Mahatma Gandhi
Die deutschen Vorstellungen
von Indien sind noch immer ziemlich vage. Der Durchschnitt sieht darin nur ein
buntes Fabelland, wo Götter und Bajaderen noch heute gesellig verkehren. Die
Gebildeten sagen auch gelegentlich «Nirwana» und halten das für ein besonders
raffiniertes Rauschgift, die feinern Erotiker haben das Kamasutram auf dem
Nachttisch liegen.
Aber Indien ist heute ein
Land, das sich in gewaltiger sozialer Gärung befindet und aus tausend und einer
verträumten Nacht in das unbarmherzige Taglicht moderner Emanzipationskämpfe
tritt. Und sein großer Führer ist Mahatma Gandhi, ein Umgestalter und Umwälzer
vom Range Lenins und Sunyatsens, aber einer, der nicht der blutigen Revolte
vertraut sondern der Kraft des Gedankens.
Gandhi ist kein politischer
Mensch im europäischen Sinne. Er ist mehr. Er ist die geheime Gewalt, die ohne
Amt und Partei doch alle beherrscht. Er ist Verteidiger des Alten und Führer
ins Unbekannte, Weisheitslehrer und Elementarschulmeister zugleich, Denker und
Praktiker, Träumer und Organisator von amerikanischem Format. In allem aber
beispielhaft, ob er für sanitäre Reformen eintritt oder das uralte Vorurteil
gegen die Parias bekämpft oder schweigend in das Gefängnis der Engländer geht.
Der Weg aus dem Mittelalter in
die Neuzeit ist für alle Völker blutig und dornig gewesen. Indien ist glücklich
zu schätzen. daß ihm sein neues Gesetz nicht von einem Diktator auferlegt wird,
nicht in dem unerbittlichen Kommando eines asiatischen Napoleon dröhnt sondern
von der sanften Stimme Mahatma Gandhis verkündet wird.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 8. Oktober 1929