Die Linke und die nationale Einheit

 

Die Angst der Linken vor der nationalen Einheit der Deutschen ist ein Paradoxon. Denn eigentlich hatte die demokratische Linke seit dem Vormärz für eine demokratische Republik gekämpft, die weit über das spätere Bismarcksche »Kleindeutschland« hinausgereicht hätte. Eine erste Entfremdung zwischen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und der Nationalstaatsidee trat ein, nachdem die Einheit nicht 1848 von unten her erkämpft worden war, sondern von Preußen als der Führungsmacht nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 von oben her durchgesetzt wurde. Die Ursache für eine zweite, viel tiefere Entfremdung ist die zwischen 1933 und 1945 gewonnene Erkenntnis, daß sich große Teile des Bürgertums auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise mit Hitler verbündeten, um im Inneren die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und nach außen eine imperialistische Kriegspolitik zu betreiben.

Seitdem ist das Vertrauen in die demokratische Kultur unseres Landes gestört. Teile der Linken in und jenseits der SPD machen für die freiwillige Machtauslieferung an die Nationalsozialisten übrigens nicht nur die großen bürgerlichen Parteien, die Reichswehr, die beiden Volkskirchen und das Industrie- und Finanzkapital verantwortlich; sie mißtrauen angesichts der kampflosen Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor der braunen Barbarei auch der eigenen Politik- und Aktionsfähigkeit in der Krise.

Quelle: "Die SPD und die Nation - Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit" von Tilman Fichter, Ullstein, Berlin - Frankfurt/M. 1993