Friedrich Engels
Über die Lage der arbeitenden Klasse in England
So eine Stadt wie London, wo
man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen,
ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes
schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Zentralisation, diese
Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf einem Punkt hat die Kraft dieser
dritthalb Millionen verhundertfacht; sie hat London zur kommerziellen
Hauptstadt der Welt erhoben, die riesenhaften Docks geschaffen und die Tausende
von Schiffen versammelt, die stets die Themse bedecken. Ich kenne nichts
Imposanteres als den Anblick, den die Themse darbietet, wenn man von der See
nach London‑Bridge hinauffährt. Die Häusermassen, die Werfte auf beiden
Seiten, besonders von Woolwich aufwärts, die zahllosen Schiffe an beiden Ufern
entlang, die sich immer dichter und dichter zusammenschließen und zuletzt nur
einen schmalen Weg in der Mitte des Flusses freilassen, einen Weg, auf dem
hundert Dampfschiffe aneinander vorüberschießen ‑ das alles ist so
großartig, so massenhaft, daß man gar nicht zur Besinnung kommt und daß man vor
der Größe Englands staunt, noch ehe man englischen Boden betritt.
Aber die Opfer, die alles das
gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf
dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben, sich mit Mühe und Not durch das
Menschengewühl, die endlosen Reihen von Wagen und Karren durchgeschlagen, wenn
man die »schlechten Viertel« der Weltstadt besucht hat, dann merkt man erst,
daß diese Londoner das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle
die Wunder der Zivilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt.
Jede große Stadt hat ein oder
mehrere »schlechte Viertel«, in denen sich die arbeitende Klasse
zusammendrängt. Oft freilich wohnt die Armut in versteckten Gäßchen dicht neben
den Palästen der Reichen; aber im allgemeinen hat man ihr ein apartes Gebiet
angewiesen, wo sie, aus den Augen der glücklicheren Klassen verbannt, sich mit
sich selbst durchschlagen mag, so gut es geht. Diese schlechten Viertel sind in
England in allen Städten ziemlich egal eingerichtet ‑ die schlechtesten
Häuser in der schlechtesten Gegend der Stadt; meist zweistöckige Ziegelgebäude
in langen Reihen, möglicherweise mit bewohnten Kellerräumen, und fast überall
unregelmäßig angelegt. Diese Häuschen von drei bis vier Zimmern und einer Küche
werden Cottages genannt und sind in ganz England ‑ einige Teile von
London ausgenommen ‑ die allgemeinen Wohnungen der arbeitenden Klasse.
Die Straßen selbst sind gewöhnlich ungepflastert, höckerig, schmutzig, voll
vegetabilischen und animalischen Abfalls, ohne Abzugskanäle oder Rinnsteine,
dafür aber mit stehenden, stinkenden Pfützen versehn. Dazu wird die Ventilation
durch die schlechte, verworrene Bauart des ganzen Stadtviertels erschwert, und
da hier viele Menschen auf einem kleinen Raume leben, so kann man sich leicht
vorstellen, welche Luft in diesen Arbeiterbezirken herrscht. Die Straßen dienen
überdies bei schönem Wetter als Trockenplatz; es werden von Haus zu Haus Leinen
quer herüber gespannt und mit nasser Wäsche behangen.
Nehmen wir einige dieser
schlechten Viertel durch. Da ist zuerst London,
und in London die berühmte »Rahenheckerei« (rookery), St. Giles, die jetzt endlich durch ein paar breite
Straßen durchbrochen und so vernichtet werden soll. Dies St. Giles liegt mitten
im bevölkerten Teile der Stadt, umgeben von glänzenden, breiten Straßen, in
denen die schöne Welt Londons sich herumtreibt ‑ ganz in der Nähe von
Oxford Street und Regent Street, von Trafalgar Square und dem Strand. Es ist
eine unordentliche Masse von hohen, drei- bis vierstöckigen Häusern, mit engen,
krummen und schmutzigen Straßen, auf denen wenigstens ebensoviel Leben ist wie
auf den Hauptrouten durch die Stadt, nur daß man in St. Giles bloß Leute aus der
arbeitenden Klasse sieht. Auf den Straßen wird Markt gehalten, Körbe mit Gemüse
und Obst, natürlich alles schlecht und kaum genießbar, verengen die Passage
noch mehr, und von ihnen, wie von den Fleischerläden, geht ein abscheulicher
Geruch aus. Die Häuser sind bewohnt vom Keller bis hart unters Dach, schmutzig
von außen und innen, und sehn aus, daß kein Mensch drin wohnen möchte. Das ist
aber noch alles nichts gegen die Wohnungen in den engen Höfen und Gäßchen
zwischen den Straßen, in die man durch bedeckte Gänge zwischen den Häusern
hineingeht und in denen der Schmutz und die Baufälligkeit alle Vorstellung
übertrifft ‑ fast keine ganze Fensterscheibe ist zu sehn, die Mauern
bröcklig, die Türpfosten und Fensterrahmen zerbrochen und lose, die Türen von
alten Brettern zusammengenagelt oder gar nicht vorhanden hier in diesem
Diebsviertel sogar sind keine Türen nötig, weil nichts zu stehlen ist. Haufen
von Schmutz und Asche liegen überall umher, und die vor die Tür geschütteten
schmutzigen Flüssigkeiten sammeln sich in stinkenden Pfützen. Hier wohnen die
Ärmsten der Armen, die am schlechtesten bezahlten Arbeiter mit Dieben, Gaunern
und Opfern der Prostitution bunt durcheinander ‑ die meisten sind
Irländer oder Abkömmlinge von Irländern, und diejenigen, die selbst noch nicht
in dem Strudel moralischer Verkommenheit, der sie umgibt, untergegangen sind,
sinken doch täglich tiefer, verlieren täglich mehr und mehr die Kraft, den
demoralisierenden Einflüssen der Not, des Schmutzes und der schlechten Umgebung
zu widerstehn.
Aber St. Giles ist nicht das
einzige »schlechte Viertel« Londons. In dem ungeheuren Straßenknäuel gibt es
Hunderte und Tausende verborgener Gassen und Gäßchen, deren Häuser zu schlecht
sind für alle, die noch etwas auf menschliche Wohnung verwenden können ‑
oft dicht neben den glänzenden Häusern der Reichen findet man solche
Schlupfwinkel der bittersten Armut. So wurde vor kurzem, bei Gelegenheit einer
Totenschau, eine Gegend dicht bei Portman Square, einem sehr anständigen
öffentlichen Platze, als der Aufenthalt »einer Menge durch Schmutz und Armut
demoralisierter Irländer« bezeichnet. So findet man in Straßen wie Long‑Acre
usw., die zwar nicht fashionabel, aber doch anständig sind, eine Menge
Kellerwohnungen, aus denen kränkliche Kindergestalten und halbverhungerte,
zerlumpte Frauen ans Tageslicht steigen. In der unmittelbaren Nähe des Drury‑Lane‑Theaters
‑ des zweiten von London ‑ sind einige der schlechtesten Straßen
der ganzen Stadt ‑ Charles‑,
King‑ und Parker‑Street, deren Häuser ebenfalls von den Kellern an bis
unter Dach von lauter armen Familien bewohnt sind. In den Pfarreien St. John und St. Margaret in Westminster wohnten ‑1840 nach dem Journal der
statistischen Gesellschaft 5.366 Arbeiterfamilien in 5.294 »Wohnungen« ‑ wenn sie diesen Namen verdienen ‑,
Männer, Weiber und Kinder, ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht
zusammengeworfen, zusammen 26.830 Individuen,
und von der obigen Familienzahl hatten drei Viertel nur ein einziges Zimmer. In
der aristokratischen Pfarrei St. Georg, Hanover‑Square,
wohnten nach derselben Autorität 1.465 Arbeiterfamilien, zusammen an 6.000
Personen, in gleichen Verhältnissen ‑ auch hier über zwei Drittel der
ganzen Anzahl auf je ein Zimmer für die Familie zusammengedrängt. Und wie wird
die Armut dieser Unglücklichen, bei denen selbst Diebe nichts mehr zu finden
hoffen, von den besitzenden Klassen auf gesetzlichem Wege ausgebeutet!
Der größte Arbeiterbezirk
liegt indes östlich vom Tower ‑ in Whitechapel
und Bethnal‑Green, wo die
Hauptmasse der Arbeiter Londons konzentriert ist. Hören wir, was Hr. G. Alston, der Prediger von St. Philip's,
Bethnal‑Green, über den Zustand seiner Pfarrei sagt: »Sie enthält 1.400 Häuser,
die von 2.795 Familien oder ungefähr 12.000
Personen bewohnt werden. Der Raum, auf dem diese große Bevölkerung wohnt, ist
weniger als 400 Yards (1.200 Fuß) im Quadrat, und bei solch einer
Zusammendrängung ist es nichts Ungewöhnliches, daß ein Mann, seine Frau, vier
bis fünf Kinder und zuweilen noch Großvater und Großmutter in einem einzigen
Zimmer von zehn bis zwölf Fug im Quadrat gefunden werden, worin sie arbeiten,
essen und schlafen. Ich glaube, daß, ehe der Bischof von London die öffentliche
Aufmerksamkeit auf diese so höchst arme Pfarrei hinlenkte, man da am Westende
der Stadt ebensowenig von ihr wußte, wie von den Wilden Australiens oder der
Südsee‑Inseln. Und wenn wir uns einmal mit den Leiden dieser
Unglücklichen durch eigne Anschauung bekannt machen, wenn wir sie bei ihrem
kargen Mahle belauschen und sie von Krankheit oder Arbeitslosigkeit gebeugt
sehn, so werden wir eine solche Masse von Hilflosigkeit und Elend finden, daß
eine Nation wie die unsrige über die Möglichkeit derselben sich zu schämen hat.
Ich war Pfarrer bei Huddersfield während der drei Jahre, in denen die Fabriken
am schlechtesten gingen; aber ich habe nie eine so gänzliche Hilflosigkeit der
Armen gesehn wie seitdem in Bethnal‑Green. Nicht ein Familienvater aus
zehn in der ganzen Nachbarschaft hat andere Kleider als sein Arbeitszeug, und
das ist noch so schlecht und zerlumpt wie möglich; ja viele haben außer diesen
Lumpen keine andere Decke während der Nacht und als Bette nichts als einen Sack
mit Stroh und Hobelspänen.«
Wir sehn schon aus der obigen
Beschreibung, wie es in diesen Wohnungen selbst auszusehn pflegt.
Zum Überfluß wollen wir den
englischen Behörden, die zuweilen dahin geraten, noch in einige
Proletarierwohnungen folgen.
Montag, den 15. Januar 1844,
wurden zwei Knaben vor das Polizeigericht von Worship‑Street, London,
gebracht, weil sie aus Hunger einen halbgekochten Kuhfuß von einem Laden
gestohlen und sogleich verzehrt hatten. Der Polizeirichter sah sich veranlaßt,
weiter nachzuforschen, und erhielt von den Polizeidienern bald folgende
Aufklärung: Die Mutter dieser Knaben war die Witwe eines alten Soldaten und
späteren Polizeidieners, der es seit dem Tode ihres Mannes mit ihren neun
Kindern sehr schlecht ergangen war. Sie wohnte Nr. 2, Pool's Place, Quaker‑Street,
Spitalfields, im größten Elende. Als der Polizeidiener zu ihr kam, fand er sie
mit sechs ihrer Kinder in einem kleinen Hinterstübchen buchstäblich
zusammengedrängt, ohne Möbel, ausgenommen zwei alte Binsenstühle ohne Boden,
einen kleinen Tisch mit zwei zerbrochenen Beinen, eine zerbrochene Tasse und
eine kleine Schüssel. Auf dem Herde kaum ein Funken Feuer und in der Ecke
soviel alte Lumpen, als eine Frau in ihre Schürze nehmen konnte, die aber der
ganzen Familie zum Bette dienten. Zur Decke hatten sie nichts als ihre ärmliche
Kleidung. Die arme Frau erzählte ihm, daß sie voriges Jahr ihr Bett habe verkaufen
müssen, um Nahrung zu erhalten; ihre Bettücher habe sie dem Viktualienhändler
als Unterpfand für einige Lebensmittel dagelassen, und sie habe überhaupt alles
verkaufen müssen, um nur Brot zu bekommen. ‑ Der Polizeirichter gab der
Frau einen beträchtlichen Vorschuß aus der Armenbüchse.
Im Februar 1844 wurde eine
Witwe von sechzig Jahren, Theresa Bishop, mit ihrer sechsundzwanzigjährigen
kranken Tochter der Wohltätigkeit des Polizeirichters von Marlborough‑Street
empfohlen. Sie wohnte in Nr. 5, Brown‑Street, Grosvenor-Square, in einem
kleinen Hinterzimmer, nicht größer als ein Schrank, worin nicht ein einziges
Stück Möbel war. In einer Ecke lagen einige Lumpen, auf denen die beiden
schliefen; eine Kiste diente als Tisch und Stuhl zugleich. Die Mutter verdiente
etwas durch Stubenreinigen; sie hatten, wie der Wirt sagte, seit Mai 1843 in
diesem Zustande gelebt, allmählich alles verkauft oder versetzt, was sie noch
hatten, und dennoch nie die Miete bezahlt. ‑ Der Polizeirichter ließ
ihnen ein Pfund aus der Armenbüchse zukommen.
Es fällt mir nicht ein, zu
behaupten, alle Londoner Arbeiter lebten in einem solchen Elend wie die obigen
drei Familien; ich weiß wohl, daß zehn es besser haben, wo einer so ganz und
gar von der Gesellschaft mit Füßen getreten wird ‑ aber ich behaupte, daß
Tausende von fleißigen und braven Familien, viel braver, viel ehrenwerter als
sämtliche Reichen von London, in dieser eines Menschen unwürdigen Lage sich
befinden und daß jeder Proletarier, jeder ohne Ausnahme, ohne seine Schuld und
trotz allen seinen Anstrengungen vom gleichen Schicksal betroffen werden kann.
Die Kleidung der Arbeiter ist
bei der ungeheuren Majorität in sehr schlechtem Zustande. Schon die Stoffe, die
dazu genommen werden, sind nicht die geeignetsten; Leinen und Wolle sind aus
der Garderobe beider Geschlechter fast verschwunden, und an ihre Stelle ist
Baumwolle getreten. Die Hemden sind von gebleichtem oder buntem Kattun, ebenso
die Kleider der Frauenzimmer meist gedruckter Kattun, wollene Unterröcke sieht
man ebenfalls selten auf den Waschleinen. Die Männer haben meist Beinkleider
von Baumwollensamt oder andern schweren baumwollnen Stoffen und Röcke oder
Jacken von demselben Zeuge. Der Baumwollensamt (fustian) ist sogar sprichwörtlich die Tracht der Arbeiter geworden
‑ fustian‑jackets, so werden
die Arbeiter genannt und nennen sich selbst so im Gegensatz zu den Herren in
wollenem Tuch (broad-cloth), welches
letztere ebenfalls als Bezeichnung für die Mittelklasse gebraucht wird. Als
Feargus O'Connor, der Chartistenchef, während der Insurrektion von 1842 nach
Manchester kam, erschien er unter dem rasendsten Beifall der Arbeiter in einem
baumwollensamtnen Anzuge. Hüte sind in England die allgemeine Tracht auch der
Arbeiter, Hüte der verschiedensten Formen, runde, kegelförmige oder
zylindrische, breitrandig, schmalrandig oder randlos ‑ nur jüngere Leute
tragen in den Fabrikstädten Mützen. Wer keinen Hut hat, faltet sich von Papier
eine niedrige, viereckige Kappe. ‑ Die ganze Bekleidung der Arbeiter ‑
auch vorausgesetzt, daß sie in gutem Zustande ist ‑ ist wenig in Einklang
mit dem Klima. Die feuchte Luft Englands, die mit ihren schnellen
Witterungswechseln mehr als jede andre Erkältungen hervorruft, nötigt fast die
ganze Mittelklasse, Flanell auf der bloßen Haut des Oberkörpers zu tragen;
flanellne Halsbinden, Jacken und Leibbinden sind fast allgemein im Gebrauch.
Die arbeitende Klasse entbehrt nicht nur dieser Vorsorge, sondern ist auch fast
nie imstande, überhaupt einen Faden Wolle zur Kleidung zu verwenden. Die
schweren Baumwollenzeuge aber, obwohl dicker, steifer und schwerer als wollenes
Tuch, halten dennoch Kälte und Nässe viel weniger ab als dieses, bleiben wegen
ihrer Dicke und wegen der Natur des Materials länger feucht und haben überhaupt
nicht die Dichtigkeit des gewalkten Wollentuchs. Und wenn der Arbeiter sich
einmal einen wollenen Rock für den Sonntag anschaffen kann, so muß er in einen
der »billigen Läden« gehen, wo er schlechtes, sogenanntes »devil's dust«‑Tuch bekommt, das »nur aufs Verkaufen, nicht
aufs Tragen« gemacht ist, und nach vierzehn Tagen reißt oder fadenscheinig wird
‑ oder er muß sich beim Trödler einen halbverschlissenen alten Rock
kaufen, dessen beste Zeit vorüber ist und der ihm nur für wenige Wochen gute
Dienste leistet. Dazu kommt aber noch bei den meisten der schlechte Zustand
ihrer Garderobe und von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit, die besseren
Kleidungsstücke ins Pfandhaus zu tragen. Bei einer sehr, sehr großen Anzahl
aber, besonders denen irischen Bluts, sind die Kleider wahre Lumpen, die oft
gar nicht mehr flickfähig sind oder bei denen man vor lauter Flicken die
ursprüngliche Farbe gar nicht mehr erkennt. Die Engländer oder die Anglo‑Iren
flicken doch noch und haben es in dieser Kunst merkwürdig weit gebracht - Wolle
oder Sackleinen auf Baumwollensamt oder umgekehrt, das macht ihnen gar nichts
aus ‑ aber die echten, eingewanderten Irländer flicken fast nie, nur im
höchsten Notfalle, wenn das Kleid sonst in zwei Stücke reißt; gewöhnlich hangen
die Lumpen des Hemdes durch die Risse des Rocks oder der Hosen heraus; sie
tragen, wie Thomas Carlyle sagt, »einen Anzug von Fetzen, die aus‑ und
anzuziehen eine der schwierigsten Operationen ist, und nur an Festtagen und zu
besonders günstigen Zeiten vorgenommen wird«. Die Irländer haben auch das
früher in England unbekannte Barfußgehen mit herübergebracht. Jetzt sieht man
in allen Fabrikstädten eine Menge Leute, namentlich Kinder und Weiber, barfuß
umhergehen, und dies findet allmählich auch bei den ärmern Engländern Eingang.
Wie mit der Kleidung, so mit
der Nahrung. Die Arbeiter bekommen das, was der besitzenden Klasse zu schlecht
ist. In den großen Städten Englands kann man alles aufs beste haben, aber es
kostet teures Geld; der Arbeiter, der mit seinen paar Groschen haushalten muß,
kann soviel nicht anlegen. Dazu bekommt er seinen Lohn meist erst Samstag
abends ausgezahlt ‑ man hat angefangen, schon Freitag zu bezahlen, aber
diese sehr gute Einrichtung ist noch lange nicht allgemein ‑, und so
kommt er Samstag abends um vier, fünf oder sieben Uhr erst auf den Markt, von
dem während des Vormittags schon die Mittelklasse sich das Beste ausgesucht
hat. Des Morgens strotzt der Markt von den besten Sachen, aber wenn die
Arbeiter kommen, ist das Beste fort, und wenn es auch noch da wäre, so würden
sie es wahrscheinlich nicht kaufen können. Die Kartoffeln, die der Arbeiter
kauft, sind meist schlecht, die Gemüse verwelkt, der Käse alt und von geringer
Qualität, der Speck ranzig, das Fleisch mager, alt, zäh, von alten, oft kranken
oder verreckten Tieren ‑ oft schon halb faul. Die Verkäufer sind meistens
kleine Höker, die schlechtes Zeug zusammenkaufen und es eben wegen seiner
Schlechtigkeit so billig wieder verkaufen können. Die ärmsten Arbeiter müssen
noch einen andern Kunstgriff gebrauchen, um mit ihrem wenigen Gelde selbst bei
der schlechtesten Qualität der einzukaufenden Artikel auszukommen. Da nämlich
um zwölf Uhr am Sonnabendabend alle Läden geschlossen werden müssen und am
Sonntag nichts verkauft werden darf, so werden zwischen zehn und zwölf Uhr
diejenigen Waren, die bis zum Montagmorgen verderben würden, zu Spottpreisen
losgeschlagen. Was aber um zehn Uhr noch liegen geblieben ist, davon sind neun
Zehntel am Sonntagmorgen nicht mehr genießbar, und gerade diese Waren bilden
den Sonntagstisch der ärmsten Klasse. Das Fleisch, das die Arbeiter bekommen,
ist sehr häufig ungenießbar weil sie's aber einmal gekauft haben, so müssen sie
es essen. Aber sie werden auch auf noch andere Weise von der Geldgier der
Mittelklasse geprellt. Die Krämer und Fabrikanten verfälschen alle
Nahrungsmittel auf eine unverantwortliche Weise und mit der größten
Rücksichtslosigkeit gegen die Gesundheit derer, die sie verzehren sollen.
Daß eine Klasse, welche in den
geschilderten Verhältnissen lebt und so schlecht mit den allernotwendigsten
Lebensbedürfnissen versehn ist, nicht gesund sein und kein hohes Alter erreichen
kann, versteht sich von vornherein von selbst.
Wenn ein einzelner einem
andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten
den Tod zuzieht, so nennen wir das Totschlag; wenn der Täter im voraus wußte,
daß der Schaden tödlich sein würde, so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn
aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt,
daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode,
der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie
Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt,
in welchen sie nicht leben können; wenn
sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu
bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn
sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer
fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt ‑ so ist das
ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord,
ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint,
weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder
ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er
weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt
Mord.
Anmerkung: Friedrich Engels wurde am 28.11.1820 in Barmen geboren und
lernte als Sohn eines Spinnereibesitzers das Elend der Arbeiterklasse und
übrigen sozialen Unterschicht in England hautnah kennen. Seit 1844 arbeitete er
in enger Freundschaft mit Karl Marx zusammen. In London verfaßten beide
gemeinsam 1847 das "Kommunistische Manifest".