Französische Revolution
Wie es kam
Im Frühjahr 1789 befand sich
Frankreich in einem Zustand letzter Erschöpfung. Es litt unter der unbezahlten
Schuldenlast eines Jahrhunderts. Ein reiches Land war durch schlechte Regierung
so weit heruntergewirtschaftet worden, daß die Staatseinnahmen ein jährliches
Defizit von 140 Millionen aufwiesen, während die Anleihen auf 1646 Millionen
angewachsen waren. Ungeheure Zahlen in einer Zeit, die noch keine
amerikanischen Riesenvermögen kannte. Die Hilfsmittel waren erschöpft, aus dem
verelendeten Volke ließ sich nichts mehr herauspressen. Hungersnot brach alle
paar Jahre ein. Was geschehen sollte, wußte niemand. Aber einig war man sich
darin, daß man die Alleinherrschaft des Königtums brechen wollte. Man wollte es
nicht stürzen, aber es nach englischem Muster durch eine Verfassung
beschränken.
Das achtzehnte Jahrhundert
hatte nur einen geringen Einblick in wirtschaftliche Zusammenhänge. Der
Engländer Adam Smith war der Erste gewesen, der über Wohlstand und Armut der
Nationen eine einleuchtende Theorie entwickelt hatte. Die französischen
Machthaber behandelten die Finanzmisere stümperhaft. Mit irrsinnigen Steuern
zerstörten sie, was der arbeitsame Teil der Nation geschaffen. Als man nicht
mehr weiter wußte, verpachtete man die Staatseinnahmen an private Spekulanten,
die sogenannten Finanzpächter, die verhaßtesten Blutegel des Landes. Über
diesem allmählich verfaulenden und verhungernden Staat aber thronte das
absolute Königtum, unberührt von der Wahrheit lebte es in Luxus dahin, umgeben
von einer bevorrechteten Klasse von Adeligen, die, obgleich alleinige
Landbesitzerin, doch lange überschuldet und ruiniert war. Der Adel lebte seit
Jahrzehnten nur noch von königlichen Almosen, sogenannten Pensionen, die der
König bewilligte, Gnadenerweise in Geld, für die kein Anlaß vorhanden war.
Namen und Summen der vornehmen Empfänger wurden in das berüchtigte Rote Buch
eingetragen. Man fand es später. Der Bürger, in dessen Hand die
Gewerbetätigkeit und die junge Industrie lag, war rechtlos. Er durfte kein
öffentliches Amt bekleiden, er durfte nur mit dem schwarzen Hut unterm Arm vor
den Großen seine Bücklinge machen. Er durfte Hof, Aristokratie und
Geistlichkeit ernähren und empfing als Gegenleistung eine unehrliche Verwaltung
und eine bestechliche, parteiische Justiz.
Dabei hatte Frankreich ein
Jahrhundert höchsten Glanzes hinter sich. Seine Wissenschaft, seine Kunst, sein
Geschmack und seine Lebensformen hatten ganz Europa überwältigt. Die großen
Schriftsteller wie Voltaire, Rousseau und Diderot hatten Europa erobert, aber
sie hatten auch die Despotie erschüttert. Sie hatten das Recht des Menschen auf
ein menschenwürdiges Dasein, auf geistige Freiheit, und Gerechtigkeit
verkündet. Das junge Bürgertum nahm diese Gedanken feurig auf. Einmal mußte der
Zusammenprall erfolgen zwischen der Lehre der Philosophen und dem alten Staat,
der zwar verrottet war, aber noch über die Kasernen und Gefängnisse verfügte.
Der Zustand Frankreichs war ganz mittelalterlich. Uralte Bestimmungen hemmten
die Gewerbe. Auf dem Lande wurde der Bauer von seinem Grundbesitzer ausgepreßt
und zu Tode geschunden. Seuchen und Hungersnöte wüteten in der Landbevölkerung,
die schließlich müde war, einen Boden zu beackern, der nicht mehr nährte. Der
Bauer verkam in schmutziger Trägheit oder verstärkte die nächtliche Heerschar
der Straßenräuber. Weite Landstrecken blieben unbestellt, verkamen und trugen
nicht mehr.
Das alles war offenkundig,
doch gefährlich, darüber zu sprechen. Eine Anzeige genügte, damit Einer in den
Gefängnissen von Bicetre oder Vincennes verschwand. Doch der gehässigste aller
Kerker blieb die pariser Bastille. Hier faulten die Opfer höfischer Ränke.
Grauenhafte Gerüchte gingen um. Hier an diesem gräßlichen Gemäuer fand Madame
Legros eines Tages einen schmutzigen Zettel, die Botschaft des Gefangenen
Latude an die Außenwelt. Madame Legros war eine unbedeutende Krämersfrau. Sie
war ärmlich und nicht schön. Aber sie hatte ein großes Herz. Das Schicksal des
fremden Menschen in der Bastille erschütterte sie, und sie beschloß Alles zu
tun, um ihn zu befreien. Sie drang in die Amtszimmer und Salons, sie klagte,
bat und drohte. Jahrelang ging die kleine Frau in ihren armseligen Kleidern in
die Paläste, ging um wie der Geist der namenlosen Gerechtigkeit, unscheinbar
und armselig. Niemand wagte, ihr ein Haar zu krümmen. Es war verboten, über den
Fall zu schreiben, aber man verhaftete sie nicht. Das schlechte Gewissen lähmte
den Arm der Herren. So verlor der Staat sein letztes Ansehen. Man heulte
Spottlieder auf die Königin, in den Theatern wurden die bissigsten Witze auf
den Adel laut beklatscht. Eine Schrift des Klerikers Sieyès, was der Dritte
Stand bedeutete und was er zu fordern habe, geht von Hand zu Hand und wird der
Katechismus des Bürgertums. In den Vorstädten treibt, von der Polizei gehetzt,
ein Schwärmer sein Wesen, der aufreizende Flugschriften verfaßt, die heimlich
gedruckt werden. Heute haust er auf einem schmutzigen Dachboden, morgen in
einem feuchten Keller. Und immer gehetzt. Kein Wunder, daß er seine Gesundheit
darüber verliert, daß seine Augen rotumrändert und trübe werden, seine Brust
einfällt und sein eingesunkenes Gesicht von Hunger und Verbitterung erzählt.
Das ist ein früherer Mediziner, der Doktor Marat. Man wird ihn später
wiederfinden.
Von Mirabeau
bis Robespierre
Ludwig XVI. war ein besserer
aber auch weniger bedeutender Mensch als seine Vorgänger. Das Volk mochte den
korpulenten Herrn mit dem starken Doppelkinn gern. Er sagte, seiner
unentschlossenen Natur entsprechend, weder Ja noch Nein, glaubte aber immer,
sich schließlich doch noch durch ein Doppelspiel aus der Klemme ziehen zu
können. Das wurde sein Verhängnis. Wirklich verhaßt dagegen war die Königin.
Marie Antoinette, die österreichische Prinzessin, war hochfahrend,
verschwenderisch, voll Verachtung gegen den Bürger, dazu umgeben von einem
Kreis, in dem das Volk nur österreichische Spione sah. Ihr Ruf war durch
Skandalgeschichten ruiniert. Dabei war ihr Charakter stark, und ihr späteres
Unglück fand sie ungebeugt.
Im Frühjahr 1789 war die
Weisheit der Regierenden zu Ende. Der Finanzminister Necker, ein bürgerlicher
Bankier aus Genf, ein tüchtiger Fachmann, sollte die Rettung bringen. Er riet
dem König, die Stände, die "états généraux" einzuberufen, das heißt:
die Vertreter von Adel, Geistlichkeit und Bürgertum, eine Einrichtung, von der
das Königtum seit dem Kardinal Richelieu keinen Gebrauch mehr gemacht hatte.
Das Volk mußte darin das Zugeständnis sehen, daß die Regierung nicht weiter
wußte, seine Führer erblickten darin den Beginn der friedlichen, gesetzmäßigen
Umformung des Staates nach englischem Muster. Für den Hof hingegen bedeutete
die Berufung der Stände nur einen Versuch, neue Einnahmequellen zu erschließen
und die Verantwortung abzuwälzen. Vorangegangen war schon eine Notablenversammlung,
die zu nichts geführt hatte. Am 5. Mai 1789 traten die Stände in Versailles
zusammen. Der Adel hatte 270 Vertreter entsandt, die Geistlichkeit 290, der
Dritte Stand 532, darunter 212 Advokaten, die damit ihren Einzug in die
französische Politik halten. Übrigens haben sich zum Dritten Stand auch etliche
Adelige und Priester geschlagen. Die Regierung hat moralisch abgewirtschaftet,
und Verwirrung und Unentschiedenheit beherrschen Militär, Justiz, Polizei. Das
Bürgertum hat zwar Ideen, aber es fühlt sich noch unsicher. In einzelnen
Provinzen beginnen Bauernaufstände, in Paris brechen Hungerrevolten aus. Der
Hof zieht Truppen zusammen, in Versailles spricht man offen davon, die Stände
auseinanderzujagen, wenn sie zuviel fordern. Die Regierung vertritt die
Meinung, daß die Versammlung nur über die Steuervorlagen zu beraten und dann zu
verschwinden habe. Deshalb soll auch nicht nach Köpfen, sondern nach Ständen
abgestimmt werden. Das heißt, die stärkste Gruppe, die Bürger, von vornherein
in die Minderheit setzen. Der erste Konflikt ist da. Am 17. Juni versammeln
sich die Vertreter des Dritten Standes, die «Gemeinen», und auf Antrag von
Sieyès erklären sie sich zur Nationalversammlung, zur alleinigen Vertretung
also. Die Regierung läßt das Versammlungshaus militärisch besetzen und
verweigert den Abgeordneten den Zutritt. Da ziehen sie geschlossen ins
Ballhaus, einen kümmerlichen Saal ohne Tische und Stühle, und hier leisten sie
in der Nacht den feierlichen Eid: nicht zu weichen, bis sie Frankreich eine Verfassung
gegeben. Der König erklärt den Beschluß für ungültig und droht mit Auflösung.
Die Versammlung gehorcht nicht. Des Königs Zeremonienmeister wiederholt den
Befehl. Ein schwerer Augenblick für die Versammelten. Widersetzen sie sich, so
stehen sie außerhalb des Gesetzes. Da erhebt sich Graf Mirabeau. Er sitzt beim
Dritten Stand, weil ihn die Aristokraten nicht bei sich leiden. Seine
Vergangenheit ist durch häßliche Geschichten bemakelt. Das Volk sieht in ihm
seinen Helden. Er ist es nicht. Ehrgeiz und Berechnung haben ihn hierher
geführt, aber seine abenteuerliche Natur kennt auch Ergriffenheit und
aufrichtiges Verlieren an einen feierlichen Moment. Er ist groß und schwer von
Gestalt, das Gesicht gedunsen und verfettet, sein Körper ist schon zerrüttet,
und in zwei Jahren wird er der nagenden Krankheit erliegen. Aber er ist der
mächtige Redner dieser Versammlung, seine Stimme hat Orgelgewalt, er kann in
seinen Hörern abwechselnd Raserei entfachen und zarteste Stimmungen vibrieren
lassen. Graf Mirabeau spricht zur Versammlung: «... die Freiheit Ihrer
Beratungen ist gefesselt; eine bewaffnete Macht umringt die Versammlung! Wo
sind die Feinde des Volkes? Ist Catilina vor unsern Toren? Ich fordere Sie auf,
suchen Sie Schutz bei Ihrer Würde, bei Ihrer gesetzgebenden Gewalt und halten
Sie sich treu an die Heiligkeit Ihres Eides; er erlaubt uns die Trennung nur,
wenn wir die Verfassung festgestellt haben.» Der Zeremonienmeister fordert
Gehorsam für den König. Da wendet sich Mirabeau an ihn: «Sagen Sie Ihrem Herrn,
daß wir auf Befehl des Volkes hier sind und nur der Gewalt der Bajonette
weichen. » Und der ernste, stille Sieyès spricht zur Versammlung: «Sie sind
heute, was Sie gestern waren, lassen Sie uns beraten.» Ein paar Wochen später
wird der König erstaunt ausrufen: «Aber das ist ja eine Meuterei!», und der
Zeremonienmeister wird antworten: «Nein, Sire, das ist die Revolution! »
Es ist die Revolution. Der
König weiß es nicht. Der Hofkreis seiner Frau beherrscht ihn. Dort will man den
Staatsstreich. Die Hauptstadt ist von Truppen umzingelt. Kuriere eilen nach
Metz zum Oberkommandanten der Armee. Ganz Paris ist auf der Straße. Es ist eine
belagerte Stadt, die den Sturm erwartet. Morgen können ein paar Regimenter
einbrechen; es sind viele landfremde Soldaten dabei, Schweizer und Panduren.
Schrecklich kann das Gemetzel werden. Am 11. Juli wird plötzlich bekannt, daß
Necker, der beliebte Reformminister, verabschiedet sei. Drohend liegt am
Eingang des Arbeiterviertels Saint‑Antoine das verhaßte Staatsgefängnis,
die Bastille. Wie viele Opfer wird sie wieder aufnehmen? Am 13. Juli steht
Paris in Aufruhr. Am 14. Juli stürmt ein Volkshaufe die Bastille und demoliert
sie. Der Kommandant wird niedergemacht, sein Kopf auf der Stange durch die
Stadt getragen. Der Despotismus ist schon müde und krank. Ohne Widerstand ist
die Bastille gefallen, nichts geschieht, um sie zu rächen. Das Volk von Paris
hat gesiegt. Jetzt bewaffnet es sich. Unter dem Befehl Lafayettes, der vor zehn
Jahren in Amerika als Freiwilliger gekämpft hat, wird eine Bürgerwehr
geschaffen, die Nationalgarde. Sie trägt eine neue Kokarde: blau und rot, die
Farben von Paris, weiß die alte Farbe Frankreichs. Blau‑weiß‑rot
sind von jetzt an Frankreichs Farben, und der 14. Juli ist sein nationaler
Feiertag.
Der Hof ist in höchster
Bestürzung. Die Nationalversammlung setzt ihre Arbeiten fort. In der Nacht zum
4. August werden alle alten Vorrechte abgeschafft; die Aristokraten selber
werfen fort, was sie nicht mehr verteidigen können. In der Proklamation der
Menschen‑ und Bürgerrechte findet der neue gesellschaftliche Zustand
seine förmliche Bestätigung. Gleichheit vor dem Gesetz, geistige Freiheit,
Abschaffung von Vorrechten, die durch die Geburt bedingt sind. Das bedeutet
eine neue Zeit, und das Signal wird bald durch alle Länder gehen. Was damals
unter Wirren und Schmerzen entstand, ist später so selbstverständlich geworden,
daß wir heute nicht atmen könnten, wenn man es uns bestreiten wollte. In der
Nacht zum 4. August erst ging das Mittelalter zu Ende.
Indessen hat der Hof wieder
frischen Mut gefaßt. Die Nationalversammlung verzettelt ihre Zeit. In Paris ist
wieder der Hunger eingekehrt. Wie im Kriege hängt die Verpflegung der
riesengroßen Stadt von der Pünktlichkeit einer Brotsendung ab. In die vor
Erregung bebende, von Hunger geschüttelte Stadt kommt eine Nachricht: Die
Königin hat für ihre Offiziere in Versailles ein großes Fest abgehalten; und
dabei ist es zu bedrohlichen Szenen gekommen. Die Königin, eine schöne,
elegante Frau, so wie wir sie von vielen Bildern kennen, in ihrer hohen,
getürmten Lockenfrisur, mit weißem Puder überstäubt, in einer herrlichen
Brokatrobe und dem mächtigen Reifrock, Symbol der königlichen Pracht, war durch
die Reihen der berauschten Offiziere gegangen, hatte ihnen Schmeicheleien gesagt
‑ die Offiziere hatten ihre Hände geküßt, hatten mit geschwungenen Degen
ihr Treue geschworen und wilde Racheschwüre gegen Paris deklamiert. Ist das die
Gegenrevolution? Panischer Schrecken in Paris. Und so beginnt eine der
seltsamsten Episoden dieser Jahre. Am 5. Oktober ziehen Tausende pariser Frauen
nach Versailles. Kleinbürgerinnen, Marktfrauen, Arbeiterinnen. Sie kommen nicht
feindselig, sie wollen ihre Not klagen, wollen Brot. Eine Armee verhärmter
Frauen belagert das prunkvolle Schloß. Bestürzung, Ratlosigkeit. Wird es zu
Gewalttätigkeiten kommen? Es ist immer wieder der Verdacht ausgesprochen
worden, in Wahrheit habe Lafayette, der wie Mirabeau eine Doppelrolle spielte,
den Zug arrangiert. Wenigstens traf er erst spät in der Nacht ein und wurde von
beiden Seiten stürmisch begrüßt, von dem Hof sowohl wie von den Frauen vor dem
Schloß.
Aber es gab jetzt nur noch
eins: Der König mußte nach Paris. Das Volk verlangte es. Am 6. Oktober bewegte
sich eine seltsame Prozession von Versailles nach Paris: In einer Kutsche die
königliche Familie, daneben zu Pferde Lafayette mit der blau‑weiß‑roten
Kokarde, dann die mehr malerischen als adretten Gestalten der Nationalgarde,
dann das Heer der Frauen. So zog Ludwig XVI. in seine Hauptstadt ein.
Man hatte gehofft, den Ränken
des Hofes ein Ende zu machen, indem man den König nach Paris brachte. Es war
ein Irrtum. Das Königtum suchte jetzt einzelne Führer der Bewegung zu gewinnen.
Mirabeau zeigte sich einer Verständigung nicht abgeneigt. Der König schien sich
in die neuen Verhältnisse geschickt zu fügen, und republikanisch dachte man
damals noch nicht. Ein Jahr nach dem Bastillensturm fand auf dem Marsfelde das
große Bundesfest statt, das zum letzten Mal die Parteien in voller Harmonie
zeigte. Dann begann im Lager des Dritten Standes die Zerspaltung. Parteien in
unserm Sinne gab es in der Nationalversammlung noch nicht. Die Abgeordneten
trafen sich in Klubs, und hier entwickelten sich in stürmischen Debatten
allmählich bestimmte Gruppen. Es entstanden viele dieser Klubs. Der
berühmteste, von dem Parlamentsrat Duport in Versailles gegründet, tagte später
in Paris im Jakobinerkloster und erhielt davon seinen Namen. Hier verkehren
Mirabeau und Lafayette, hier schulten sich Männer, die erst später bekannt
wurden, und hier vor allem war der Sammelplatz von Politikern, meistens aus dem
Advokatenstande, die auf das Volk von Paris Einfluß hatten. Das Bundesfest
hatte unter der Parole «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» einen wahren
Freiheitsrausch verbreitet. Nachher sahen die Dinge nüchterner aus. Die
Beruhigung war nur scheinbar. Die Not hatte sich nicht geändert, in den
Provinzen wechselten revolutionäre Bauernrevolten mit gegenrevolutionären. Auf
den Verkauf der Kirchengüter gab man Papiergeld aus, die Assignaten; der Bankrott
war nur verschleiert. Mitten in diesen Wirren, im Frühjahr 1791, starb
Mirabeau. Der Hof verlor seine letzte Hoffnung und war bereit, Alles auf einen
Gewaltstreich zu setzen. Der König machte den Versuch, nach Metz zu entfliehen,
ins Hauptquartier der Armee. Er wurde in Varennes eingeholt und nach Paris
zurückgebracht. Seine Doppelzüngigkeit weckte die tiefste Entrüstung, seine
Beliebtheit war für immer dahin. Daß er sich nur mühsam an die neuen
Verhältnisse gewöhnte, wurde mit Nachsicht beurteilt. Nicht verzieh man ihm
aber, daß er sich heimlich mit dem Ausland gegen das eigene Land verschworen
hatte. Denn inzwischen hatte sich in Frankreich eine bedrohliche Allianz
gebildet. Die Mächte des alten Europa hatten mit Sorge die Bewegung verfolgt,
sie fürchteten, daß sie über die Grenzen schlagen könnte und waren deshalb
bereit, ihre Armeen marschieren zu lassen, um den König mit Gewalt nach Paris
zu führen und die Revolution zu zertreten. Dies wußte Ludwig XVI., in diese
Gesellschaft hatte er sich begeben, und deshalb mußte er schließlich Krone und
Kopf verspielen.
Zum erstenmal wird die
Absetzung des Königs, die Ausrufung der Republik gefordert. Die Radikalen
sondern sich von den Gemäßigten, die für die konstitutionelle Monarchie
sprechen. Im Jakobinerkloster treffen sich die republikanisch Gesinnten. Auch
bei ihnen sind zwei Gruppen bemerkbar. Die einen nennt man die Girondisten,
weil einige ihrer Wortführer aus der Gironde stammen. Es ist die Partei der
reichen Kaufleute, die Partei der glänzenden Redner wie Brissot, Vergniaud,
Pétion, Roland. Die andre Gruppe stützt sich auf das kleine Bürgertum, auf die
große Masse der Arbeiter und Besitzlosen. Schon machen sich Kontraste zwischen
beiden Gruppen bemerkbar. Bald wird man sie die Ebene und den Berg nennen nach
ihren Sitzen in der Versammlung, In den Pariser Vorstädten herrschen
volksbeliebte Agitatoren: der jetzt endlich ans Tageslicht gekommene Marat, der
Brauer Santerre, der lustige Camille Desmoulins. Ein Redner von wilder Kraft
ist der breitschultrige, pockennarbige Georges Danton. Sie alle haben
Beziehungen zu einem Mitgliede des Jakobinerklubs, einem schmalen, zarten Herrn
von kränklicher Gesichtsfarbe, der seinen Rock stets peinlich sauber trägt und
stets eine frische weiße Halsbinde umhat. Das ist der Bürger Maximilian
Robespierre, Advokat aus Arras. Noch lächelt man über seinen steifen Ernst,
über sein bescheidenes, nüchternes Leben. Bald wird man vor ihm zittern, wenn
er, auf der Rednertribüne stehend, seine kalten Augen auf der Versammlung ruhen
läßt.
Allons enfants de la patrie ... !
Die erste Nationalversammlung
führte den Namen die Konstituante, weil es ihre Aufgabe war, dem Staat eine
Verfassung (Konstitution) zu geben, die zweite, am 1. Oktober 1791
zusammengetreten, hieß die Legislative, weil ihr die Gesetzgebung oblag. Die
zweite Nationalversammlung sah schon ganz anders aus. Die Gemäßigten waren in
der Minderheit und sehr kleinlaut; republikanisch Gesinnte, Girondisten und
Jakobiner, in der Mehrzahl. Außerhalb der Versammlung schrieb und dachte man
noch radikaler. Der neue Klub der Cordeliers, in dem Danton, Desmoulins und
Marat das Wort führten, betrieb offen die Absetzung des Königs und denunzierte
die Girondisten als Schwächlinge, die kein offenes Vorgehen wagten.
1792 sind die europäischen
Mächte klar zum Krieg gegen die Revolution. Am Rhein und in dem damals
österreichischen Belgien finden Truppenkonzentrationen statt. In den Klubs von
Paris wird laut der Krieg gefordert. Der König muß seine Minister entlassen,
ein Kabinett aus Girondisten wird gebildet. Der führende Kopf ist Dumouriez,
ein früherer königlicher Kammerherr, hochbegabt und energisch, aber auch
leichtfertig und charakterlos. Das Königtum war verloren, man wußte es überall,
nur im königlichen Palast nicht. Man erzählt, daß der Zeremonienmeister die
neuen Minister nicht beim Könige vorlassen wollte, weil sie nicht, der
Kleiderordnung des Hofes gemäß, Schnallen an den Schuhen trugen. «Nicht wahr,
mein Herr», sagte Dumouriez gelassen, «Alles ist verloren.» Die erste Tat des
neuen Ministeriums war die Kriegserklärung an Österreich. Frankreich war wie
eingekesselt, in Belgien, am Rhein und in Italien wimmelte es von
ausgewanderten Aristokraten, den «Emigranten», die offen zum Zug nach Paris
hetzten und deren Rat die Kabinette der Mächte beherrschte. Der verblendete
König begann neu zu hoffen. Er glaubte an die Überlegenheit der Mächte, sah
sich in Gedanken wohl schon befreit und entließ die girondistischen Minister.
Vielleicht war seine Hoffnung nicht unbegründet, denn inzwischen hatte sich
Preußen Österreich angeschlossen. Die zwei alten Militärmächte standen in
kolossaler Überlegenheit gegen das zerrissene, am Rande des Bürgerkriegs
taumelnde Frankreich. Der Herzog von Braunschweig, der Generalissimus, glaubte
überhaupt nicht an Widerstand, sondern eher an einen Parademarsch nach Paris.
Von Koblenz aus erläßt er das berühmte Manifest an Frankreich. Er nennt darin
die Ereignisse seit 1789 Rebellion, er fordert auf, dem Könige seine gesetzmäßige
Gewalt zurückzugeben, also den verhaßten, alten Zustand wiederherzustellen. Er
fordert bedingungslose Kapitulation des ganzen Landes. Jede Verteidigung würde
mit dem Tode bestraft werden, Paris selbst der militärischen Exekution und der
Zerstörung anheimfallen. Viel hatte in diesen schicksalsvollen Jahren
menschliche Unzulänglichkeit verschuldet, aber eine solche an Wahnsinn
grenzende Torheit war noch nicht dagewesen. Die Wirkung war schrecklich.
Einschüchtern wollte der Braunschweiger, statt dessen erweckte er alle Elemente
der Abwehr. Von diesem Augenblick an ist Frankreich eine gefüllte Ekrasitbombe,
bereit, bei der ersten Berührung ganz Europa in die Luft zu sprengen. Der erste
Erfolg des Manifestes ist der Sturz Ludwigs XVI. Danton und Marat haben das
Volk der Vorstädte in der Hand; am 10. August werden die Tuilerien gestürmt,
der König flüchtet in die Nationalversammlung und wird als Gefangener in den
Temple gebracht. Jetzt ist er endgültig verloren. Man weiß, daß er Verbindung
mit den Feinden gehalten hat und wohl noch hält, und daß die Königin niemals
Hehl gemacht hat, die Anschauungen des Manifestes zu teilen. Frankreich kämpft
um das nackte Leben, und der König fällt als Opfer dieses Kampfes. Bald wird er
auf dem Revolutionsplatze als Hochverräter unterm Fallbeil sterben. Im Sturm
gewinnen die Radikalen unter Danton und Robespierre die Überhand. Die
Girondisten werden zurückgedrängt. Der Gemeinderat von Paris wird nun ganz
jakobinisch und zum Hauptquartier der Revolution. Die Gemäßigten werden
verjagt, ihre Klubs geschlossen. Frankreich ist eine belagerte, dem Hunger
verfallene Festung. Verzweiflung und Fanatismus regieren; die Barmherzigkeit
ist gestorben. Das Vaterland ist in Gefahr! Im September brechen wilde Horden
in die überfüllten Gefängnisse ein und metzeln die Gefangenen nieder, der Ruf
«An die Laterne mit den Aristokraten!» dringt durch die Straßen, pflanzt sich
durchs ganze Land fort. Das sind die «Septembrisaden». Tausende werden als
Feinde des Vaterlandes abgeschlachtet. Dabei ist in vielen Provinzen die
Revolution kaum durchgedrungen. Im Süden und Norden brechen Aufstände los, die
Vendée verteidigt sich verzweifelt gegen die Truppen von Paris. Bürgerkrieg.
Das sind die Folgen des Manifestes. Und als ob das Schicksal dem alliierten
Europa noch eine eindringlichere Lektion vorbehalten hätte: Nicht einmal im
Felde sind seine Armeen glücklich. Die französischen Heere sind schlecht
ausgerüstet, man nennt die Soldaten spöttisch «Sansculotten», Ohnehosen, weil
sie statt Kniehosen lange, schlechtsitzende Beinkleider tragen, aber diese
Soldaten, die oft nur Piken oder Sensen haben, kämpfen um Freiheit und Leben
ihres Landes. Dumouriez führt jetzt mit dem General Kellermann die Armee in der
Champagne. Bei Valmy stoßen die Preußen und Österreicher auf einen unerwarteten
mehrtägigen Widerstand. Am 30. September, abends, gibt der Herzog den Befehl
zum Rückzug. An diesem Tag siegt die junge Revolution über das alte morsche
Europa. Berühmt genug ist der Ausspruch Goethes: «Von hier und heute beginnt
eine neue Epoche der Weltgeschichte, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei
gewesen!» Goethe befand sich mit seinem Herzog bei der Armee. Sein Wort wiegt
schwer; er liebte die Revolution nicht. Nach der Kanonade von Valmy drangen die
französischen Armeen selbst über die Grenzen, nach Belgien, an den Rhein. In
den bedrückten deutschen Kleinstaaten begrüßte man sie als Befreier. In Mainz
tanzte man um den Freiheitsbaum.
Mit seinen Schrecken und
Wirrnissen ist 1793 eines der größten Jahre der Geschichte. Noch sieht es in
Frankreich wild genug aus, und die Parteikämpfe nehmen an Leidenschaft zu.
Führer der Republikaner sind jetzt Danton und Robespierre. Sie lieben sich
nicht, der breite, temperamentvolle Danton, der nicht nur gewalttätig ist,
sondern auch staatsklug, und der kleine, verkniffene Robespierre mit dem
gutgebürsteten Rock ‑ später werden sie sich zerreißen. Auf die
gesetzgebende Versammlung ist der Nationalkonvent gefolgt. Die wichtigsten
Vollmachten liegen bei einem kleinen Komitee: dem Wohlfahrtsausschuß. Die
Republik ist proklamiert, Ludwig XVI. hingerichtet. Nach ihm die Königin und
viele Andre. Jetzt rumpelt der Karren täglich durch die Straßen, Futter für die
Guillotine: Aristokraten, Verdächtige, unehrliche Armeelieferanten,
Brotwucherer. Robespierre stürzt die Girondisten. Sie werden im Konvent
verhaftet. Es war immer ein Gegensatz zwischen ihnen und den pariser Radikalen.
Sie sind zumeist reiche Seidenfabrikanten aus Lyon, Kaufherren aus Bordeaux,
sie vertreten den neuen bürgerlichen Reichtum, Industrie und Finanz, ihre
Lebensführung gleicht am ehesten der der gestürzten Schichten, während die
Jakobiner den kleinen Mittelstand und die proletarischen Schichten verkörpern.
Die Girondisten haben glänzende Redner, prachtvolle Charaktere, aber keine
gebietenden Persönlichkeiten wie Danton. Sie werden zerrieben.
Jetzt ist Frankreich Republik.
Eine neue Zeitrechnung beginnt, man bestimmt das Jahr 1792 als Jahr 1 der
Republik und führt neue Monatsnamen ein. Die alte Einteilung in ziemlich
selbständige Provinzen wird aufgehoben, die heute noch gültige Einteilung in
Departements begründet die französische Einheit. Carnot, der militärische
Organisator des Wohlfahrtsausschusses, schafft die «levée en masse», die große
Erhebung zur nationalen Verteidigung, und diese elend ausgestatteten
Sansculottenheere, von blutjungen Generalen geführt, erschüttern Europa. Etwas
ganz Neues ist in der Weit, was es vorher nicht gegeben hat und was heute nicht
mehr fortzudenken ist: Vaterland und Freiheit gehören zusammen, wo die Freiheit
nicht ist, ist auch kein Vaterland. Der moderne Patriotismus ist 1793 geboren.
Der Begriff des Untertanen weicht der neuen Idee des Bürgers, der, sei er auch
noch so gering, teil hat am Staat. Und wie immer in Epochen großer Umwandlungen
ändern die Menschen auch ihr Äußeres. Wie in unsern Tagen die Männer ihre
Kleidung leichter machen und dem gelenkigeren sportlichen Typ anpassen, die
Frauen die Haare kurz schneiden und die Schleppröcke und Schnürleiber als
Attribute alter Zeit betrachten, so warf man damals die mächtigen Reifröcke
beiseite, die hohen, gepuderten Frisuren wurden nicht mehr getragen. Die
Kleidung wurde einfacher und gefälliger ‑ was ein paar Jahre vorher noch
allgemein gültig war, wurde nun als zur «Zopfzeit» gehörig betrachtet, und man
sprach vom «ancien régime», als läge es hundert Jahre zurück. In der Tat ist in
einem Jahre der Schutt eines Jahrhunderts aufgeräumt worden. Früher wurde der
Staat durch sein Königtum verkörpert, jetzt redete man nur von der Nation;
nicht mehr vom Willen des Herrschenden, sondern vom «Gesetz». Alles was in
dieser Zeit gefühlt wurde, hat ein junger Offizier der Rheinarmee, Rouget de
Lisle, in ein von ihm gedichtetes und in Musik gesetztes Lied gelegt. Es wurde
zuerst von Freiwilligen aus Marseille nach Paris gebracht und heißt danach die
«Marseillaise». In seinem mächtigen Schwunge atmet der ungebärdige, junge Geist
des erwachten Volkes, gegen das die alten Mächte rücken, um ihm die Freiheit
wieder zu entreißen:
Allons
enfants de la patrie,
le
jour de gloire est arrivé.
Contre
nous de la tyrannie,
l'étendard
sanglant est levé ...
Aux
armes, citoyens! Formez vos bataillons!
Marchez,
marchez! qu'un sang impur
abreuve nos sillons ...
(Auf, Ihr Kinder des
Vaterlandes, der Tag des Ruhms ist da. Auf, gegen die Tyrannei! Die blutige
Fahne weht! Zu den Waffen Bürger, bildet Sturmtrupps, marschiert, das Blut der
Verräter soll unsern Acker tränken!)
Der 9.
Thermidor
Der König ist dahin. Die
Royalisten sind gestürzt und gerichtet. Die Gemäßigten sind nicht mehr. Die
stolze Partei der Gironde ist nur noch ein Haufen armer Flüchtlinge. Gegen ein
Übermaß von Feinden hat die Revolution den Schrecken aufgeboten, und jetzt
wachsen die Stimmen gegen die Schreckensherrschaft. Ein junges Mädchen aus der
Normandie, Charlotte Corday, eine Girondistin, hat Marat im Bade erdolcht. In
der Galerie von Brüssel hängt des Malers David unvergeßliches Bild von dem
sterbenden Marat. Er ist in der Badewanne zusammengesunken, einen blutigen Riß
in der Brust, das Haupt fällt zur Seite, klagend ist der Mund geöffnet. So hat
der Maler selbst den Sterbenden gesehen. Marat war ein Schwärmer, der viel
Verfolgung erlitten hat, doch der überzeugteste Anwalt des Schreckens wird der
junge Marquis Saint Just, ein schmächtiger blasser Mensch, als Redner von einer
kalten, schneidenden Rücksichtslosigkeit, die auch seine Freunde schaudern
macht. Soll der Mensch barmherziger sein als die Natur, die den Tod in die Welt
schickt, die Erdbeben, Orkane, Gewitter über die Erde wirft? so philosophiert
Saint Just. Jetzt werden die Gegensätze ganz scharf, auf der einen Seite die
Lebensfrohen, die Spötter, die Voltaireschüler Danton und Camille Desmoulins,
auf der andern Seite Robespierre und Saint Just, die Finstern und
Lebensfeindlichen. Camille Desmoulins gibt ein Blatt heraus «Der alte
Cordelier», voll unbarmherzigsten Spottes über den mächtigen Robespierre. Im
Kreise Dantons lacht man über den «Blutmessias»; Desmoulins macht sich über
Saint Just lustig: dieser trage seinen Kopf so feierlich wie eine Monstranz.
«Er wird den Seinen bald unterm Arm tragen wie der heilige Dionys», antwortet
Saint Just bissig. Danton hat eine Generalidee: die Amnestie. Erst Gnade, dann
Neubeginn. Auch Robespierre trägt sich mit solchen Plänen, aber schweigt davon.
Danton führt sich unvorsichtig. Sein privates Leben ist schwelgerisch, es
sammelt sich um ihn eine bunte Gesellschaft von Unzufriedenen, politischen
Geschäftemachern, Gesinnungslosen. Sein Verhalten wird rätselhaft. Er fordert
die Gegner ständig heraus, aber er kämpft weder, noch denkt er an seine
Sicherheit. Am 10. Germinal (30. März) 1794 verhandelt der Wohlfahrtsausschuß
über seine Verhaftung. «Sie werden es nicht wagen!» meint er, und die Bitte, zu
fliehen, lehnt er mit den Worten ab: «Kann ich das Vaterland an meinen Sohlen
mitnehmen?» Noch in der selben Nacht wird er ins Gefängnis gebracht, mit ihm
die Freunde. Die Dantonisten verteidigen sich vor dem Tribunal mit Tapferkeit
und aufreizendem Spott. Bei der Verkündung des Todesurteils ruft Danton:
«Robespierre wird folgen! Ich ziehe ihn nach!» Am 5. April enden Danton,
Desmoulins und andre auf dem Schafott. Den letzten Kampf Dantons, seine
Niederlage und sein Sterben hat der deutsche Dichter Georg Büchner in einem
Drama behandelt, dem größten Revolutionsstück, das jemals geschrieben wurde. Es
sagt mehr vom Geist der Revolution als alle Geschichtsbücher.
Nun wird es kalt und still.
Die Revolution hat ihr Genie erschlagen. Vier Monate noch dauert die Diktatur
Robespierre. Was will er? Er hat eine republikanische Gruppe nach der andern
unters Fallbeil gebracht, nicht nur die Girondisten und Dantonisten, sondern
auch eine Fraktion des Gemeinderats, die Hébertisten die noch schroffer waren
als er. Die Revolution hatte bisher eine ungeheure Fülle von Geist und Talent
zuzusetzen gehabt. Bei den großen Volksaufständen vom Bastillensturm bis zum
Tuileriensturm waren die Führer gleichsam aus dem Boden gewachsen. Jetzt ist
diese heldenhafte Generation durch Blutverluste geschwächt. Die Großen sind
dahin, und das Volk ist müde. Robespierre aber geht unbeirrt weiter. Er ist
eitel, er hört sich gern den «Unbestechlichen», den «Tugendhaften» nennen, aber
er ist nicht blind. Es entgeht ihm nicht, daß es im engsten Freundeskreis an
Tugend und Unbestechlichkeit fehlt; auch dort sitzen Zweideutige,
Falschspieler, Heuchler und Käufliche. So bereitet er den Kampf gegen den
Konvent vor. Es wird sein letzter Kampf.
Robespierre ist entschlossen,
den Konvent, der sich gegen ihn kalt und mißtrauisch zeigt, entweder neu unter
seinen Willen zu zwingen oder aufzulösen. Er hat den Gemeinderat auf seiner
Seite, aber auch der Konvent ist vorbereitet. Viele erschütternde Szenen haben
die Parlamente der Revolution gesehen, aber die Sitzung vom 9. Thermidor (27.
Juli) ist der Schlußakt einer grausamen Tragödie. Denn die sich gegen
Robespierre empören, das ist die alte Garde der Jakobiner selbst. Die sich
gegen ihn erheben, sind nicht die Besten; es klebt mehr Blut an ihren Fingern
als an den seinen, viele davon haben als Kommissäre des Konvents in der Provinz
schreckliche Gemetzel veranstaltet, viele haben sich unrechtmäßig bereichert.
Er aber ist auch in seiner Mittagshöhe arm und fleckenlos geblieben.
Zu Beginn der Sitzung spricht
Billaud‑Varennes. Er bezichtigt Robespierre, nach der Alleinherrschaft zu
streben. Der will jetzt reden, aber der Ruf «Nieder mit dem Tyrannen!»
empfängt ihn. Der Diktator kann sich nicht mehr durchsetzen. Er ist in der
Entscheidung zittrig und nervös. Die große Anklagerede hält Tallien, ein
unbeträchtlicher Politiker, der weder vorher noch nachher etwas geleistet hat.
Ein gewissenloser Lebemann, berühmt nur durch seine Frau, die dort, wo man sich
nicht langweilt, eine Rolle spielt. Mit der Energie des Feigen, der das kalte
Messer im Nacken fühlt, findet Tallien Worte, die alle Leidenschaften
entfesseln. Robespierre will antworten. Er wird niedergeschrien. Immer wieder
das Geheul: «Nieder mit dem Tyrannen!» Der Präsident Thuriot schwingt die
Glocke. Da schreit Robespierre mit einer kaum mehr menschlichen Stimme: «Zum letzten
Mal, Präsident einer Versammlung von Mördern, willst du mir das Wort geben! »
Der Präsident beachtet ihn nicht, sondern läutet weiter. Da macht der wankende
Diktator den letzten Versuch: er will zu den Zuhörern auf den Tribünen reden.
Aber dort bleibt man stumm. Das Volk hat den Tribun des Volkes verlassen. Außer
sich vor Erschöpfung bricht der zarte, brustschwache Mann auf einem Stuhl
zusammen. «Das Blut Dantons erstickt dich», ruft jemand aus der Versammlung.
Als Gefangener des Konvents wird Robespierre mit Saint Just und andern
abgeführt. Durch einen Putsch des Gemeinderats wird er am gleichen Tag noch für
ein paar Stunden befreit. Dann fällt er abermals in die Hände des Konvents. Er
will sich eine Kugel durch den Kopf jagen, aber der Schuß geht fehl und
zerschmettert nur eine Kinnbacke. Am nächsten Tag wird er halbtot vor Schmerzen
mit seiner schrecklichen ungepflegten Wunde zum Guillotinenplatz geschleppt.
Verwünschungen und Gelächter begleiteten seine letzte Fahrt. Als sein Kopf
fiel, applaudierte man wie im Theater. Maximilian Robespierre ist
vierunddreißig Jahre alt geworden.
Der 9. Thermidor ist der rote
Schlußstrich unter der Revolution. Jetzt ist ihre Kraft erschöpft. An die
Stelle der alten Aristokratie tritt der reiche Bürgerstand. Die kleinen Leute
in den Vorstädten, die ihre Schlachten geschlagen haben, sind vergessen, werden
bald als Rebellen behandelt werden. Der Konvent versucht eine Politik der
mittleren Linie, viele Verbannte kehren zurück. Die Schrekkensherrschaft ist zu
Ende, aber schnell setzt auch die Reaktion ein. Sogar die Anhänger der
Monarchie wagen wieder zu hoffen. In den Vordergrund treten die Generale, die
Siege errangen, während die Politiker sich zerfleischten, Am 13. Vendémiaire
(5. Oktober) 1795 wird ein Aufstand der pariser Königstreuen in einem
Straßenkampf an der Rue Saint-Honoré von den Truppen des Konvents
niedergeschlagen. Ihr Befehlshaber ist einer jener blutjungen ehrgeizigen
Offiziere, die fiebernd vor Ungeduld auf die Gelegenheit warten, sich
auszuzeichnen. Am selben Abend ist sein Name in aller Munde, bald wird ihn ganz
Europa kennen: Napoleon Bonaparte. Frankreich hatte einen König gestürzt, um
einen Cäsar zu bekommen. Also war alles umsonst? wird man leicht fragen. Nein.
Die Revolution hat trotz alledem den Sieg des Bürgertums vollendet. Zweimal
kehren die Bourbonen noch zurück, zweimal werden sie, 1830 und 1848, gestürzt.
Die Demokratie wird Frankreichs bleibende Form und erobert sich allmählich
Europa. Mit der Herrschaft des Bürgertums kommen neue Mächte, Börse und
Industrie, in die Welt. Nicht mehr dynastische Ansprüche, sondern
kapitalistische Interessen treten jetzt in den Mittelpunkt. Langsam rückt der
vierte Stand, die Arbeiterschaft, nach, dessen Leiden die Revolution nicht
gemindert hatte. 1871 versucht die pariser Commune die erste sozialistische
Regierung zu schaffen. Was in Frankreich nicht gelang, bricht viel später
siegreich im Osten durch. Lenin gründet 1917 in Rußland den ersten
sozialistischen Staat.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Jahrbuch Jugend und Welt", 1929