzte Ruhestätte streitig zu machen.
Heinrich von Treitschke das
Ehrengrab abzuerkennen, ist ein Zeichen geistiger Armut. Um erneut eine
Parallele zu Luther aufzuzeigen, mag aus dem Olymp der deutschen Dichtung der
unverfängliche - da getaufter Jude - Heinrich Heine zitiert werden. Der
Wowereit-Senat sollte dabei insbesondere die Metapher von dem Zwerg beachten,
der auf den Schultern des Riesen steht:
Wie von der Reformation, so
hat man auch von ihren Helden sehr falsche Begriffe in Frankreich. Die nächste
Ursache dieses Nichtbegreifens liegt wohl darin, daß Luther nicht bloß der
größte, sondern auch der deutscheste Mann unserer Geschichte ist; daß in seinem
Charakter alle Tugenden und Fehler der Deutschen aufs Großartigste vereinigt
sind, daß er auch persönlich das wunderbare Deutschland repräsentiert. Dann
hatte er auch Eigenschaften, die wir selten vereinigt finden, und die wir
gewöhnlich sogar als feindliche Gegensätze antreffen. Er war zugleich ein
träumerischer Mystiker und ein praktischer Mann in der Tat. Seine Gedanken
hatten nicht bloß Flügel, sondern auch Hände; er sprach und handelte. Er war
nicht bloß die Zunge, sondern auch das Schwert seiner Zeit. Auch war er
zugleich ein kalter scholastischer Wortklauber und ein begeisterter,
gottberauschter Prophet. Wenn er des Tags über mit seinen dogmatischen
Distinktionen sich mühsam abgearbeitet, dann griff er des Abends zu seiner Flöte,
und betrachtete die Sterne und zerfloß in Melodie und Andacht. Derselbe Mann,
der wie ein Fischweib schimpfen konnte, er konnte auch weich sein wie eine
zarte Jungfrau. Er war manchmal wild wie der Sturm, der die Eiche entwurzelt,
und dann war er wieder sanft wie der Zephyr, der mit Veilchen kost. Er war voll
der schauerlichsten Gottesfurcht, voll Aufopferung zu Ehren des heiligen
Geistes, er konnte sich ganz versenken ins reine Geisttum; und dennoch kannte
er sehr gut die Herrlichkeiten dieser Erde und wußte sie zu schätzen, und aus
seinem Munde erblühte der famose Wahlspruch: "Wer nicht liebt Wein, Weiber
und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang." Er war ein kompletter
Mensch, ich möchte sagen: ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie
nicht getrennt sind. Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher ebenso irrig,
als nennte man ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas
Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bei allen
providentiellen Männern finden, etwas Schauerlich‑Naives, etwas
Tölpelhaft‑Kluges, etwas Erhaben‑Borniertes, etwas Unbezwingbar‑Dämonisches.
Luthers Vater war Bergmann zu
Mansfeld, und da war der Knabe oft bei ihm in der unterirdischen Werkstatt, wo
die mächtigen Metalle wachsen und die starken Urquellen rieseln, und das junge
Herz hatte vielleicht unbewußt die geheimsten Naturkräfte in sich eingesogen,
oder wurde gar gefeit von den Berggeistern. Daher mag auch so viel Erdstoff, so
viel Leidenschaftschlacke an ihm kleben geblieben sein, wie man dergleichen ihm
hinlänglich vorwirft. Man hat aber Unrecht, ohne jene irdische Beimischung
hätte er nicht ein Mann der Tat sein können. Reine Geister können nicht
handeln. Erfahren wir doch aus jung Stillings Gespensterlehre, daß die Geister
sich zwar recht farbig und bestimmt versichtbaren können, auch wie lebendige
Menschen zu gehen, zu laufen, zu tanzen und alle möglichen Gebärden zu machen
verstehen, daß sie aber nichts Materielles, nicht dein kleinsten Nachttisch,
von seiner Stelle fortzubewegen vermögen.
Ruhm dem Luther! Ewiger Ruhm
dem teuren Manne, dem wir die Rettung unserer edelsten Güter verdanken, und von
dessen Wohltaten wir noch heute leben. Es ziemt uns wenig, über die
Beschränktheit seiner Ansichten zu klagen. Der Zwerg, der auf den Schultern des
Riesen steht, kann freilich weiter schauen als dieser selbst, besonders wenn er
eine Brille aufgesetzt; aber zu der erhöhten Anschauung fehlt das hohe Gefühl,
das Riesenherz, das wir uns nicht aneignen können. Es ziemt uns noch weniger,
über seine Fehler ein herbes Urteil zu fällen; diese Fehler haben uns mehr
genutzt als die Tugenden von tausend andern. Die Feinheit des Erasmus und die
Milde des Melanchthon hätten uns nimmer so weit gebracht wie manchmal die
göttliche Brutalität des Bruder Martin.
Quelle: Heinrich Heine "Religion und
Philosophie in Deutschland"
www.luebeck-kunterbunt.de