Der Feind steht rechts!
Am 24. Juni 1922 wird der jüdische Großindustrielle und Reichsaußenminister
Walther Rathenau von Rechtsradikalen ermordet. Am folgenden Tag hält
Reichskanzler Josepf Wirth - Mitglied der katholischen Zentrumspartei - im
Reichstag eine der bedeutendsten Reden der Weimarer Republik:
Meine Damen und Herren! Trotz
der Leere des Hauses oder gerade deswegen will ich eine ruhige Minute benutzen,
um Ihre Aufmerksamkeit zu erbitten. Es war nicht möglich, gestern mittag und
gestern abend den Werdegang des Herrn Ministers Rathenau und seine Verdienste
um das deutsche Volk, den deutschen Staat und die deutsche Republik ausgiebig
zu würdigen. Es war auch nicht möglich, in Ihrer Mitte ‑ und ich
persönlich müßte als sein Freund das mit besonderer Bewegung tun ‑ über
die großen Entwürfe seiner Seele zu sprechen. Allein, eins will ich in Ihrer
Mitte doch sagen. Wenn Sie in Deutschland auf einen Mann, auf seine glänzenden
Ideen und auf sein Wort hätten bauen können, in einer Frage die Initiative zu
ergreifen im Interesse unseres deutschen Volkes, dann wäre es die Weiterarbeit
des Herrn Dr. Rathenau bezüglich der großen Schicksalsfrage der Alleinschuld
Deutschlands am Kriege gewesen. Hier sind große Entwicklungen jäh unterbrochen,
und die Herren, die die Verantwortung dafür tragen, können das niemals mehr vor
ihrem Volke wieder gutmachen.
Aber ich bin der Rede des
Herrn Abgeordneten Dr. Hergt mit steigender Enttäuschung gefolgt. Ich habe
erwartet, daß heute nicht nur eine Verurteilung des Mordes an sich erfolgt,
sondern daß diese Gelegenheit benützt wird, einen Schnitt zu machen gegenüber
denen, gegen die sich die leidenschaftlichen Anklagen des Volkes durch ganz
Deutschland erheben. Ich habe erwartet, daß von dieser Seite heute ein Wörtchen
falle, um einmal auch die in ihren eigenen Reihen zu einer gewissen Ordnung zu
rufen, die an der Entwicklung einer Mordatmosphäre in Deutschland zweifellos
persönlich Schuld tragen. Was Sie zum Beispiel, Herr Abgeordneter Körner,
persönlich in Ihren Zeitungen im Schwabenland geschrieben haben, das können Sie
nicht wieder gutmachen.
Wie weit die Vergiftung in
Deutschland geht, will ich einmal an einem Beispiel zeigen. Ich verstehe, daß
man an der Politik der Regierung, an unserem Verhalten persönlicher und
politischer Art Kritik üben kann. Warum nicht? Ich verstehe auch ein scharfes
Wort, verstehe auch Hohn und Spott im politischen Kampf, verstehe die
Verzerrung zur Karikatur. Ziel und Richtung unserer Politik ‑ das ist,
glaube ich, oder sollte es wenigstens sein, Gemeingut des ganzen Hauses ‑
Ziel und Richtung unserer Politik ist die Rettung der deutschen Nation. Die
Methode, die ist strittig. In Fragen der Methode aber sollten sich Söhne des
deutschen Volkes mindestens immer mit der Hochachtung begegnen, die es uns
ermöglicht, vor dem Ausland als eine einheitliche Nation überhaupt aufzutreten.
Wenn wir nun die Politik der letzten Jahre überschauen, so hat es, wie ich
Ihnen sagen darf, herbe Enttäuschungen gegeben, tiefster Schmerz hat sich in
unsere Seele dann und wann gesenkt, und wir haben das Zittern des deutschen
Volkskörpers in seiner Arbeiter‑ und Beamtenschaft erlebt. Da glaubt nun
ein Reichstagskollege folgendes schreiben zu können: - Der Name kommt noch. ‑
Er spricht in seinem Blatte von Forderungen über neue Beträge, die notwendig
sind, um die Arbeiter und Beamten in ihren Bezügen aufzubessern. Dann fährt der
betreffende Kollege fort:
Die jetzige Regierung ist in
Wirklichkeit nur eine vom Deutschen Reich zwar bezahlte Angestellte der
Entente, die ihre Forderungen und Vorschriften einfach zu erfüllen hat; sonst
wird sie einfach auf die Straße gesetzt und ist brotlos.
Können Sie sich eine größere
Entwürdigung von Menschen denken, die, wie wir, seit Jahresfrist an dieser
Stelle stehen? Steigt Ihnen (zu den Deutschnationalen) da nicht auch die
Schamröte ins Gesicht? Das »Deutsche Tageblatt«, Herausgeber Reinhold Wulle.
Aber die Sache hat noch eine größere Bedeutung! Hier liegt nicht nur eine
redaktionelle Verantwortung vor, sondern dieser Artikel mit den schmählichsten
Beleidigungen ist ausdrücklich geschrieben von Reinhold Wulle, Mitglied des
Reichstags. Das ist Ihr Kollege (zu den Deutschnationalen). Ich darf
fortfahren. Nun kommt er zum Schluß und sagt von uns, die wir hier seien, um
unser Brot zu verdienen, die wir Ententeknechte seien, die wir deshalb die
Politik machen, damit wir der Entente gefallen und dadurch eine Anstellung
haben:
... nur daß diese Kreise von
der Arbeiterschaft nicht zu dem Schluß kommen, daß das ganze System zum Teufel
gejagt werden muß, weil wir in Berlin eine deutsche Regierung, aber keine
Ententekommission brauchen.
Wo ist ein Wort gefallen im
Laufe des Jahres von Ihrer Seite gegen das Treiben derjenigen, die die
Mordatmosphäre in Deutschland tatsächlich geschaffen haben?! Da wundern Sie
sich über die Verwilderung der Sitten, die damit eingetreten ist? Wir haben in
Deutschland geradezu eine politische Vertiertheit. Ich habe die Briefe gelesen,
die die unglückliche Frau Erzberger bekommen hat. Wenn Sie diese Briefe gesehen
hätten ‑ die Frau lehnt es ab, sie der Öffentlichkeit preizugeben ‑,
wenn Sie wüßten, wie man diese Frau, die den Mann verloren hat, deren Sohn
rasch dahingestorben ist, deren eine Tochter sich dem religiösen Dienst
gewidmet hat, gemartert hat, wie man in diesen Briefen der Frau mitteilt, daß
man die Grabstätte des Mannes beschmutzen will, nur um Rache zu üben ‑ ‑
‑ Meine Herren (nach links), halten Sie doch ein wenig ein.
Ich bitte die Vertreter der
äußersten Linken, bei den kommenden Ausführungen, die ich zu machen habe, sich
etwas zurückzuhalten! Wundern Sie (nach rechts) sich, wenn unter dem Einfluß
der Erzeugnisse Ihrer Presse der letzten Tage Briefe an mich kommen, wie ich
hier einen von gestern in der Hand habe, der die Überschrift trägt: »Am Tage
der Hinrichtung Dr. Rathenaus!« ‑ wundern Sie sich dann, wenn eine
Atmosphäre geschaffen ist, in der auch der letzte Funke politischer Vernunft
erloschen ist? Ich will mich mit dem Briefe sonst nicht weiter beschäftigen und
nur den Schlußsatz vorlesen:
Im guten habt ihr Männer des
Erfüllungswahnsinns auf die Stimme derer nicht hören wollen, die von der
Fortsetzung der Wahnsinnspolitik abrieten. So nehme denn das harte Verhängnis
seinen Lauf, auf daß das Vaterland gedeihe!
Wollen wir aus dieser
Atmosphäre ‑ und das ist es doch, worauf es allein ankommt ‑ wieder
heraus, wollen wir gesunden, wollen wir aus diesem Elend herauskommen, dann muß
das System des politischen Mordes endlich enden, das die politische Ohnmacht
eines Volkes offenbart. Wollen wir aus diesem System heraus, so müssen alle,
die überhaupt noch auf das liebe Himmelslicht Vernunft irgendeinen Anspruch
machen, daran arbeiten, diese Atmosphäre zu entgiften. Und wie kann sie
entgiftet werden? Sie können mir gewiß zurufen: Das ist eine Frage, die man
zunächst an die Alliierten zu stellen hat! Nun, ich war Zeuge bedeutsamer
Unterhaltungen unseres ermordeten Freundes in Genua vor den mächtigsten der
alliierten Staatsmänner. Einen beredteren Anwalt in kleinen, intimen Gesprächen
‑ ernsthaften Gesprächen! ‑, einen beredteren Anwalt für die
Freiheit des deutschen Volkes als Herrn Dr. Rathenau hätten Sie in ganz
Deutschland nicht finden können! Seine Art, die Atmosphäre vorzubereiten, sie
zu gestalten, die Behandlung der Probleme aus der Atmosphäre der Leidenschaft
hinüberzuführen in ruhigere Erwägung und vornehmere Gesinnung, das hat keiner
so verstanden wir Dr. Rathenau. Ich war Teilnehmer und Zeuge eines Gesprächs
mit dem ersten englischen Minister Lloyd George, in dessen Verlauf Dr. Rathenau
ganz klar und ernsthaft sagte: »Unter dem System, unter dem uns zurzeit die
Alliierten halten, kann das deutsche Volk nicht leben!« Niemals habe ich einen
Mann edlere vaterländische Arbeit verrichten sehen als Dr. Rathenau. Was aber war
nach der rechtsvölkischen Presse sein Motiv? Ja, wenn ich in diesem Briefe
lese, daß natürlich die Verträge alle nur abgeschlossen sind, damit er und
seine Judensippschaft sich bereichern können, dann können Sie wohl verstehen,
daß unter dieser völkischen Verheerung, unter der wir leiden, unser deutsches
Vaterland rettungslos dem Untergang entgegentreiben muß. Ich war vorhin beim
Kirchgang Zeuge des Aufmarsches der großen Massen zur Demonstration im
Lustgarten. Da war Ordnung, da war Disziplin. Es war eine Ruhe; aber mögen sich
die Kreise in Deutschland durch diese äußere Ruhe nicht täuschen lassen. In der
Tiefe droht ein Vulkan! Ich muß hier das Wort wiederholen, das ich seinerzeit
gesprochen habe, daß in einem so wahnwitzigen Entscheidungskampf, den viele von
Ihnen gewissenlos herbeiführen, uns unsere Pflicht dahin führt, wo die großen
Scharen des arbeitenden Volkes stehen.
Die Frage ist ernsthaft, sie
muß hier in Ruhe erörtert werden. Gewiß können wir aus eigener Kraft ohne
Einsicht der alliierten Staatsmänner Ruhe und Ordnung in Deutschland und ein
Wiedererwachen des deutschen wirtschaftlichen Lebens nicht herbeiführen. Es ist
ganz klar ‑ und darüber soll kein Zweifel gelassen werden ‑:
Abgesehen von dem oder jenem Zeichen des Verständnisses haben die alliierten
Regierungen dem demokratischen Deutschland im Laufe eines Jahres nur
Demütigungen zugefügt. Das spreche ich offen aus: Der Wahn, der durch die Welt
ging, als ob der Ausgang des Krieges eine Sicherung demokratischer Freiheit
sei, das war eben nur ein Wahn und eine schmerzliche Enttäuschung für die deutsche,
auch die radikal gesinnte Arbeiterschaft. Die Entscheidung über Oberschlesien
lag nicht in unserer Macht. Ich kenne die Angriffe gegen die Männer, die trotz
Oberschlesien die Politik weitergeführt haben, weil es eben keinen anderen Weg
gibt. Die Entscheidung in Oberschlesien war das größte, das himmelschreiendste
Unrecht, das dem deutschen Volke durch den Bruch des Versailler Vertrages
angetan werden konnte. Ich bin von einem alliierten Staatsmanne ‑ es war
Lloyd George ‑ gefragt worden: Herr Reichskanzler, wie stellen Sie sich
zum Völkerbund? Ich habe ihm folgende Antwort gegeben: Ich bin ein Freund eines
Völkerbundes, und ich würde den Tag begrüßen, wo die große Organisation der
Völker geschaffen werden könnte, um allem, was Menschenantlitz trägt, den
Frieden auf der Welt zu bewahren. Aber ‑ so habe ich weiter gesagt ‑
will man dem Völkerbund dienen in Deutschland, so muß man zurzeit ‑ ich
unterstreiche das »zurzeit«, es war gestern vor Wochen in Genua, vielleicht ist
heute die Situation schon anders ‑, will man diesem Völkerbunde einen
Nutzen bringen, so muß man nach der Entscheidung über Oberschlesien von diesem
Völkerbunde schweigen.
Ich will dann einen zweiten
Punkt anführen. Ich erinnere an das Schicksal der fünf Weichseldörfer, das
heute noch nicht entschieden ist, an die Leiden der Saarbevölkerung, an die
großen Schmerzen der rheinischen Bevölkerung, an diese kleinlichen Schikanen,
die dort auf unseren Volksgenossen lasten und die eine Schande sind für das
gesittete Europa. Wie oft haben wir mahnend und flehend gerade nach dem Ausland
hin die Hände erhoben und haben gesagt: Gebt dem demokratischen Deutschland
jene Freiheit, deren das demokratische Deutschland bedarf, um im Herzen Europas
eine Staatsform zu schaffen, die eine Gewähr des Friedens bietet. Unsere
Mahnungen sind verhallt. Erst in dem Augenblick, wo man gesehen hat, daß die
ganze Welt leidet, wenn das deutsche Volk zugrunde geht, ist allmählich erst
durch wirtschaftliche Erwägungen der Haß etwas zurückgetreten. Aber die
politischen Folgerungen aus dieser veränderten Atmosphäre sind bis zur Stunde
noch nicht gezogen. Darüber besteht kein Zweifel. Es ist für ein
Sechzigmillionen‑Volk auf die Dauer unmöglich, unter der Herrschaft von
fremden Kommissionen, und wenn es die Herren noch so gut meinen sollten, ein
demokratisches Deutschland überhaupt lebensfähig zu machen. Da wundert es mich
nicht mehr, daß diese Erkenntnis den General Ludendorff veranlaßt hat, in einer
englischen Zeitschrift einen Artikel zu schreiben und für Deutschland die
Diktatur zu empfehlen, die monarchistische Diktatur. Dieser Artikel ist eines
deutschen Generals unwürdig. Er ist es um so mehr, als auch auf dieser Seite
(nach rechts) wiederholt die Bereitwilligkeit ausgesprochen worden ist, sich,
wenn auch nicht im Rahmen der Linien unserer heutigen Politik, an der
Gesetzgebung praktisch zu betätigen. Wenn Sie einen Mann als Ihren großen Gott
verehren, der dieses Ziel, die Diktatur für Deutschland, gerade in einem
Augenblick in England proklamiert, wo die Herzen, die in Eis gepanzert waren,
aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus zu schmelzen begannen, so zeigen diese
Träger des alten Systems, daß sie für die politische Atmosphäre der Welt weder
Vernunft noch Fingerspitzengefühl besitzen.
Ich glaube, ich war es Dr. Rathenau
schuldig, noch einige Worte hier in die Debatte einzuflechten. Ich bedauere
nicht nur als Freund seinen grausamen Tod, sondern wir sind tief unglücklich,
in ihm den großen Mitarbeiter verloren zu haben. Ich würde mich freuen, wenn
gerade in den Kreisen, die bisher unserer Politik feindlich gegenüberstanden,
ein Verständnis dafür vorhanden wäre, daß gewisse Linien unserer Politik unter
keinen Umständen verlassen werden dürfen. Aber die vielgeschmähte
Erfüllungspolitik ist nach außen sabotiert, wenn wir nach innen nicht zu einer
einheitlichen, festgefügten Auffassung unserer Politik kommen. Es geht nicht
an, Divergenzen zwischen Kanzler und Ministern zu konstruieren; und wenn sie
vorhanden sein sollten, dann muß gerade aus außenpolitischen Gründen nach einer
einheitlichen Linie der inneren Politik so schnell wie möglich gesucht werden.
Minister Dr. Rathenau hat am
Abend vor seinem Tode mit einem Herrn aus Ihrer Fraktion, meine Herren von der
Deutschen Volkspartei, bei einem Diplomaten bis 1 Uhr nachts zugebracht, nicht
etwa, wie man da und dort vermuten könnte, um sich zu ergötzen. Das Gespräch
war ein ernstes, großes politisches Gespräch um die Reparationsfrage. Die
größten Gedankengänge beschäftigten diesen Minister Tag und Nacht in der
Reparationsfrage wie in der Schuldfrage. Nachdem der Herr Kollege Hergt jetzt
in den Saal gekommen ist, darf ich sagen: wir haben gerade für die Förderung
dieser Frage durch seinen Tod unendlich viel verloren. Wir sind nicht untätig,
und das Geschrei, was draußen geübt wird, ist das törichtste, was es gegeben
hat. Man darf aber, wenn man Politik treibt und wenn man auf Jahre hinaus
schauen muß, nicht alles an die große Glocke hängen, und vor allem darf man
jene Glocke nicht läuten, für die man in meiner Heimat ein sehr böses Wort
geprägt hat. In diesem Gespräch gerade mit einem Industriellen, einem
hervorragenden Mitglied der Deutschen Volkspartei, hat sich gezeigt, daß man
das Problem der Reparation, auch wenn man sonst verschiedener Auffassung ist,
doch in starker Form fördernd in gemeinsamen Besprechungen verschiedenster
Parteien behandeln kann.
Das, was in der Welt geschehen
ist, was die englische Bank uns im Dezember geantwortet hat, was jetzt das
Komitee der Anleihesachverständigen ausgesprochen hat, ist eine Basis, auf der
alle, die in Deutschland guten Willens sind, die auswärtige Politik und die
große Frage der Kontribution, um dieses Wort zu gebrauchen, förderlich
behandeln könnten. Wir wären ja töricht, wenn wir dieses Instrument nicht in
unsere Hand nehmen würden. Es ist deshalb geradezu eine Sinnlosigkeit, wenn
sich in Deutschland die Menschen die Köpfe darüber zerschlagen, ob eine kleine,
eine mittlere oder eine große Anleihe notwendig ist. Nein, eins ist in der
Reparationsfrage notwendig, daß wir nicht eine Politik mit Ultimaten und
Terminen erleben.
Und ein Zweites ist notwendig;
darüber ist sich heute die Welt einig. Das politische Diktat heilt weder das
deutsche Volk, noch Europa, noch die Menschheit. Die Politik, die wir im
letzten Jahr wie in diesem Jahr erstrebt haben, zielt auf eine vernünftige
Lösung des ganzen Reparationsproblems auf wirtschaftlicher Basis. Wir wollen
uns nicht entziehen, wir wollen nicht davonlaufen. In keinem Augenblick, auch
nicht bei der schrecklichen Entscheidung über Oberschlesien, haben wir die
Geduld verloren, am Rettungswerk des deutschen Volkes mitzuarbeiten. Wer, wie
ich das von rechts immer höre, wie es mir aus den Zeitungen entgegentönt, mit
Faust sagt: »Fluch vor allem der Geduld«, der hat sich aus der politischen
Arbeit, aus der Rettungsarbeit für unser Vaterland ausgeschaltet. Geduld gehört
dazu. Gewiß, mit nationalistischen Kundgebungen lösen Sie kein Problem in
Deutschland. Ist es denn eine Schande, wenn jemand von uns, von der äußersten
Linken bis zur äußersten Rechten, in idealem Schwung die Fäden der
Verständigung mit allen Nationen anzuknüpfen versucht? Ist es eine Schande,
wenn wir mit jenem gemäßigten Teil des französischen Volkes, der die Probleme
nicht nur unter dem Gesichtspunkt sieht: »Wir sind die Sieger, wir treten die
Boches nieder, heraus mit dem Säbel, Einmarsch ins Ruhrgebiet«, wenn wir durch
persönliche Beziehungen mit allen Teilen der benachbarten Nationen zu einer
Besprechung der großen Probleme zu kommen suchen? Dr. Rathenau war wie kaum
einer zu dieser Aufgabe berufen. Seine Sprachkenntnisse, die formvollendete Art
seiner Darstellung machten ihn in erster Linie geeignet, an dieser Anknüpfung
von Fäden zwischen den Völkern erfolgreich zu arbeiten. Wenn dann ein Mann wie
Rathenau über trennende Grenzpfähle hinaus bei aller Betonung des Deutschen,
seines Wertes für die Geschichte, seiner kulturellen Taten, seines
Forschungstriebes, seines Wahrheitsuchens die großen Probleme der
Kulturentwicklung Europas und der Wirtschaft organisatorisch durch seine Arbeiten
in allen Ländern, dann als Staatsmann im Auswärtigen Amt mit den reichen Gaben
seines Geistes und unter Anknüpfung von Beziehungen gefördert hat, die ihm ja
das Judentum in der ganzen Welt, das kulturell und politisch bedeutsam ist,
gewährt hat, dann hat er damit dem deutschen Volke einen großen Dienst
erwiesen. Ziehen Sie auch andere Vertreter zur Arbeit heran ‑ jedem ist
die Tür geöffnet ‑, solche, die kirchlichen Organisationen angehören, sei
es der evangelischen, sei es der katholischen Kirche, aus den Arbeiterorganisationen,
allen ist die Tür für die Anknüpfung internationaler Beziehungen geöffnet. Es
ist notwendig, daß jeder Faden geflochten wird, der die zerrissenen Völker
einander wieder näherbringt. Dabei geben wir nichts auf, was unser eigenes Volk
angeht. Glaubt denn jemand in der Welt, daß es in Deutschland Toren gibt, die
meinen, daß, wenn sie die eigene Wirtschaft zu einem Friedhof eingeebnet haben,
dann die Tage des Sozialismus kämen? Daran glaubt niemand. Dieses Phantom, als
ob wir die Nation zerstören wollten, um dann erst wieder Politik zu machen, ist
doch das törichtste, was es in der Welt gibt. Geduld, wieder Geduld und
nochmals Geduld und die Nerven angespannt und zusammengehalten auch in den
Stunden, wo es persönlich und parteipolitisch angenehmer wäre, sich in die
Büsche zu drücken.
In jeder Stunde Demokratie!
Aber nicht Demokratie, die auf den Tisch schlägt und sagt: wir sind an der
Macht! ‑ nein, sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für
das eigene unglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht! In diesem
Sinne muß jeder Mund sich regen, um endlich in Deutschland diese Atmosphäre des
Mordes, des Zankes, der Vergiftung zu zerstören!
Da steht (nach rechts) der
Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. ‑ Da steht der
Feind ‑ und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!