Gorbatschow über Lenin
Wie für sehr viele, die in der
Sowjetzeit aufwuchsen, war Lenin für mich einmal das, was Gläubige in Christus,
Mohammed oder Buddha sehen ‑ etwas Unerreichbares, Unantastbares, eine
unwiderrufliche Autorität. Zeit und Erfahrungen haben mein Verhältnis zu ihm
geändert.
Ich fand die kommunistischen
Ideen untadelig und war bereit, jeden Parteiauftrag zu erfüllen. Das sage ich
ganz aufrichtig, wie bei einer Beichte.
Ich war jung, als ich in die
große Politik kam. Das sowjetische System lief offenkundig nicht mehr rund.
Deshalb machte ich mir, wie viele damals, Gedanken über Veränderungen, die ihm
seine Funktionsfähigkeit zurückgeben könnten. Das mußte zwangsläufig zu
grundsätzlichen Überlegungen führen ‑ über das Schicksal des Sozialismus.
Als ich Generalsekretär des
Zentralkomitees der KPdSU geworden war, sahen wir uns alle, meine
Kampfgefährten und ich, die ganze Partei, mit der Notwendigkeit konfrontiert,
die Grundlagen zu überdenken, die über sieben Jahrzehnte für uns verbindlich
waren.
Bei der Umsetzung umfassender
Reformen konnten wir uns sogar auf Lenin berufen, hatte er doch einen seiner
letzten Beiträge so resümiert: "Wir müssen unsere Haltung gegenüber dem
Sozialismus grundlegend ändern."
Ich verteidigte jene Ideen
Lenins entschlossen, die uns auf den Weg der Reformen gebracht hatten und
helfen konnten, sie weiter durchzusetzen. Jeder Schritt fiel uns sehr schwer,
weil er auf den Widerstand von Reformfeinden stieß und sich damit die Frage
nach der Reformierung der Partei selbst stellte.
In dieser Phase entstand der
Entwurf eines neuen Parteiprogramms, das im Juli 1991 auf dem ZK‑Plenum
angenommen wurde. Wir strebten eine Sozialdemokratisierung an und dadurch eine
Spaltung der KPdSU.
Welche Empfindungen hege ich
heute für Lenin? Ohne Zweifel ist er der größte Politiker des nun zu Ende
gehenden Jahrhunderts. Als Politiker erscheint mir Lenin nach wie vor genial ‑
und als Mensch hoch anständig: weil er selbst zur Einsicht gelangte, daß mit
Gewalt allein kein Paradies auf Erden zu errichten ist. Wären ihm noch einige
Lebensjahre vergönnt gewesen, wäre unser aller Geschichte ganz anders
verlaufen.
Leider gab das Leben ihm und
uns diese Chance nicht. Die Erleuchtung kam zu spät. Der schwerfällige Zug der
Diktatur raste weiter, getrieben von der Kraft einer großen Revolution, die
Lenin zum Sieg geführt hatte. Der Mann am Steuer, der an Lenins Stelle trat,
hat verhindert, daß die Weichen anders gestellt wurden. Der Zug fuhr in die
falsche Richtung. Er riß Hunderttausende mit in den Tod.
Die Frage, ob Lenin für all
das verantwortlich zu machen ist, was die Sowjetmacht anrichtete, muß ich
negativ beantworten. Zugleich bin ich weit davon entfernt, ihn zu vergöttern.
Obwohl Lenin ein bekennender
Marxist war, dachte und handelte er entgegen der verbreiteten Meinung ‑
im Geiste der russischen Kulturtradition. Lenins Strategie zielte darauf ab,
Ordnung in die soziale Verwirrung Rußlands zu bringen, ein neues Staatswesen zu
schaffen, dessen Einheit wiederherzustellen. Diese Ziele wurden erreicht. Der
Preis war hoch: gewaltige Menschenopfer in einem Bürgerkrieg, den Lenin hatte
vermeiden wollen, und eine verarmte Gesellschaft.
Lenin teilte den Irrglauben
vieler seiner Zeitgenossen, der Kommunismus sei eine Alternative zur
moralischen Verwilderung der sich als zivilisiert gerierenden christlichen Staaten,
welche ihre Völker in ein europaweites Blutbad gestürzt hatten. Als der Kriegskommunismus
in eine Sackgasse führte, war Lenin Realist genug, das Steuer scharf umzureißen.
Heute
sind Anordnungen und Notizen Lenins veröffentlicht, in denen er den Auftrag
erteilt, mit Gegnern der Sowjetmacht, mit der Kirche und ihren Bediensteten
gnadenlos kurzen Prozeß zu machen. Da wir von Kindheit an zu der Vorstellung
erzogen wurden, Lenin sei ein Edelmann ohne Fehl und Tadel gewesen, lösen
solche Zeitdokumente Bitterkeit aus. Wir können sie damit erklären, die Lage
sei so gewesen, daß die Feinde hinterlistig und brutal vorgingen und Lenin eine
leidenschaftliche Natur war. Doch ich kann und will solche Handlungen nicht
rechtfertigen.
Als Folge des erbarmungslosen
und haßerfüllten Bürgerkriegs herrschte in Rußland eine Atmosphäre, in der sich
die bolschewistische Diktatur zum Terror bekannte. Lenins Erfindung war der
Terror nicht, er wurde offiziell nach einem Attentat auf Lenin ohne sein Wissen
verkündet. Lenin hat sich nicht widersetzt. Er verlangte nur, daß die
berüchtigte Tscheka gezügelt werde und sich auch jedes andere Staatsorgan an das
Gesetz halten sollte.
Erkennt man die Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte an, hat Lenin die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert
am stärksten, wenn auch nicht unzweideutig beeinflußt: als eine große, ja eine
großartige Gestalt unserer Epoche.
Michail Gorbatschow war bis 1991 der letzte Generalsekretär der KPdSU.
Quelle: DER SPIEGEL 29 / 1999 / 151