Geheimdokument
"Die Hauptaufgabe ist der Kampf für die
Vereinigung Deutschlands"
Beschluß der Sowjet‑Führung vom Juni 1953:
"Über die Massnahmen zur Gesundung der
politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik"
Infolge der Durchführung einer
fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik
eine äusserst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden.
Unter den Massen der
Bevölkerung, darunter auch unter den Arbeitern, Bauern und Intelligenz ist eine
ernste Unzufriedenheit zu verzeichnen in bezug auf die politischen und
wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der DDR durchgeführt werden. Das kommt am
deutlichsten in der massenhaften Flucht der Einwohner der DDR nach Westdeutschland
zum Ausdruck. So sind vom Januar 1951 bis April 1953 447 000 Personen nach Westdeutschland geflüchtet, darunter über
120 000 lediglich während der vier Monate des Jahres 1953. Ein bedeutender Teil
der Geflüchteten sind werktätige Elemente . . .
Von den Einheiten der
kasernierten Polizei sind nach Westdeutschland 8000 Mann geflüchtet. Es fällt
auf, dass sich unter den innerhalb der 4 Monate 1953 nach Westdeutschland
Geflüchteten 2718 Mitglieder und Kandidaten der SED und 2610 Mitglieder der FDJ
befinden.
Als Hauptursache der
entstandenen Lage ist zu erkennen, dass gemäss den Beschlüssen der II.
Parteikonferenz der SED, die vom Politbüro des ZK der KPdSU gebilligt wurden,
fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in
Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen
realen sowohl innen- als auch aussenpolitischen Voraussetzungen. Die sozialwirtschaftlichen
Massnahmen ... und zwar die Beschleunigung der Entwicklung der schweren
Industrie, die dabei keine gesicherten Rohstoffquellen hat, die jähe
Einschränkung der Privatinitiative ... und der Entzug der Lebensmittelkarten
für alle Privatunternehmer und Freischaffenden, besonders die übereilte
Schaffung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ohne die dafür
notwendige Grundlage im Dorfe, haben dazu geführt, dass auf dem Gebiet der
Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren und Nahrungsmitteln ernste
Schwierigkeiten entstanden sind, dass der Kurs der Mark stark gefallen ist, dass
eine große Anzahl der kleinen Eigentümer, wie Handwerker, Gewerbetreibende usw.
ruiniert sind und bedeutende Schichten der Bevölkerung gegen die bestehende
Macht eingenommen wurden. Es ist soweit gekommen, dass zur Zeit über 500 000 ha
Land verlassen sind und brachliegen ...
Die politische und
ideologische Arbeit, die von der Führung der SED durchgeführt wird, entspricht
nicht den Aufgaben der Stärkung der DDR. Insbesondere wurden ernste Fehler in
bezug auf die Geistlichen begangen, die in einer Unterschätzung des Einflusses
der Kirche unter den breiten Massen der Bevölkerung, in groben
Administrierungsmassnahmen und Repressalien ihren Ausdruck fanden ...
Zur Verbesserung der
entstandenen Lage ist es notwendig:
1. Unter den heutigen
Bedingungen ist der Kurs ... in der DDR, der von der SED eingeschlagen wurde
und vom Politbüro des ZK der KPdSU (B) in seinem Beschluss vom 8. Juli 1952
gebilligt worden war, als nicht richtig zu betrachten.
2. Zur Gesundung der
politischen Lage in der DDR und zur Stärkung unserer Positionen sowohl in
Deutschland selbst, als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen
Ebene ... ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung
folgender Maßnahmen zu empfehlen:
a) die künstliche Ausbreitung
der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sich in der Praxis
nicht bewährt haben ... ist einzustellen.
... diejenigen, die auf einer
unfreiwilligen Basis geschaffen worden sind oder die sich als lebensunfähig
erwiesen haben, sind aufzulösen. Es ist im Auge zu behalten, dass unter den
heutigen Bedingungen in der DDR nur eine einfache Form der
Produktionsgenossenschaften der Bauern, wie die Genossenschaften zur
gemeinsamen Bodenbearbeitung, ohne dass die Produktionsmittel
vergesellschaftlicht werden, mehr oder weniger lebensfähig sein kann ...
b) die bestehenden Maschinen-Ausleihstationen
sind zu stärken, neue MAS nach Möglichkeit zu schaffen als der wichtigste Hebel
der Einwirkung im Dorfe und als Hauptmittel der Hilfeleistung an die werktätigen
Bauern ...
c) die Politik der
Einschränkungen und Verdrängung des mittleren und kleinen Privatkapitals ist
als eine vorzeitige Maßnahme aufzugeben. Zu Belebung des wirtschaftlichen
Lebens der Republik ist es notwendig, eine breite Heranziehung des
Privatkapitals in verschiedenen Zweigen der kleinen und Gewerbeindustrie, in
der Landwirtschaft, sowie auch auf dem Gebiet des Handels für zweckmässig zu
halten, ohne dabei seine Konzentrierung in grossem Ausmass zu halten.
Bei der Verteilung der materiellen
Resourcen ist die Zuteilung von Rohstoffen, Heizmitteln, Elektroenergie und die
Bereitstellung von Krediten an die Privatunternehmer vorzusehen. Das
existierende System der Besteuerung der Privatunternehmer, das praktisch den
Drang zur Beteiligung an dem Wirtschaftsleben tötet, ist . . . zu revidieren.
d) Der Fünfjahrplan der
Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR ist zu revidieren in der Richtung einer
Lockerung des übergespannten Tempos der Entwicklung der Schwerindustrie und
einer schroffen Vergrösserung der Produktion der Massenbedarfswaren und der
vollen Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, damit es
schon in der nächsten Zeit möglich ist, das Kartensystem der Versorgung mit
Lebensmitteln zu liquidieren.
e) Notwendige Massnahmen zur
Gesundung des Finanzsystems ... sowie zur Stärkung und Hebung des Kurses der
Mark der DDR sind durchzuführen.
f) Massnahmen zur Stärkung der
Gesetzlichkeit und Gewährung der Bürgerrechte sind zu treffen, von harten Strafmassnahmen,
die durch keine Notwendigkeit hervorgerufen wird, ist abzusehen. Die
Angelegenheit der Repressalien unterworfenen Bürger ist zwecks Befreiung der
ohne genügende Gründe zur Verantwortung gezogenen Personen zu überprüfen ...
sind entsprechende Änderungen in der ... Strafgesetzgebung vorzunehmen,
g) Die breite Entfaltung der
politischen Arbeit unter allen Volksschichten bei entscheidender Ausrottung der
Elemente des nackten Administrierens ist als eine der wichtigsten Aufgaben der
SED zu betrachten. Es ist eine solche Lage zu erreichen, dass die
Regierungsmassnahmen vom Volk verstanden werden und ... Unterstützung finden.
Besondere Aufmerksamkeit ist
der politischen Arbeit unter der Intelligenz zu widmen, um zu gewähren, dass
die Hauptmasse der Intelligenz sich der aktiven Teilnahme ... zur Stärkung der
bestehenden Ordnung zuwendet.
Gegenwärtig und in der nächsten Zukunft muss im Mittelpunkt der Massen
des deutschen Volkes sowohl in der DDR, als auch in Westdeutschland die Aufgabe
des politischen Kampfes für die Wiederherstellung der nationalen Einheit
Deutschlands und für den Abschluss eines Friedensvertrages gestellt werden.
Die bisher durchgeführte
Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus ist als
unrichtig zu betrachten, da sie die ... SED zu unzulässig vereinfachten und
hastigen Schritten sowohl auf dem politischen als auch auf dem wirtschaftlichen
Gebiet treibt.
Dabei ist die bedeutende
Stärkung der Rolle des Blocks der demokratischen Parteien und Massenorganisationen
sowie der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands ... als notwendig zu
betrachten.
h) Mit dem nackten
Administrieren in bezug auf die Geistlichen ist Schluss zu machen und die
schädliche Praxis der groben Einmischung der Behörden in die Angelegenheiten
der Kirche einzustellen. Alle Massnahmen, die die unmittelbaren Interessen der
Kirche und der Geistlichkeit einengen, sind aufzuheben und zwar: die
Beschlagnahme der karitativen Kirchenanstalten (Alters- und Waisenheime),
Abnahme brachliegender kirchlicher Bodenflächen durch lokale Behörden,
Entziehung der für die Kirche festgelegten Subventionen usw.
Es ist im Auge zu behalten,
dass Repressalien gegenüber der Kirche und den Geistlichen nur dazubeitragen
können, den religiösen Fanatismus der rückständigen Schichten der Bevölkerung
zu stärken und ihre Unzufriedenheit zu vergrössern. Darum muss das
Hauptkampfmittel gegen den religiösen Einfluss der Kirche unter Geistlichen
eine sorgfältig durchdachte Aufklärungs‑ und Kulturarbeit sein. Als
Grundform der antireligiösen Propaganda ist die weitere Verbreitung
wissenschaftlicher und politischer Kenntnisse unter der Bevölkerung zu
erkennen.
3. Die Gewährung
wirtschaftlicher Hilfe an die DDR seitens der UdSSR insbesondere auf dem Gebiet
der Lebensmittelversorgung ist als notwendig zu erkennen.
4. Der Hohe Kommissar der
UdSSR in Deutschland Genosse Semjonow und der Befehlshaber der sowjetischen
Besatzungstruppen Genosse Gretschko sind verpflichtet die bestehenden Mängel in
der Ausübung des Besatzungsregime durch sowjetische Truppen zu beseitigen. Es
sind Massnahmen zu treffen, die gewährleisten, daß der Aufenthalt der
sowjetischen Besatzungstruppen möglichst wenig die unmittelbaren Interessen der
Zivilbevölkerung beeinträchtigt, insbesonders sind alle durch sowjetische
Truppen besetzte Räume den Bildungsanstalten, Krankenhäusern und Kulturstätten
freizumachen.
5. Vom Standpunkt ausgehend,
dass die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR eine der wichtigsten
Faktoren nicht nur in der Lösung der allgemeinen Deutschlandfrage, sondern auch
in der friedlichen Regelung der internationalen Grundprobleme ist, sind in
Zukunft bei der Bestimmung der gesamten politischen Linie ... streng die realen
Bedingungen der DDR, wie auch die Lage in ganz Deutschland und die
internationale Lage zu berücksichtigen.
6. Da zur Zeit die Hauptaufgabe der Kampf für die Vereinigung Deutschlands
auf demokratischer und friedlicher Grundlage ist, müssen die SED und die
KPD, als Bannerträger im Kampf für die nationalen Bestrebungen ... die
Durchführung einer elastischen auf maximale Spaltung der Kräfte ihres Gegners
und Ausnutzung jeglicher oppositioneller Strömung gegen die käufliche Clique
Adenauers gerichtete Taktik gewährleisten. Da die Sozialdemokratische Partei
Westdeutschlands, der noch bisher bedeutende Massen der Werktätigen folgen,
gegen die Bonner Verträge wenn auch ungenügend konsequent, auftritt, ist
deshalb die allgemein feindliche Position gegenüber dieser Partei für die
heutige Periode zu verwerfen und es ist zu versuchen, wo und wenn es möglich
ist, gemeinsame Aktionen gegen die Adenauersche Politik der Spaltung und der
imperialistischen Knechtung Deutschlands zu organisieren.
Anmerkung: Aus heutiger Sicht (2004) muß der oben wiedergegebene
Beschluß der Sowjet-Führung als ausgesprochen vernünftig angesehen werden. Die
"käufliche Politik" des Rotariers Adenauer, die gegen die wahren
Interessen des gesamten Deutschen Volkes gerichtet war, wurde schon deutlich in
der Charakterisierung als "Kanzler der Alliierten" durch den
damaligen SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher im Deutschen Bundestag.