Verschiedenartige Geschichtsauffassung
Heinrich Heine (1832)
Das Buch der Geschichte findet
mannigfaltige Auslegungen. Zwei ganz entgegengesetzte Ansichten treten hier
besonders hervor. ‑ Die einen sehen in allen irdischen Dingen nur einen
trostlosen Kreislauf; im Leben der Völker wie im Leben der Individuen, in diesem,
wie in der organischen Natur überhaupt, sehen sie ein Wachsen, Blühen, Welken
und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. »Es ist nichts Neues unter
der Sonne!« ist ihr Wahlspruch; und selbst dieser ist nichts Neues, da schon
vor zwei Jahrtausenden der König des Morgenlandes ihn hervorgeseufzt. Sie
zucken die Achsel über unsere Zivilisation, die doch endlich wieder der
Barbarei weichen werde; sie schütteln den Kopf über unsere Freiheitskämpfe, die
nur dem Aufkommen neuer Tyrannen förderlich seien; sie lächeln über alle
Bestrebungen eines politischen Enthusiasmus, der die Welt besser und
glücklicher machen will und der doch am Ende erkühle und nichts gefruchtet; ‑
in der kleinen Chronik von Hoffnungen, Nöten, Mißgeschicken, Schmerzen und
Freuden, Irrtümern und Enttäuschungen, womit der einzelne Mensch sein Leben
verbringt, in dieser Menschengeschichte sehen sie auch die Geschichte der
Menschheit. In Deutschland sind die Weltweisen der historischen Schule und die
Poeten aus der Wolfgang Goetheschen Kunstperiode ganz eigentlich dieser Ansicht
zugetan, und letztere pflegen damit einen sentimentalen Indifferentismus
gegen alle politischen Angelegenheiten des Vaterlandes allersüßlichst
zu beschönigen. Eine zur Genüge wohlbekannte Regierung in Norddeutschland weiß
ganz besonders diese Ansicht zu schätzen, sie läßt ordentlich Menschen darauf
reisen, die unter den elegischen Ruinen Italiens die gemütlich
beschwichtigenden Fatalitätsgedanken in sich ausbilden sollen, um nachher in
Gemeinschaft mit vermittelnden Predigern christlicher Unterwürfigkeit durch
kühle Journalaufschläge das dreitägige Freiheitsfieber des Volkes zu dämpfen.
Immerhin, wer nicht durch freie Geisteskraft emporspießen
kann, der mag am Boden ranken; jener Regierung aber wird die Zukunft lehren,
wie weit man kommt mit Ranken und Ränken.
Der oben besprochenen, gar
fatalen fatalistischen Ansicht steht eine lichtere entgegen, die mehr mit der
Idee einer Vorsehung verwandt ist und wonach alle irdischen Dinge einer schönen
Vervollkommenheit entgegenreifen und die großen Helden und Heldenzeiten nur
Staffeln sind zu einem höheren gottähnlichen Zustande des Menschengeschlechtes,
dessen sittliche und politische Kämpfe endlich den heiligsten Frieden, die
reinste Verbrüderung und die ewigste Glückseligkeit zur Folge haben. Das
goldene Zeitalter, heißt es, liege nicht hinter uns, sondern vor uns; wir seien
nicht aus dem Paradiese vertrieben mit einem flammenden Schwerte, sondern wir
müßten es erobern durch ein flammendes Herz, durch die Liebe; die Frucht der
Erkenntnis gebe uns nicht den Tod, sondern das ewige Leben. ‑
»Zivilisation« war lange Zeit der Wahlspruch bei den Jüngern solcher Ansicht.
In Deutschland huldigte ihr vornehmlich die Humanitätsschule. Wie bestimmt die
sogenannte philosophische Schule dahin zielt, ist männiglich
bekannt. Sie war den Untersuchungen politischer Fragen ganz besonders
förderlich, und als höchste Blüte dieser Ansicht predigt man eine idealische Staatsform, die, ganz basiert auf
Vernunftgründen, die Menschheit in letzter Instanz veredeln und beglücken soll.
‑ Ich brauche wohl die begeisterten Kämpen dieser Ansicht nicht zu
nennen. Ihr Hochstreben ist jedenfalls erfreulicher als die kleinen Windungen niedriger
Ranken; wenn wir sie einst bekämpfen, so geschehe es mit dem kostbarsten
Ehrenschwerte, während wir einen rankenden Knecht nur mit der wahlverwandten
Knute abfertigen werden.
Beide Ansichten, wie ich sie angedeutet,
wollen nicht recht mit unseren lebendigsten Lebensgefühlen übereinklingen;
wir wollen auf der einen Seite nicht umsonst begeistert sein und das Höchste
setzen an das unnütz Vergängliche; auf der anderen Seite wollen wir auch, daß
die Gegenwart ihren Wert behalte und daß sie nicht bloß als Mittel gelte und
die Zukunft ihr Zweck sei. Und in der Tat, wir fühlen uns wichtiger gestimmt,
als daß wir uns nur als Mittel zu einem Zwecke betrachten möchten; es will uns
überhaupt bedünken, als seien Zweck und Mittel nur
konventionelle Begriffe, die der Mensch in die Natur und in die Geschichte
hineingegrübelt, von denen aber der Schöpfer nichts wußte, indem jedes Erschaffnis sich selbst bezweckt und jedes Ereignis sich
selbst bedingt und alles, was die Welt selbst, seiner selbst willen da ist und
geschieht. ‑ Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein
Recht. Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod,
gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revolution. Der
elegische Indifferentismus der Historiker und Poeten
soll unsere Energie nicht lähmen bei diesem Geschäfte; und die Schwärmerei der Zukunftbeglücker soll uns nicht verleiten, die Interessen
der Gegenwart und das zunächst zu verfechtende Menschenrecht, das Recht zu
leben, aufs Spiel zu setzen. ‑ Le pain est le droit du peuple, sagt Saint‑Just,
und das ist das größte Wort, das in der ganzen Revolution gesprochen worden.