Gesinnungsfilter  oder  "Die guten Seiten der Nazis"

 

Es folgen zwei Artikel der taz aus Oktober 2003, ein Auszug aus Ernst Nolte: "Streitpunkte - Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus" und drei Auszüge aus den "Anmerkungen zu Hitler" von Sebastian Haffner. Zweck dieser Zusammenstellung ist, zum Nachdenken anzuregen, ob die Historisierung des Nationalsozialismus längst überfällig ist und ob ein unverkrampfter Umgang mit der Geschichte eben auch das dunkelste Kapitel umfassen muß. Mit Verteufelung, Geschichtsklitterung und Einseitigkeiten tun wir weder unseren Eltern und Großeltern, noch unseren Kindern und nachfolgenden Generationen einen Gefallen:

 

1) taz: "Die guten Seiten der Nazis" - Berufsschüler in Elmshorn lernen im Unterricht von "den guten Seiten des Nationalsozialismus" - IG Metall ist empört, Ministerium prüft.    

Elmshorn - Wenn die Berufsschüler im schleswig-holsteinischen Elmshorn Geschichte lernen, dann lernen sie, dass "Machtübernahme und NS-Propaganda eine Aufbruchsstimmung erzeugten, wie sie das deutsche Volk noch nicht erlebt hatte". Sie lernen, dass "die Einführung des Massentourismus" und "die Belebung der Weltkonkunktur" zu den "guten Seiten des Nationalsozialismus" zählen. Denn sie lernen Geschichte aus dem Schulbuch "Frank. Politik heute", erschienen 1981. Das Buch ist der IG Metall in die Hände gefallen, und sie hat einen empörten Brief ans schleswig-holsteinische Kultusministerium geschrieben. "Wir halten dies nicht nur für eine unkritische und unhistorische Betrachtung, sondern auch dem Bildungsauftrag der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein widersprechend", schreibt der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Elmshorn, Uwe Zabel an SPD-Ministerin Ute Erdsieck-Rave. Die will die Angelegenheit nun prüfen.

Aus dem Buch, Seiten 176 bis 177: Als positive Seite des NS-Staates gelten: Autobahnbau, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Kraft-durch-Freude-Reisen und einige andere." Und später heißt es: "Als eine der großen Leistungen Hitlers gilt die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Es wäre falsch, diese Leistung zu leugnen. Es ist aber auch unerläßlich, die Umstände vor und nach der Machtübernahme zu sehen." Zum innenpolitischen Klima der NS-Zeit: "Die niedergedrückte Stimmung, die seit Jahren auf allen Volksschichten lastete, wich optimistischen Zukunftserwartungen, Initiative und Selbstvertrauen kehrten zurück."

"Mit derart unkritischem Unterricht wird in der Mitte der Gesellschaft der Boden für neonationalsozialistische Tendenzen gelegt", sagt Zabel. In dem Brief an die Ministerin wird diese aufgefordert, dafür zu sorgen, "dass dies umgehend abgestellt wird." Es sei nicht zuletzt ein "Affront gegen alle GewerkschaftlerInnen, die im Widerstand ihr Leben für eine demokratische Gesellschaft gelassen haben."

Im Ministerium selbst ist man von der Sache durchaus peinlich berührt, will aber offiziell nicht Stellung nehmen, "bevor wir mit dem entsprechenden Lehrer und der Schule gesprochen haben", wie eine Ministeriumssprecherin gestern sagte. Man werde sich spätestens Anfang kommender Woche dazu äußern.

 

2) taz:  "Keine guten Seiten Hitlers" - Umstrittenes Geschichtsbuch jetzt verboten

Kiel/Elmshorn - Das schleswig-holsteinische Kultusministerium zieht das umstrittene Schulbuch "Politik heute", aus dem SchülerInnen der Berufsschule Elmshorn gelernt haben, aus dem Verkehr. SPD-Kultusministerin Ute Erdsieck-Rave hat in einem Brief an die IG Metall Elmshorn hingewiesen, dass das Buch bereits seit acht Jahren nicht mehr im Unterricht hätte verwendet werden dürfen. In dem Geschichtsbuch ist ausführlich von "den guten Seiten des Nationalsozialismus" die Rede.

Erdsieck-Rave habe jedoch "keinerlei Hinweise", dass an der Berufsschule "der Nationalsozialismus in irgendeiner Weise verherrlicht" werde. Das besagte Werk sei bereits vor zwölf Jahren von der Liste der zugelassenen Bücher gestrichen worden. Sie habe angewiesen, dass das Buch "Schülern nicht mehr zugänglich gemacht werden darf."

 

 

3) Ernst Nolte: "Streitpunkte", Seite 417 ff

Wer die Untaten des Nationalsozialismus nicht als Gegenbilder zu den früheren Untaten des Bolschewismus verstehen will, wer in der Größe und in der Tragik des Nationalsozialismus nicht späte und angestrengte Gegenzüge zu der ursprünglicheren und genuineren Größe und Tragik des Bolschewismus erkennen will, der macht sich von der Geschichte des 20. Jahrhunderts ein grob verzerrtes Bild.

 

Doch auch der zeichnet ein inadäquates Bild, der ein drittes Volk übersieht, das sich in einer außerordentlichen Situation befand und von dem bestimmte Teile sich schlechthin außerordentliche Ziele setzen oder doch ganz ungewöhnliche Leistungen vollbringen konnten. In Westeuropa waren die Juden längst dem Ghetto entronnen und großenteils assimiliert, so daß sie das Jüdische fast schon als bloße »Konfession« verstanden, aber im Zarenreich lebten sie noch wie in einem riesigen Ghetto, dem sogenannten Ansiedlungsrayon, überwiegend als eine arme Händler‑, Handwerker- ­und Intellektuellenschicht, deren Verhältnis zur großen Masse der oft noch analphabetischen russischen Bauern auf der einen Seite und zur regierenden Bürokratie auf der anderen als ausgebeutete (bzw. unterdrückte) Ausbeutung gekennzeichnet werden kann. Jedenfalls war es durch die tiefe Fremdheit zwischen denen bestimmt, die den Sonntag feierten, und den anderen, die am Sabbat ihre Läden schlossen. Die Juden waren hier noch eindeutig ein Volk mit eigener Sprache, dem jiddischen, und einer uralten Volksreligion. Wie die Zukunft zeigen sollte, steckte in dieser ärmlich dahinlebenden Gruppe von Menschen eine unglaubliche Fülle von mannigfaltigen Begabungen. Immer wieder Opfer von Pogromen, die sie selbst auf Machinationen der zaristischen Beamten zurückführten, machten sich Millionen dieser »Ostjuden« auf den Weg nach Amerika, wo die erste Generation sich in harten Mühen und unter mancherlei Diskriminierungen zu behaupten hatte, während die zweite und erst recht die dritte Generation weite Teile des intellektuellen, künstlerischen und finanziellen Bereichs eroberten und schon um 1930 zu den einflußreichsten Volksgruppen gehörten, wobei sie freilich den Preis einer weitgehenden Assimilierung zahlten.

 

Die aktiven Elemente der in Rußland verbliebenen Juden, insbesondere die jugendlichen, hatten starken Anteil an der Revolution von 1905, und sowohl die Voraussetzungen dafür wie die Folgen waren Pogrome, die den Juden ihre Unterdrückung noch einmal anschaulich und schmerzlich vor Augen führten. Nichts war verständlicher, als daß sie sich wie andere Minderheitsvölker in hohem Maße sowohl an der Februar‑ wie an der Oktoberrevolution beteiligten: Von den zehn Männern, die unter dem Vorsitz Lenins am 23. Oktober 1917 den Beschluß faßten, die Revolution auszulösen, waren nicht weniger als sechs Juden. Aus der frappierenden Tatsache, daß so viele der eben noch diskriminierten und meist durch die Physiognomie leicht erkennbaren Juden nun in den obersten und den mittleren Führungspositionen auftauchten, wurde im In‑ und Ausland sehr rasch der Schluß gezogen, daß diese bolschewistische Revolution eine Revolution der Juden sei, und wie hätte es nicht Anlaß zu Kombinationen und Gerüchten geben sollen, daß auch der Verantwortliche für den Mord an der Zarenfamilie ein Jude war!

 

Überall wo jüdische Autoren sich nicht in einer Verteidigungsposition sehen, wird der weit überproportionale Anteil von Juden an der bolschewistischen Revolution als unbestreitbare Tatsache konstatiert, und sobald kritische Distanz zu sich selbst gegeben ist, können. jüdische Schriftsteller einen Satz wie den folgenden schreiben: »Wenn für das Zarenregime der Offizier, der adlige Beamte oder der Kanzleivorsteher in Uniform typisch waren, so wurde der nicht selten gebrochen russisch sprechende jüdische (lettische) Kommissar mit Lederjacke und Mauserpistole typisch für das Erscheinungsbild der revolutionären Macht.« Es ist in der Tat zweifelhaft, ob das bolschewistische Regime ohne die Trotzki und Sinowjew, Swerdlow und Kamenjew, Sokolnikow und Uritzky den Bürgerkrieg überstanden hätte.

 

Insofern war nicht nur die starke Teilnahme von Juden an der Revolution, sondern auch die Anklage gegen die Juden von seiten der Feinde der Bolschewiki leicht verständlich. Dennoch bedeutete es einen Überschritt in eine andere Dimension, wenn die Anklage von den »vielen« auf alle ausgedehnt wurde, wenn die bolschewistische Revolution als solche für jüdisch erklärt und Verschwörungstheorien konstruiert wurden, welche Trotzki und andere zu Abgesandten und Bevollmächtigten amerikanisch‑jüdischer Bankhäuser machten. Hier ging rationale Einsicht nur allzurasch in mythologisierende Phantasie über und wurde das Verständliche zum kaum noch Verstehbaren. Ernster zu nehmen ist die auch heute noch von russischen »Konservativen« vertretene These, die Oktoberrevolution sei in erster Linie die Revolution eines »kleinen Volkes« und nicht der Russen gewesen, aber auch sie weist wenig Überzeugungskraft auf. Der säkularisierte russische Messianismus war ebensosehr eine starke Realität wie der säkularisierte jüdische Messianismus; die früheste und ausgedehnteste Antriebskraft der Revolution war die Friedenssehnsucht der großen, d. h. der vorwiegend russischen Massen; der kommunistische Glaube kannte keine nationalen Beschränkungen.

 

Die These vom »jüdischen Bolschewismus« war falsch, aber ihr Aufkommen war nur allzu naheliegend. Die Juden hatten bedeutenden Anteil sowohl an dem Enthusiasmus wie an den Schrecken der Revolution, aber sie waren nicht die Urheber und Erzeuger, und so wie ihrem Aktivismus eine eigene Art von »Größe« zuzuschreiben ist, so wurde ihnen auch ihre eigene Art von Tragik zuteil, denn schon der Kampf der Parteimehrheit und Stalins gegen den »Trotzkismus« trug unverkennbare anti‑intellektuelle und »antisemitische« Züge, und in der großen Säuberung wurde die Zahl der Juden in wichtigen Stellungen beinahe auf eine Proportion reduziert, die ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprach. Es ist ja ausgeschlossen, daß in modernen Zeiten irgendwo ein »kleines Volk« sich auf die Dauer gegen ein »großes Volk« durchsetzt. Sogar Hitler hielt es im Jahre 1940 für möglich, daß Stalin die Juden aus dem Zentrum der Macht verdrängt habe. Daß die orthodoxen Juden von Anfang an verfolgt worden waren, hielt er des Nachdenkens offenbar nicht für wert.

 

Ein normales und eigenständiges Schicksal für ihr kleines Volk erstrebten die Zionisten, die es in Osteuropa längst gab, bevor Theodor Herzl den Begriff des Zionismus und einen Terminus wie "Judenstaat" weltbekannt machte. Für die Zionisten und auch für Herzl war ebenso wie später für Weizmann der Antisemitismus eine ganz natürliche Reaktion der »Wirtsvölker« auf die unaufhebbare Andersartigkeit und die expansive, auf intellektueller Überlegenheit beruhende Aktivität der Juden. Den rettenden Ausweg vor dem Ausbruch der großen sozialen Kämpfe, in denen die Juden als Protagonisten der feindlichen Seiten schließlich zerrieben werden würden, bot nur die Übersiedlung in die alte Heimat, die von der eigenen Religion durch zwei Jahrtausende der Zerstreuung in Aussicht gestellt worden war, wenn auch in der irrationalen Verkleidung der Hoffnung auf einen persönlichen »Messias«. Der Zionismus würde der moderne und weltliche Messias sein, und Herzl setzte mit irrealen Vorstellungen und trügerischen Annahmen das scheinbar aussichtslose Unternehmen in Gang, das faktisch die letzte kolonisierende Besitzergreifung von Europäern auf asiatischem Boden war und schon bald nach dem Ende des Krieges zu Aufständen der arabischen Bevölkerung Palästinas führte, weil eine Verschwörung von Juden und Engländern vorzuliegen schien, die durch die Balfour Declaration von 1917 besiegelt worden sei. Herzl selbst freilich war von der Vorstellung, er könne einen unerbittlichen und blutigen Kampf um ein von zwei Völkern mit unterschiedlichen Rechtstiteln beanspruchtes Land initiieren, immer fern geblieben, und er hatte im optimistischen Geist der Jahrhundertwende vom friedlichen, für beide Seiten förderlichen Zusammenleben der Juden und der Araber in ihrem gemeinsamen Heimatland geträumt. Aber sein Ehrgeiz war über das Ziel, die Juden endlich von ihrer Sonderrolle zu befreien und sie zu einem Volk wie die anderen Völker zu machen, weit hinausgegangen, denn er wollte in dem künftigen jüdischen Gemeinwesen als erster einen »Dritten Weg« verwirklichen, auf dem der einzelne nicht »zwischen den Mühlsteinen des Kapitalismus vermalmt« und auch nicht »von sozialistischer Gleichmacherei geköpft« werden würde und der für das Volk im ganzen die richtige Mitte zwischen der Selbstaufgabe durch den abstrakten Universalismus und der gedankenlosen Selbstbehauptung durch einen kriegerischen Partikularismus bedeuten würde.

 

Davon wurde später nicht weniges zur Wirklichkeit: Mit den Kibbuzim schufen die Zionisten eine neuartige gesellschaftliche Organisationsform, welche der Utopie der Frühsozialisten so nahe war wie nur möglich, ohne daß sie zu mehr als einem Moment der Gesamtgesellschaft und Gesamtwirtschaft geworden wäre. Und als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die der »Endlösung« entkommenen Überreste des europäischen Judentums gegen den Widerstand der englischen Mandatsmacht nach Palästina strebten, da zeigte sich, daß das Wort von Paul Scheffer auch auf die Zionisten zutraf. Sie waren Kämpfer wie niemand sonst. Sie kämpften in Palästina mit Bombenanschlägen und feldzugsartigen Überfällen gegen die Engländer und die einheimische Bevölkerung, sie kämpften mit Druck und Überredung in den Gremien der UNO, und am Ende setzten sie das schlechthin Außerordentliche durch: die Gründung eines Staates von Europäern als garantierten Zufluchtsort für bedrängte Juden in aller Welt inmitten riesiger islamischer Gebiete.


 

Und weil ihnen so viel Feindschaft begegnete, die den kaum gegründeten Staat bereits auszulöschen suchte, verwandelten sie sich von heute auf morgen aus Unterdrückten in Unterdrücker, aus Vertriebenen in Vertreiber, aus Gejagten in Jäger. Aber in all dem Unrecht vollzogen sie die Selbstbehauptung eines bis vor kurzem in aller Welt zerstreuten, durch die Assimilation sowohl in den USA wie in der UdSSR aufs äußerste gefährdeten Volkes, und wenn von Israel oder um Israel im Verlauf weniger Jahrzehnte sechs Kriege geführt wurden, von denen einige die Welt an den Rand der atomaren Katastrophe brachten, so konnte doch niemand diesem Staat und seinen Menschen das Außerordentliche, die »Größe«, absprechen. Herzl freilich hätte keinen Augenblick gezögert, auch von »Tragik« zu reden, denn dieser waffenstarrende Krieger‑ und Wehrbauernstaat hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem friedvollen »Judenstaat«, den er sich vorgestellt hatte, und doch war schlechterdings kein anderer Weg zu sehen, auf dem aus dem Traum eine Wirklichkeit hätte werden können.

 

»Untaten« freilich wie den Klassenmord der Bolschewiki und den Rassenmord der Nationalsozialisten ließen sich die Zionisten nicht zuschulden kommen, es sei denn, man setzte unzulässigerweise Vertreibung und jahrzehntelange Unterdrückung mit Massentötungen gleich. Größe und Tragik und damit Untaten bzw. Verbrechen hatten in Rußland, in Deutschland und in Israel eine andere Gestalt, aber in allen drei Ländern hatten sich Menschen außerordentliche Ziele gesetzt, und nicht aus Anlagen oder Neigungen, sondern aus der Zielsetzung resultierten Größe, temporärer Erfolg und schließliches Scheitern, das nur im Falle Israels sich als Kompromiß und geschwächtes Überleben eines ideologischen Regimes darstellen könnte.

 

Die außerordentlichen Zielsetzungen waren nicht in sich schlecht, aber sie verneinten das Realitätsprinzip auch dort, wo sie gerade dafür einzutreten glaubten. Der vorstellbare »Weg der Vernunft« wurde als Resultat von Gegebenheiten und untergeordneten Konflikten ohne den Willen, ja gegen den Willen einzelner Menschen und Parteien im Jahre 1914 an ein erstes und folgenreiches Ende gebracht. Aber eine grundsätzlich neuartige Dimension wurde erst betreten, als im Jahre 1917 eine große, die lange Gedankenarbeit der sozialistischen Bewegung in sich schließende Partei alle »inhumanen« Verhältnisse der ganzen Welt im Interesse einer »Verschmelzung« aller Klassen und Völker zu undifferenzierter Einheit umzustürzen sich vornahm. Dies war das erste Überschießen über einen leicht erkennbaren rationalen Kein hinweg, die Kriegserklärung des militanten Universalismus an die ungerechte Welt und der Anfang des europäischen Bürgerkrieges zwischen ideologischen Mächten. Diese Kriegserklärung verfing sich bald in der Zählebigkeit der russischen Realität, aus der sie auftauchte, aber sie erstarb nicht, sondern wurde nur angreifbarer.

 

Es war konsequent und unvermeidbar, daß die Gegen-­Bürgerkriegspartei aufkam, die ebenso militant sein wollte wie der Feind. Im Prinzip hätte sie die bewaffnete Predigt der individuellen Freiheit und der Welt-Marktwirtschaft sein können, wie es in Ansätzen von seiten der Amerikaner nach 1945 geschah. Aber faktisch kam in Deutschland, der der Sowjetunion am nächsten benachbarten und von einer starken kommunistischen Partei am meisten bedrängten Großmacht, ein militanter Antibolschewismus zur Macht, der vor allem die nationale Eigentümlichkeit verteidigen wollte, d. h. der die Fahne des Partikularismus gegen das Banner des Universalismus aufpflanzte und das Prinzip der Realität gegen das Prinzip der Utopie setzte.

 

Mit beidem hatte er zugleich recht und unrecht. Das Universale und das Partikulare sind nicht getrennte Pole; das Universale ist immer das Universale des Partikularen, und das Partikulare sieht sich in der Geschichte einem Prozeß der Universalisierung ausgesetzt. Ein nur noch universaler Mensch wäre kein realer Mensch aus Fleisch und Blut mehr; ein Ganzes, das die Teile aufzehrte, anstatt sie enger zusammenzufassen, würde auch sich selbst zerstören. Aber der ideologische Universalismus kann mit dem Anspruch auftreten, die Sperrigkeit des Partikularen und damit der Realität zu vernichten, und der Partikularismus kann, sobald er vom Universalismus infiziert ist, die Selbstbehauptung zur Selbstzerstörung treiben, indem er an die Stelle der lebendigen und vielfältigen Nation die Starrheit einer nur noch durch Züchtung veränderlichen »Rasse« setzt. So machte der Nationalsozialismus die Realität zum Prinzip, d. h. den Konflikt, die Ungerechtigkeit, die Über‑ und Unterordnung, die partikulare Bestimmtheit von Einzelnen und Gruppen. Darin lag sein tiefstes Unrecht, aber kein Historiker kann im Recht sein, der nur dieses Unrecht wahrnimmt und dessen inneren Zusammenhang mit dem älteren Unrecht des realitätsfeindlichen Willens der Egalitätsideologen ausblendet. Das erste Überschießen rief das zweite hervor, wenn auch von einer Notwendigkeit der konkreten Ereignisse, die resultierten, nicht die Rede sein darf. Dem Zufall und der Willkür muß der Platz gewahrt bleiben. Wäre die Bombe Georg Elsers zehn Minuten früher explodiert, dann würde die Weltgeschichte anders verlaufen sein.

 

Die Neigung der Juden zur Selbstherabsetzung führt dazu, daß ihnen in der Regel bloß die Rolle von Opfern im ideologischen Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts zugeschrieben wird. Solange das Außerordentliche versteckt wird, das sie in ihren Aktivitäten und Zielsetzungen verkörperten und das positiv/negativ mit der Sowjetunion, positiv mit Israel und negativ mit dem Nationalsozialismus verknüpft ist, wird die Geschichte des Jahrhunderts zum Drama zwischen Guten und Bösen, Helden und Schurken stilisiert, und die Historiographie steht unter dem Motto ad usum delphini. Die nationalsozialistische »Endlösung der Judenfrage« ist unter den außerordentlichen Ereignissen des Jahrhunderts singulär, weil nie zuvor in der Weltgeschichte der Versuch gemacht wurde, den als Dekadenz verstandenen Geschichtsprozeß durch die Vernichtung der biologischen Basis einer kleinen Gruppe von Menschen als der angeblichen Urheber anzuhalten und umzukehren. Er ist aber nicht unverstehbar, denn er hat leicht erkennbare Prämissen, und er war kein der Geschichte enthobenes Werk des »absoluten Bösen«.

 

Der russische Historiker Wolkogonow hat den Anspruch formuliert, nur Russen könnten die Geschichte der Sowjetunion zum Thema machen, denn nur sie seien imstande und berufen, sie mit ihrem »Herzblut« zu schreiben. Offenbar meint er, daß zwar auch Ausländer sich das ganze Ausmaß der »stalinistischen« Verbrechen vor Augen stellen könnten, daß aber nur Russen ein Empfinden dafür zu haben vermöchten, wieviel guter Wille, wieviel Idealismus, wieviel edle Zielsetzung trotz dieser Verbrechen, ja in diesen Verbrechen anwesend gewesen seien. Selbstverständlich will er nicht sagen, die Verbrechen sollten nicht ernst genommen oder gar apologetisch hinwegerklärt werden, aber das abgründige Ineinander des Bösen und des Guten, des Rühmenswerten und des Verwerflichen sei, wie er meint, dem Verständnis eines Ausländers entzogen.

 

Von den »Hitlerschen« oder den »nationalsozialistischen« oder den »deutschen« Verbrechen und der ganzen Geschichte des nationalsozialistischen Regimes kann man sagen, daß noch niemand versucht hat, sie »mit Herzblut« zu schreiben, sondern daß auch die Inländer, wie Wolkogonows Ausländer, so gut wie ausschließlich moralische Empörung und historische Verdammungsurteile an den Tag gelegt haben, sofern sie nicht zu den bloßen Apologeten zählen. Erst sehr langsam und eher im Bereich allgemeiner Postulate wie der Zurückweisung von »Schwarz‑Weiß‑Malerei« macht sich seit einiger Zeit ... eine Änderung bemerkbar. Aber es ist immer noch eine Ausnahme, wenn Martin Broszat verlangt, sogar der Hitlerzeit gegenüber »ein Maß mitfühlender Idendifikation (mit den Opfern, aber auch mit den in diesem >Unheil<‑Kapitel der deutschen Geschichte fehlinvestierten Leistungen und Tugenden) aufzubringen«, ohne das geschichtliches Verstehen nicht auskommen könne.

 

Und es waren vor dem jüdische Autoren, die ein adäquateres Verständnis sowohl für die bedeutende Rolle der Juden als auch für die Natur des Nationalsozialismus entwickelten: Max Horkheirner gelangte zu der These, daß die Juden zu dem »Rest der Menschheit« in einer negativen Beziehung ständen, daß eben darin aber etwas Positives zu sehen sei, weil auf diese Weise und als Gegenzug zur zivilisatorischen. Einebnung »die Negation und das Nicht-­Identische« bewahrt würden. Jeffrey Herf begnügt sich nicht mit der bloßen (und selbstverständlichen) moralischen Verurteilung des Massenmords, sondern er sucht den Holocaust als das Resultat einer Kulturrevolution zu begreifen, die nach nationalsozialistischem Verständnis »einer von seelenloser Rationalität bedrohten Welt Gefühl und Unmittelbarkeit zurückgeben würde.« Robert Jay Lifton charakterisiert den Nationalsozialismus als ein »System der Biokratie«, und er legt zwar kein Verständnis, wohl aber ein bemerkenswertes Verstehen für die gewöhnlich bloß »Mörderärzte« Genannten an den Tag, wenn er sie als »biologische Soldaten in einer Frontlinie des Kampfes« bezeichnet, »der den Tod töten sollte« nämlich den »Volks‑« oder Zivilisationstod.

 

Das legt eine abschließende, ganz aktuelle und doch mit der Interpretation des Nationalsozialismus eng verbundene Bemerkung nahe. Wenn ideologische Systeme stürzen, drängt sich die Annahme auf, daß das gerade Gegenteil des bisher Betriebenen ein sicherer Leitfaden für das künftige Handeln sei. So sind nach dem Ende des kommunistischen Regimes viele Menschen in der Sowjetunion der aufrichtigen Überzeugung, das System der Planwirtschaft müsse nun durch ein System der völlig freien Marktwirtschaft und damit auch des Privateigentums abgelöst werden. Aber die Marktwirtschaft war nur dort erfolgreich, wo etabliertes Privateigentum, eine reiche Kultur und alter anerkannter Reichtum vorhanden waren, so daß die Menschen an der Basis der ökonomischen Pyramide nie den zwingenden Eindruck hatten, über ihnen befinde sich bloß eine reiche Schicht von skrupellosen Spekulanten und ellenbogenstarken Händlern. Eben dieser Eindruck verbreitet sich nur allzu leicht, wenn viele Jahrzehnte nach der Vernichtung der traditionellen Gesellschaft durch den Sozialismus der »Kapitalismus«, wie jetzt in Rußland, die Chance erhält, sich in Gestalt individueller Initiative zu entfalten. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß ein System nach westlichem Muster das Ergebnis sein wird. Viel wahrscheinlicher ist, daß ein Staatssozialismus ohne nennenswertes Privateigentum an der Großindustrie, aber mit mehr oder weniger starken Einsprengseln privaten Besitzes und individueller Initiative herauskommen wird, etwa demjenigen entsprechend, was in der Volksrepublik China von der regierenden Partei ins Werk gesetzt wird. So würde hier ein »Dritter Weg« zwischen der totalen Planung eines bürokratischen Sozialismus und der Fessellosigkeit eines Manchesterkapitalismus eingeschlagen, ein dritter Weg, der sich von der anderen Seite her dem längst zur Wirklichkeit gewordenen »Dritten Weg« des europäischen Sozialstaates annähern würde.

 

In dieser Perspektive wird plötzlich ein neuer Blick auf den Nationalsozialismus möglich, der ja doch ebenfalls einen »Dritten Weg« im Auge hatte und ein hohes Maß an ökonomischer Bewegung und Differenziertheit durch die Existenz eines unerschütterlichen und freilich von oben gelenkten Gemeingeistes balancieren wollte. Das Projekt blieb unverwirklicht, weil Hitler glaubte, es könne erst nach der Vernichtung der bolschewistischen Macht und nach der Eroberung von Lebensraum im Osten realisiert werden, aber es ist gleichwohl zulässig, in dieser Perspektive dem Nationalsozialismus nicht nur verzweifelten Widerstand gegen eine übermächtige Weltentwicklung, sondern auch die Antizipation von positiven Möglichkeiten der Zukunft zuzuschreiben.

 

Im Ostteil des durch die Abtrennung seiner Ostprovinzen amputierten Deutschland gelangten nach 1945 durch die Hilfe der sowjetischen Armee die Kommunisten zur Macht, und im Laufe von mehr als vier Jahrzehnten stellten sie wie ihre älteren Genossen in der Sowjetunion unter Beweis, daß sie weltgeschichtlich nicht im Recht gewesen waren. Als 1989/91 auch die früheste der beiden großen Abweichungen vom »Weg der Vernunft« gescheitert war, da eröffnete sich kein Zukunftsidyll und kein »Ende der Geschichte«, denn der Weg der Vernunft ist, um es zu wiederholen, der Weg des Maßes, des Mittelmaßes und oft genug der Mittelmäßigkeit und keineswegs ein Weg der Konfliktlosigkeit, sondern vielmehr ein mühsames Verfahren der ständig neuen Konfliktlösungen und des Austarierens gegensätzlicher Interessen. Aber ihn mit vollem Bewußtsein einzuschlagen ist unumgänglich, und die außerordentlichen Intentionen wie die revolutionäre Herbeiführung der klassen‑ und staatlosen Gesellschaft der ganzen Welt oder die kriegerische Schaffung eines von Deutschland beherrschten europäisch-­afrikanischen Großraums; oder sogar die Vorstellung des allen Juden eine Heimstatt bietenden Groß‑Palästina auf beiden Seiten des Jordan sind gründlich und für immer aufzugeben. Der Weg der Vernunft muß zugleich der sozialdemokratische Weg sein, wenn auch nicht notwendigerweise der Weg der Parteien, die den Namen »sozialdemokratisch« tragen, d. h. der Vorrang der »sozialen Frage« als globaler Aufgabe und die Wünschbarkeit von demokratischen Lösungen müssen anerkannt sein.

 

 

4) Sebastian Haffner: "Anmerkungen zu Hitler", Seite 28 f

In den ersten sechs Jahren seiner zwölfjährigen Herrschaft überraschte Hitler Freund und Feind mit einer Reihe von Leistungen, die ihm vorher fast niemand zugetraut hatte. Es sind diese Leistungen, die damals seine Gegner ‑ 1933 immerhin noch eine Mehrheit der Deutschen ‑ verwirrten und innerlich entwaffneten und die ihm in Teilen der älteren Generation auch heute noch ein gewisses heimliches Renommee verschaffen.

 

Vorher hatte Hitler nur den Ruf eines Demagogen gehabt. Seine Leistungen als Massenredner und Massenhypnotiseur allerdings waren immer unbestreitbar gewesen und machten ihn in den Krisenjahren, die 1930‑1932 ihren Höhepunkt erreichten, zu einem von Jahr zu Jahr ernsthafteren Anwärter auf die Macht. Aber kaum jemand erwartete, daß er sich, an die Macht gelangt, bewähren würde. Regieren, sagte man, ist eben etwas anderes als Reden halten. Auch fiel auf, daß Hitler in seinen Reden, in denen er die Regierenden maßlos beschimpfte, die ganze Macht für sich und seine Partei verlangte und den Unzufriedenen aller Richtungen unbekümmert um Widersprüche zum Munde redete, niemals einen einzigen konkreten Vorschlag machte, was etwa gegen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit ‑ damals die allbeherrschende Sorge - getan werden sollte. Tucholsky sprach für viele, als er schrieb: »Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er verursacht.« Um so größer war der psychologische Rückschlag, als der Mann sich nach 1933 als ein überaus tatkräftiger, einfallsreicher und effizienter Macher erwies.

 

Eins hätte allerdings den Beobachtern und Beurteilern Hitlers auch schon vor 1933 außer seiner Redegewalt auffallen müssen, wenn sie ein wenig besser hingesehen hätten: nämlich sein Organisationstalent, genauer gesagt, seine Fähigkeit, sich leistungsfähige Machtapparate zu schaffen und sie zu beherrschen. Die NSDAP der späten zwanziger Jahre war ganz und gar Hitlers Schöpfung; und sie war als Organisation jeder anderen Partei bereits überlegen, ehe sie, in den frühen dreißigern, Wählermassen hinter sich zu bringen begann. Sie stellte die altberühmte Parteiorganisation der SPD weit in den Schatten; noch mehr als diese in der Kaiserzeit gewesen war, war sie bereits ein Staat im Staate, ein Gegenstaat im kleinen. Und im Gegensatz zu der früh schwerfällig und selbstgenügsam gewordenen SPD besaß Hitlers NSDAP von Anfang an eine unheimliche Dynamik. Sie gehorchte nur einem beherrschenden Willen (Hitlers Fähigkeit, Konkurrenten und Opponenten in der Partei jederzeit fast spielend gleichzuschalten oder auszuschalten, war ebenfalls ein auf Künftiges deutender Zug, der genauen Beobachtern schon in den zwanziger Jahren hätte auffallen können), und sie war in die kleinsten Gliederungen hinunter voller Kampfeifer, eine dampfende und stampfende Wahlkampfmaschine, wie man sie in Deutschland vorher nicht gekannt hatte. Ebenso ließ Hitlers zweite Schöpfung der zwanziger Jahre, seine Bürgerkriegsarmee, die SA, alle anderen politischen Kampfverbände der Zeit ‑ den deutschnationalen Stahlhelm, das sozialdemokratische Reichsbanner, selbst den kommunistischen Roten Frontkämpferbund im Vergleich wie lahme Spießbürgervereine erscheinen. Sie übertraf sie alle bei weitem an Kampfbegierde und Draufgängertum, freilich auch an Brutalität und Mordlust. Sie‑ und sie allein ‑ war wirklich gefürchtet.


 

 

5) Haffner, Seite 33 ff

1. Es ist oft behauptet worden, Hitlers Wirtschaftswunder und sein militärisches Wunder seien im Grunde dasselbe gewesen, die Arbeitsbeschaffung sei ganz oder doch im wesentlichen durch die Aufrüstung erfolgt. Das stimmt nicht. Gewiß schaffte die allgemeine Wehrpflicht einige hunderttausend potentielle Arbeitslose von der Straße, und die Massenproduktion von Panzern, Kanonen und Flugzeugen setzte einige hunderttausend Metallarbeiter in  Lohn und Brot. Aber die große Mehrheit der sechs Millionen Arbeitslosen, die Hitler vorgefunden hatte, fand ihre Wiederbeschäftigung in ganz normalen zivilen Industrien. Göring, der in seinem Leben viel prahlerischen Unsinn schwätzte, hat damals das irreführende Schlagwort in Umlauf gesetzt: »Kanonen statt Butter.« In Wirklichkeit produzierte das Dritte Reich Kanonen und Butter und noch vieles andere mehr.

 

2. Die Aufrüstung hatte auch eine wichtige außenpolitische Seite: Sie bedeutete zugleich die Außerkraftsetzung entscheidender Teile des Versailler Friedensvertrages, also einen politischen Triumph über Frankreich und England, und eine radikale Veränderung der europäischen Machtverhältnisse. Davon soll aber in anderem Zusammenhang, in dem Kapitel »Erfolge«, die Rede sein. Hier, wo wir es mit Hitlers Leistungen zu tun haben, interessiert die Leistung als solche.

 

3. In dieser Leistung steckt aber noch ein ganz persönlicher Beitrag Hitlers, der eine kurze Betrachtung verdient. Wir sagten oben, daß die gewaltige Detailarbeit der Aufrüstung nicht Sache Hitlers war, sondern des Kriegsministeriums und der Generalität. Davon ist eine Ausnahme zu machen. In einer bestimmten Detailfrage, die sich später im Kriegsverlauf als überaus wichtig erweisen sollte, griff Hitler selbst ein und legte die Organisation der neuen Wehrmacht, und damit ihre zukünftige Operationsweise, von sich aus fest: Er fällte, gegen die noch überwiegende Mehrheit der Fachmilitärs, die Entscheidung für die Schaffung integrierter, selbständig operierender Panzerdivisionen und Panzerarmeen. Diese neuartigen Heeresformationen, die 1938 nur die deutsche Armee besaß, erwiesen sich in den ersten beiden Kriegsjahren als feldzugentscheidende Waffe und wurden später von allen anderen Armeen nachgeahmt.

 

Ihre Schaffung ist Hitlers persönliches Verdienst und stellt seine größte Leistung auf militärischem Gebiet dar ‑ eine größere als seine umstrittene Feldherrntätigkeit im Kriege. Ohne Hitler hätte sich die Minderheit der Generalität vertreten vor allem durch Guderian ‑, die die Möglichkeiten einer selbständigen Panzerwaffe erkannt hatte, wahrscheinlich in Deutschland gegen die konservative Mehrheit ebensowenig durchgesetzt wie in England und Frankreich, wo die Panzeradvokaten Fuller und de Gaulle bekanntlich am Widerstand der Traditionalisten scheiterten. Es ist kaum übertrieben, wenn man sagt, daß in diesen für die Öffentlichkeit kaum interessanten, internen militärischen Kontroversen die Feldzüge der Jahre 1939‑1941, insbesondere der Frankreichfeldzug von 1940, vorentschieden wurden. Daß Hitler dabei die richtige Entscheidung fällte, ist ‑ im Gegensatz zu seinen anderen, von ihm selbst stets sofort effektvoll in Szene gesetzten Leistungen ‑ eine verborgene Leistung, die zunächst nichts dazu beitrug, ihn populär zu machen; im Gegenteil, sie machte ihn bei den konservativen Militärs ausgesprochen unpopulär. Aber sie zahlte sich später aus ‑ in seinem militärischen Triumph über Frankreich 1940, der vorübergehend selbst die letzten und standhaftesten seiner deutschen Gegner an sich selbst irre werden ließ.

 

Schon vorher aber, schon 1938, war es Hitler gelungen, die große Mehrheit der Mehrheit, die 1933 noch gegen ihn gestimmt hatte, für sich zu gewinnen, und das war vielleicht die größte Leistung von allen. Es ist eine Leistung, die heute für die überlebenden Älteren beschämend, für die nachgeborenen Jüngeren unverständlich ist. Heut liegt den Älteren das »Wie konnten wir?«, den Jüngeren das »Wie konntet ihr?« leicht auf der Zunge. Damals erforderte es aber ganz außerordentlichen Scharfblick und Tiefblick, in Hitlers Leistungen und Erfolgen schon die verborgenen Wurzeln der künftigen Katastrophe zu erkennen, und ganz außerordentliche Charakterstärke, sich der Wirkung dieser Leistungen und Erfolge zu entziehen. Hitlers bellende und geifernde Reden, die heute, wieder angehört, Ekel und Lachreiz erzeugen, hatten damals oft einen Tatsachenhintergrund, der dem Hörer innerlich die Widerrede verschlug. Es war dieser Tatsachenhintergrund, der wirkte, nicht das Bellen und Geifern. Hier ist ein Auszug aus Hitlers Rede vom 28. April 1939:

 

»Ich habe das Chaos in Deutschland überwunden, die Ordnung wiederhergestellt, die Produktion auf allen Gebieten unserer nationalen Wirtschaft ungeheuer gehoben ... Es ist mir gelungen, die uns allen so zu Herzen gehenden sieben Millionen Erwerbslosen restlos wieder in nützliche Produktionen einzubauen... Ich habe das deutsche Volk nicht nur politisch geeint, sondern auch militärisch aufgerüstet, und ich habe weiter versucht, jenen Vertrag Blatt um Blatt zu beseitigen, der in seinen 448 Artikeln die gemeinste Vergewaltigung enthält, die jemals Völkern und Menschen zugemutet worden ist. Ich habe die uns 1919 geraubten Provinzen dem Reich wieder zurückgegeben, ich habe Millionen von uns weggerissenen, tiefunglücklichen Deutschen wieder in die Heimat geführt, ich habe die tausendjährige historische Einheit des deutschen Lebensraumes wiederhergestellt, und ich habe... mich bemüht, dieses alles zu tun, ohne Blut zu vergießen und ohne meinem Volk oder anderen daher das Leid des Krieges zuzufügen. Ich habe dies ... als ein noch vor 21 Jahren unbekannter Arbeiter und Soldat meines Volkes, aus meiner eigenen Kraft geschaffen ... «

 

Ekelhafte Selbstbeweihräucherung. Lachhafter Stil (»die uns allen so zu Herzen gehenden sieben Millionen Erwerbslosen«). Aber, zum Teufel, es stimmte ja alles ‑ oder fast alles. Wer sich an die paar Dinge klammerte, die vielleicht doch nicht stimmten (das Chaos überwunden ‑ ohne Verfassung? Die Ordnung wiederhergestellt - mit Konzentrationslagern?), kam sich selbst manchmal wie ein kleinlich mängelsuchener Rechthaber vor. Der Rest ‑ was konnte man im April 1939 dagegen vorbringen?

 

 

 

 


6) Haffner, Seite 49 f

Hitlers Erfolgskurve gibt ein ähnliches Rätsel auf wie seine Lebenskurve. Dort, man wird sich erinnern, war es der auffallende Knick zwischen gänzlicher Untätigkeit und Unbekanntheit in den ersten dreißig Jahren und öffentlicher Aktivität größten Maßstabs in den folgenden sechsundzwanzig, was nach Erklärung verlangte. Hier gibt es einen solchen Knick sogar zweimal. Alle Erfolge Hitlers fallen in einen Zeitraum von zwölf Jahren, 1930 bis 1941. Vorher war er, in einer politischen Laufbahn, die immerhin schon zehn Jahre dauerte, durchaus erfolglos gewesen. Sein Putsch war 1923 gescheitert, und seine 1925 neugegründete Partei war bis 1929 eine belanglose Splitterpartei geblieben. Nach 1941 ‑ sogar schon vom Herbst 1941 an - gab es ebenfalls keine Erfolge mehr: Seine militärischen Unternehmungen scheiterten, die Niederlagen häuften sich, die Bundesgenossen fielen ab, die Feindkoalition hielt. Das Ende ist bekannt. Aber von 1930 bis 1941 gelang Hitler innen- und außenpolitisch und schließlich auch militärisch so gut wie alles, was er unternahm, zum Staunen der Weit.

 

Man sehe sich die Chronologie an: 1930 Stimmenzahl bei den Reichstagswahlen verachtfacht; 1932 nochmals verdoppelt; Januar 1933 Hitler Reichskanzler, Juli alle konkurrierenden Parteien aufgelöst; 1934 Hitler auch Reichspräsident und Oberster Befehlshaber der Reichswehr; totale Macht. Innenpolitisch gibt es danach nichts mehr für ihn zu gewinnen; es beginnt die Serie der außenpolitischen Erfolge: 1935 allgemeine Wehrpflicht unter Bruch des Versailler Friedensvertrages ‑ und nichts passiert; 1936 Remilitarisierung des Rheinlands unter Bruch des Locarnovertrages ‑ und nichts passiert; 1938 März Anschluß Österreichs ‑ und nichts passiert; September Anschluß des Sudetengebiets ‑ und dies sogar mit ausdrücklicher Zustimmung Frankreichs und Englands; 1939 März Protektorat über Böhmen und Mähren, Besetzung Memels. Damit ist die Serie der außenpolitischen Erfolge erschöpft, von jetzt an findet Hitler Widerstand; und nun beginnen die kriegerischen Erfolge: September 1939 Polen besiegt; 1940 Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg besetzt, Frankreich besiegt, 1941 Jugoslawien und Griechenland besetzt. Hitler beherrscht den europäischen Kontinent.

 

Alles in allem: Zehn Jahre Mißerfolg; dann zwölf Jahre einer ununterbrochenen, schwindelerregenden Erfolgsserie; dann wieder vier Jahre Mißerfolg, mit der Katastrophe als Schlußpunkt. Und jedesmal dazwischen ein scharfer Knick.

 

Man kann suchen, solange man will, man findet in der Geschichte nichts Vergleichbares. Aufstieg und Fall, ja; Wechsel von Erfolg und Mißerfolg, ja. Aber niemals so scharf voneinander abgesetzt drei Perioden reinen Mißerfolgs, reinen Erfolgs, und dann wieder reinen Mißerfolgs. Niemals erweist sich derselbe Mann erst lange Zeit als scheinbar hoffnungsloser Stümper, dann ebensolange Zeit als scheinbar genialer Könner, und dann wiederum, diesmal nicht nur scheinbar, als hoffnungsloser Stümper. Das will erklärt sein. Und es ist mit den naheliegenden Erfahrungsbeispielen, nach denen man instinktiv zunächst greift, nicht zu erklären.

 

Anmerkung: Auch in diesem Zusammenhang muß nachdrücklich auf die ausländischen Geldgeber Hitlers hingewiesen werden, ohne die er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an die Macht gekommen wäre. Pikantermaßen kamen dreistellige Millionen Reichsmarkbeträge einmal von dem Briten Sir Henry Deterding und zum anderen von der amerikanischen Ostküste einschließlich solcher Leute, denen man es wegen der bekannt antisemitischen Haltung Hitlers nicht zugetraut hätte. Interessant ist auch, daß jene in New York zu lokalisierenden Kreise zuvor - vergeblich - versucht hatten, General a.D. Erich Ludendorff "einzukaufen".

Unerläßlich für das Verständnis der nationalsozialistischen Machtergreifung sind die von der Schulwissenschaft oft zu Unrecht belächelten esoterischen/okkulten Hintergründe, die E. R. Carmin ("Das schwarze Reich - Geheimgesellschaften und Politik im 20. Jahrhundert") vortrefflich zusammengetragen hat (insbesondere S. 31 ff, 101 ff, 168 ff und 427 ff). Wer diese immer wieder totgeschwiegenen Tatsachen zur Kenntnis nimmt, kommt gegenüber der jahrzehntelangen pauschalen Deutschenhetze zu ganz anderen Schuldzuweisungen und Verantwortlichkeiten.

 

 

www.luebeck-kunterbunt.de

 

PS: Wer Lust verspürt, schicke diesen Beitrag an Frau Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave (Kiel) und Herrn Uwe Zabel (Elmshorn) mit der höflichen Bitte, auch das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mit der gebotenen Objektivität, Kritik und Differenziertheit zu betrachten und nicht mit hysterischen Zensurmaßnahmen, denn zwischenzeitlich sind wir (wieder) ein Volk mit voller Souveränität und nicht mehr verpflichtet, alle Geschichtsdarstellungen der Sieger des Zweiten Weltkrieges kommentarlos nachzubeten.