Der geschichtsträchtige Marsch auf die Feldherrnhalle
Ludendorff schaut dem Tod ins Auge und Hitler geht in volle Deckung
Etwa um elf Uhr
am Vormittag des 9. November, des Jahrestages der Ausrufung der deutschen
Republik, führten Hitler und Ludendorff eine rund 3000 Mann starke
Marschkolonne vom Bürgerbräukeller aus in Richtung Stadtmitte. Neben ihnen an
der Spitze des Zuges marschierten Göring, Scheubner-Richter, Rosenberg, Ulrich
Graf und ein halbes Dutzend andere NSDAP- und Kampfbundführer. Vorangetragen
wurden die Hakenkreuzfahne und das Banner des Bundes Oberland. Nicht
weit hinter den ersten Reihen fuhr langsam ein Lastwagen mit Maschinengewehren
und MG-Schützen. Die SA-Leute trugen Karabiner, zum Teil mit aufgepflanztem
Bajonett. Hitler selbst schwang seine Pistole. Es war keineswegs eine imposante
Streitkraft, aber Ludendorff, der einmal Millionen bester deutscher Soldaten
unter seinem Befehl gehabt hatte, hielt sie offenbar für den Zweck für
ausreichend.
Ein paar hundert Meter
nördlich des Bürgerbräukellers stießen die Rebellen auf das erste
Hindernis. An der Ludwigsbrücke, die über die Isar in Richtung Stadtmitte
führt, stand eine bewaffnete Polizeitruppe und versperrte den Weg. Göring
sprang vor und sagte dem Polizeioffizier, in der Kolonne befänden sich einige
Geiseln, die erschossen würden, wenn die Polizei das Feuer eröffne. Tatsache
war, daß Heß und andere NSDAP-Mitglieder im Lauf der Nacht für den Notfall ein
paar Geiseln, darunter zwei Kabinettsmitglieder, zusammengetrieben hatten. Ob
nun Göring bluffte oder nicht, der Polizeioffizier glaubte seinen Worten und
ließ die Kolonne ungehindert die Brücke passieren.
Auf dem Marienplatz stieß der
Zug auf eine große Menschenmenge, die sich gerade eine Rede des Nürnberger
Judenhassers Julius Streicher anhörte, der auf die erste Nachricht von dem
Putsch hin nach München geeilt war. Streicher, der die Revolution nicht versäumen
wollte, brach seine Rede ab, gesellte sich zu den Rebellen und trat in die
zweite Reihe unmittelbar hinter Hitler.
Kurz nach Mittag näherte sich
die Kolonne ihrem Ziel, dem Wehrkreiskommando, in dem Röhm und seine Leute von
Reichswehrsoldaten belagert wurden. Bislang hatten weder Belagerer noch
Belagerte einen Schuß abgegeben. Auf beiden Seiten des Stacheldrahts standen
ehemalige Soldaten und Kriegskameraden, die keine Neigung hatten, aufeinander
zu schießen.
Um zum
Wehrkreiskommando zu gelangen und Röhm zu befreien, führten Hitler und
Ludendorff jetzt ihren Zug durch die enge Residenzstraße, die sich hinter der
Feldherrnhalle zu dem geräumigen Odeonsplatz erweitert. Doch am Ende dieser
schluchtartigen Straße blockierte eine etwa hundert Mann starke und mit
Karabinern ausgerüstete Polizeiabteilung den Durchgang. Und diesmal gab die
Polizei die Bahn nicht frei.
Doch wiederum
versuchten es die Anhänger Hitlers mit Überredung. Einer von ihnen, Hitlers
treuester Leibwächter Ulrich Graf, lief voraus und rief dem diensthabenden
Polizeioffizier zu: »Nicht schießen! Exzellenz Ludendorff und Hitler kommen!«
Selbst in diesem gefährlichen Augenblick versäumte dieser deutsche
Revolutionär, dieser frühere Ringkämpfer und »Rausschmeißer«, nicht, einen
hohen Herrn beim gebührenden Titel zu nennen. Hitler schrie: »Ergebt euch!«
Aber der unbekannte Polizeioffizier ergab sich nicht. Offenbar übte Ludendorffs
Name auf ihn keine magische Wirkung aus. Von welcher Seite der erste Schuß
fiel, wurde nie klargestellt. Jede schob die Schuld auf die andere. Ein
Augenzeuge sagte später aus, Hitler habe aus seiner Pistole den ersten Schuß
abgegeben. Ein anderer meinte, es sei Streicher gewesen. Wie es auch gewesen
sein mag, es fiel jedenfalls ein Schuß, und im nächsten Augenblick hagelten die
Kugeln von beiden Seiten, zum Verhängnis für Hitlers Hoffnungen.
Scheubner-Richter brach tödlich getroffen zusammen. Göring erlitt eine schwere
Hüftverletzung. Schon nach einer Minute hörte das Feuer auf, aber auf der
Straße lagen sechzehn NSDAP-Mitglieder und drei Polizisten tot oder sterbend,
viele andere verwundet. Die übrigen, darunter Hitler, hatten sich, um ihr Leben
zu retten, zu Boden geworfen. Nur einer machte eine Ausnahme, und wäre man
seinem Beispiel gefolgt, hätten die Dinge vielleicht einen anderen Verlauf
genommen. Ludendorff war nicht in Deckung gegangen. Aufrecht und stolz, seinen
Adjutanten Major Streck an der Seite, marschierte er ruhig zwischen den Läufen
der Polizeigewehre hindurch bis zum Odeonsplatz, eine einsame, wunderliche
Gestalt. Kein einziger Nationalsozialist folgte ihm. Nicht einmal deren
oberster Führer Adolf Hitler.
Der künftige Kanzler des Dritten
Reiches war der erste, der sich in Sicherheit brachte. Er war mit
Scheubner-Richter Arm in Arm (eine seltsame, aber vielleicht aufschlußreiche
Geste) der Polizeikette entgegenmarschiert; und als Scheubner-Richter zusammengebrochen
war, hatte er Hitler mit sich zu Boden gerissen. Vielleicht glaubte Hitler,
ebenfalls getroffen zu sein; er hatte große Schmerzen, die aber, wie sich
später herausstellte, von einer Schulterverrenkung herrührten. Tatsache bleibt,
daß Hitler, wie einer seiner eigenen Anhänger, der Arzt Dr. Walter Schulz,
sowie mehrere andere Zeugen bekundeten, »der erste war, der sich erhob und
zurückzog« und seine toten und verwundeten Parteigenossen auf der Straße liegen
ließ. Man schob ihn eilends in einen bereitstehenden Wagen und brachte ihn nach
Uffing ins Landhaus der Hanfstaengls, wo er von »Putzis« Frau und Schwester
gepflegt und nach zwei Tagen verhaftet wurde.
Ludendorffs Festnahme erfolgte an Ort und Stelle. Voller
Verachtung für die Rebellen, die nicht den Mut gehabt hatten, hinter ihm
herzumarschieren, und voller Erbitterung gegen die Reichswehr, die nicht zu ihm
übergetreten war, erklärte er, für ihn gäbe es fortan keine deutschen Offiziere
mehr, und er selbst werde niemals mehr eine Offiziersuniform anlegen. Der
schwerverwundete Göring erhielt erste Hilfe von dem jüdischen Besitzer einer
nahegelegenen Bank, in die man ihn hineingetragen hatte, und wurde dann von
seiner Frau über die österreichische Grenze geschmuggelt und in ein Innsbrucker
Krankenhaus gebracht. Auch Heß floh nach Österreich. Röhm kapitulierte zwei
Stunden nach dem Zusammenbruch an der Feldherrnhalle. Innerhalb weniger Tage
saßen alle Aufständischen, außer Göring und Heß, hinter Schloß und Riegel. Die
Partei wurde aufgelöst, und der Nationalsozialismus war allem Anschein nach
tot. Der Führer Adolf Hitler, der bei der ersten Salve davongelaufen war,
schien gänzlich diskreditiert und seine meteorhafte politische Laufbahn am Ende
zu sein.
Quelle: „Aufstieg und Fall
des Dritten Reiches“ von William L. Shirer, S. 72 - 74