1525 ‑ Florian Geyers Jahr
Die Läufte stellen sich uf den
Kopf. Zu Ostern
entstieg der Heiland dem
Grabe. Zu Pfingsten
schlägt man ihn wieder ans
Kreuz.
Hellpach hat in einer seiner
Wahlreden gesagt, das deutsche Volk sei allzu verliebt in seine Vergangenheit.
Ein gutes Wort, aber, wie alle solche Worte, nur halbwahr, viertelwahr. Was man
so Pflege der Tradition nennt, das bedeutet in Wirklichkeit nur die Freigabe
einiger Prunkräume deutscher Geschichte zu Besichtigungszwecken. Das sind so
Prunkräume wie alle des Genres, etwas fad, etwas verlogen. Wenn der Franzose
sein Pantheon mit zuviel Gloire parfümiert, so stellt der Deutsche seine
Ruhmeshalle mit Plüschmöbeln voll. In solchem Hausrat haben wir die
repräsentativen Gestalten unserer tausendjährigen Geschichte kennengelernt, und
man versteht danach die unwirsche Bemerkung des jungen Georg Büchner über die
«Eckensteher der Weltgeschichte».
Aber daß es im weiten Haus der
Geschichte versponnene Ecken und Winkel gibt, reizend zu träumen, hohe,
feierliche Hallen und schauerliche Grüfte, freundliche Giebelstuben und
fürchterliche Folterkammern, das macht der skabrösen Methodik der Herren
Konservatoren Kummer. Deshalb halten sie uns alles bis auf ein paar sauber und
langweilig gefegte Appartements verschlossen wie Blaubarts heimliches Gemach.
In keinem Lande der Welt wäre es denkbar, ein Volk buchstäblich um seine
Geschichte zu prellen. Was unsere stupide und so patriotische
Steißtrommlerschaft aus dem Geist der Vergangenheit gemacht hat, das ist eine
greuliche Vogelscheuche mit Kanonenstiefeln und teutonischem Umhängebart, im
Bauch eine Walze mit der Wacht am Rhein.
Zu den schändlichsten
Attentaten der Schule gegen den deutschen Geist gehört die völlige Konfiskation
des großen Bauernkrieges von 1525. An diese mächtige und farbenreiche Epoche
wird nicht so viel Zeit gesetzt wie an die aufgeplusterten Ruhmestaten des
kleinsten aller Habitués der Siegesallee. Und so wird niemand daran denken,
niemand in diesem jubiläumsseligen Volke! daß gerade um Ostern vor vierhundert
Jahren in Oberdeutschland, am Rhein, im Thüringischen, im Salzburgischen der
«gemeine Mann» aufstand wider seine weltlichen und geistlichen Peiniger. Daß am
Ostersonntag, dem 16. April, Weinsberg gestürmt und des Helffensteiners
gräfliche Gnaden durch die Spieße gejagt wurden. Daß sich gerade zwischen
Ostern und Pfingsten eine Tragödie abspielte, ein bäuerlich' Trauerspiel,
ohnegleichen unter allen deutschen Begebenheiten.
1525, das ist das Jahr der
leidenschaftlichen Prediger evangelischer Freiheit, der plänevollen Schreiber
und Ratsherren, der verwegenen Soldaten, die sich an die Spitze armer,
schlechtbewaffneter Haufen stellten, um das große Wagnis zu unternehmen, im
Zeichen des Bundschuhs dem deutschen Volk die deutsche Erde zu erobern. 1525,
das ist das Jahr Thomas Münzers und Wendel Hiplers. Und Florian Geyers vor
allem. 1525, das ist das Jahr Florian Geyers, wie 1789 das Jahr Mirabeaus, wie
1848 das Jahr Robert Blums, wie 1918 das Jahr Karl Liebknechts.
Wer eine blasse Erinnerung nur
bewahrt an Gerhart Hauptmanns so selten, selten aufgeführtes Werk, wer des
alten Zimmermann Geschichte des Bauernkrieges kennt und liebt (was tut
eigentlich der Verlag Dietz für dies lebensvollste und demokratischste unserer
Geschichtsbücher?), dem ist für immer der Begriff 1525 zusammengeflossen mit
der Gestalt des fränkischen Ritters, der seine adlige Sippe verließ, um mit den
bäurischen Brüdern zu kämpfen und unterzugehen.
Die Fürsten sind schnell mit
der Bewegung fertig geworden. Ihre überlegene Artillerie und Doktor Luthers
Segen verschafften ihnen bald Übergewicht. Es war kein Heldenstück,
begeisterte, aber mangelhaft armierte Bauerntrupps ohne kriegerische Schulung
auseinanderzufegen. Was noch blieb, hat eine servile Historiographie vollendet.
Sie hat von Florian Geyer fast nicht mehr übriggelassen als den Namen. Sie hat
den gütigen Karlstadt zum irren Fanatiker, den hinreißenden und mutigen Führer
Thomas Münzer zu einem feigen Charlatan gestempelt. Sie hat ein Geschlecht von
Winkelrieden, das die nackte Brust in einen Wald von Piken warf, in einen
demagogisch verhetzten Pöbelhaufen, dem's ums Raufen und Brandschatzen zu tun
war, umgefälscht. Über das Blutgericht der Sieger schweigt sie lieber ganz. Daß
die großen und kleinen Potentaten unter ihren Landeskindern ärger wüteten als
hundert Jahre später die Panduren, Wallonen, Franzosen und Schweden
zusammengenommen, auch darüber macht sie nicht viel Worte. Das alles wird
unterschlagen. Aus einer Volkserhebung von unerhörter Allgemeinheit, die unter
ihren großen weiten Plänen die Zertrümmerung der elenden Kleinstaaterei, die
Schaffung eines geschlossenen, zentralen Nationalstaates hatte, so wie es im
gleichen Jahrhundert England und Frankreich wurden, hat sie einen sturen,
sinnlosen Helotenaufruhr gemacht, dessen Niederwerfung Verdienst war. In Blut
wurde die Bewegung erstickt. Clio, die geduldigste der Musen, ließ sich wie
immer den Griffel führen.
Wer aber etwa in diesem Jahr
zwischen Ostern und Pfingsten hinunterkommen sollte in die winklige gotische
Welt um den Main, der möge nicht vergessen, daß hier einmal um das deutsche
Schicksal gewürfelt wurde. Es ist ein schöner und lockender Gedanke, an einem
späten Nachmittag, wenn die Sonnenstrahlen schon weicher und müder durch bunte
Scheiben brechen, in einem der alten Ratskellerchen dort den Römer zu heben und
ein Trankopfer zu weihen dem Gedenken derer, die unter dem Bundschuh starben.
Vielleicht hat hier vor vierhundert Jahren, in diesem selben kühlen, feuchten
Gewölbe ein Mann im schwarzen Harnisch gesessen, das Glas erhoben, wie du,
Spätgeborener, doch nicht in Erinnerung, sondern versunken in eine Zukunft, von
der er erhoffte, was eingeritzt stand im Knauf seines Schwertes: Nulla crux,
nulla corona ...
Quelle: Carl von Ossietzky in "Das Tage‑Buch", 11. April
1925