Disraeli
Um 1860. Im Parlament von
Westminster vor den Bänken der Konservativen ein schwarzgekleideter Herr von
hier fremdartigem brünetten Typus. Die ursprünglich olivfarbene Haut ist im
Laufe der Jahre bräunlich geworden; die Unterlippe springt stark vor; ein
seltsamer schwarzer Kinnbart fällt auf die weiße Hemdbrust. Dieser Herr ist der
Führer einer starken Gruppe flachsbärtiger, blauäugiger Gentlemen‑Landjunker
und Industrielle. Er hat seine Leute gut am Bande, aber es ist wenig Liebe
dabei, denn die Squires kennen wohl seine geistige Überlegenheit, doch ist
ihnen der Mann etwas unheimlich, der vor einigen zwanzig Jahren als
verschuldeter Literat zu ihnen kam, der noch heute, als Respektsperson, Romane
veröffentlicht. Im Stillen schämen sie sich wohl auch ein bißchen, einem
Bücherschreiber und Intellektuellen gehorchen zu müssen. Es ist etwas Hexerei
um den Mann. Die Witzblätter zeichnen ihn als Mephisto, der Faust, den
Konservativen führt. Das ist Herr Benjamin Disraeli, Sohn des Isaak d'Israeli:
eines reichen Sonderlings von literarischen Neigungen, dessen Vater einst aus
Florenz zugewandert war. Im Juni 1878 wartet ganz London auf Lord Beaconsfield,
den Premierminister des Reiches, der soeben in Berlin auf dem Kongreß nicht nur
die Sache seines Landes glänzend verfochten, sondern auch den europäischen
Frieden gerettet hat. Am Arm seines Sekretärs wankt ein gebückter, uralter
Mann, kaum fähig mehr, ohne eine stimulierende Droge eine Ansprache zu halten.
Noch ein paar Jahre lebt er, ein unwahrscheinliches Gespenst im roten
Schlafrock, vereinsamt in seinem Landhause.
Die Geschichte dieses
seltsamen Lebens hat nunmehr André Maurois geschrieben, ein Franzose, der
England gut kennt und auch Shelley eine bemerkenswerte Studie gewidmet hat.
Seine Biographie Disraelis ist jetzt in ausgezeichneter Verdeutschung bei S.
Fischer erschienen, ein Werk von sehr klassischer Haltung, glücklich geleitet
von der besondern französischen Gabe, Dunkelheit in Lichte aufzulösen oder gar
nicht zu bemerken; ein Hauptstück der in den letzten Jahren wieder entdeckten
Kunst, Biographien zu schreiben. Was früher mit historisch‑politischen
Details befrachtet gewesen wäre, lebt und schwebt jetzt frei von Fußnoten und
gewichtigen Quellennachweisen. Es wird um den Helden keine «Zeit» entwickelt,
sparsam ausgewählt nur sind die zur Illustrierung der Epoche erforderlichen
Beispiele, in ihm selbst manifestiert sich das Zeitalter. Erstaunlich gut
versteht Maurois, die zahlreichen politischen Fragen, die mit dem Thema
verquickt sind, zu behandeln. Er nimmt nicht Partei, versucht auch nicht viel
zu erläutern, leidenschaftslos, knapp und klar beschränkt er sich aufs
unbedingt Notwendige; er schreibt ganz unpointiert, ganz ohne Blick auf
Aktualitäten. Nirgendwo versucht er seinen Leser zu verleiten, Benjamin
Disraeli für eine große tragende Figur der Geschichte zu halten; seine ruhige
Geste, diese Gestalt darzubieten zeigt die Distanz, mehr noch zeigt sie der
immer etwas verschleierte Stil, ein Stil, der sich in einer fast unmerklichen
Vergilbtheit trägt und diesem Werk eines Autors von Heute, einen kleinen
herbstlichen, fast altmodischen Reiz verleiht. In diese Zurückhaltung legt er
sehr noble Kritik. Nichts ist uns heute ferner als die Zeit, in der unsre Väter
jung waren.
Es wird eines recht deutlich:
das neunzehnte Jahrhundert war die Epoche der großen Parlamentarier. Heroische
Redekämpfe wurden in den Kammern ausgefochten. Noch ist der nivellierende
Restaurationsbetrieb nicht in die Parlamentshäuser eingezogen; nachts warten
die Frauen draußen am Themseufer im Wagen, für Minuten eilen die Deputierten
hinaus, um eine kalte Pastete zu verschlingen. Denn die Sitzungen gehen oft bis
zum Morgen. Es ist ein großes Geschlecht, das hier seine Turniere auskämpft.
Ein Kapitel, wie Disraeli, von der eigenen Fraktion abfallend, gegen den
gewaltigen Toryführer Sir Robert Peel aufsteht, ist von einer mächtigen
dramatischen Spannung und heute in keinem Parlament mehr denkbar. Und wie
großartig wird in diesen Reden Geist vergeudet, wie anspruchsvoll ist die Form,
wie schwer machen es sich alle diese Männer! Doch auch die Minusseite wird
deutlich: Die hier wahrhaft wie große Herren kämpfen, sind alle aus einer
Schicht. Sie mußten alle über die Teppiche der Gesellschaft von Mayfair gehen,
alle diese Karrieren ruhen auf seidenen Kissen. Die Wahl selbst ist eine
schlechte Posse, die durch Stimmenkauf erledigt wird, aber sie kostet ein
Vermögen und wird nur durch reiche Gönner und Freundinnen möglich. Alle
Politiker müssen sich von der großen Welt ins Parlament tragen lassen; sie
werden von Frauen lanciert oder lancieren selbst welche; sie müssen die besten
Clubs passieren, die auffallendsten Diners geben, bei dem elegantesten
Schneider arbeiten lassen, durch die teuersten Maitressen glänzen und den stets
möglichen Ruin mit Gelassenheit hinnehmen. Der junge Disraeli, den man gern
«Dizzy» nannte, war Dandy und Literat, aus dem Judentum früh ausgeschieden, von
einem romantisch ritterlichen und, alles nur in allem, gräßlich versnobten
Engländertum erfüllt. Was ihn über diese fade Gesellschaft erhebt, ist sein
grenzenloser Machthunger, der seinem eher spitzen, kritischen und ruhelosen
Intellekt wahre Wunder abzwingt. Als ein berühmter Minister den Verfasser
einiger Moderomane, den Amuseur, den Pagen, und oft wohl auch Parasiten
vornehmer Damen einmal fragt, was er denn eigentlich werden wolle, antwortete
er keck und knapp: «Premierminister ... » Und ein ander Mal, als in einer
kleinen Konversation mit drei Salonschönheiten die schwere Frage erörtert wird,
welches Los das begehrenswerteste sei, da bricht der junge Stutzer wahrhaft
bonapartisch aus: «Ein glänzender, ununterbrochener Triumphzug von der Jugend
bis zum Grabe. »
Solche Reden machen suspekt.
Obgleich Herr Disraeli die elegantesten Röcke trägt und mindestens so viel
Schulden hat wie ein Herr von Geblüt, ist eine frostige Zone um ihn. Der
Verfasser von Tendenzromanen, von Emanzipationsromanen, der außerdem die
Bedeutung der Arbeiterfrage früh erkannt hat, während Manchester noch Trumpf
ist, bleibt eine verdächtige Erscheinung. Man traut ihm viel gefährliche
charakterlose Durchtriebenheit zu oder nimmt ihn ganz einfach als Phantasten.
Er hat Imagination, Sarkasmus und eine deklamatorische Beredsamkeit, die nach
schöner Literatur schmeckt. Er ist im Grunde viel englischer als man denkt.
Seine Neigungen gehen auf ein schönes, altes, englisches Haus, in einem
schönen, alten, englischen Park. Er möchte Landherr sein wie die Freunde, mit
denen er im Club spielt und trinkt. Als Politiker debütiert er erfolglos bei
den Radikalen, dann schwenkt er, ohne Übergang, zu den Tories. Bei den
Konservativen findet er das gute bodenständige und unverbrauchte Engländertum,
das er innig liebt: diese Leute sind zwar rückständig aber ganz sie selbst. Bei
den Liberalen verachtet er die Hypokrisie, das humanitäre und puritanische
Geschwätz, das so oft merkantile Interessen verbirgt. Aber niemals, auch nicht
in seinem späten überwältigenden Triumph verläßt ihn das Gefühl tragischer
Einsamkeit. Als Jüngling hat er den leuchtenden Kometenzug Byrons erlebt, die
Pose Don Juans, die Pose von Melancholie und Verruchtheit, die beliebte
Kavaliersgeste von 1830 ist ihm ins Blut gegangen, eine ästhetische
Salonhaltung ist in ihm Wahrheit geworden. Vor sich selbst ist er immer wie
einer der abtrünnigen Engel Miltons. Und die Andern wissen es; sie beugen sich,
aber keiner liebt diesen mit Fegefeuer
getauften Juden. Vieles an dieser Jugend erinnert an Ferdinand Lassalle ...
Vielleicht wäre auch Disraeli ein großer Radikaler geworden. Die Erkenntnis
dazu hatte er. Doch mit zweiunddreißig Jahren kommt er als Konservativer ins
Parlament. Unter schwarzgekleideten Gentlemen ein Dandy in flaschengrünem Rock
mit weißer, kettenbehängter Weste. Erstaunt und belustigt blickt alles auf den
affektierten Herrn, dessen mattovales Gesicht, von schwarzen, sorgsam
gekräuselten Locken umrahmt, exotisch wirkt, Seine Beredsamkeit fällt hier ab.
Er legt sich mit irischen Abgeordneten an, die Sache der Tories mit dem Pathos
Dantons vertretend. Es gibt einen ungeheuren Skandal. Die Whigs und die Iren
pfeifen ihn aus. Die Freunde gucken steif in die Luft. Da geschieht, was diese
respektable Versammlung noch niemals erlebt hat. Der Debütant, anstatt sich zu
trollen, schreit, die Hände erhoben, den Mund weit aufgerissen, mit übermenschlicher
Stimme in den Tumult hinein: «Ich setze mich jetzt; aber die Zeit wird kommen,
da Sie mich anhören!» So schreit ein verwundeter Ehrgeiziger, ein junger
Bonaparte, der nicht General werden darf, sondern warten muß, warten ... Im
Saal ist es ganz ruhig geworden. Achselzucken. Lord Stanley, sein Parteiführer,
nimmt das Wort und geht nicht mit einer Silbe auf den Zwischenfall ein ...
Doch der Debutant hat gelernt.
Seine Rede wird von nun an schmuckloser. Später spricht er ganz und gar mit
jener nüchternen Präzision, die immer die besten politischen Rhetoren Englands
ausgezeichnet hat. Aber durch Jahrzehnte noch bleibt das Mißtrauen um ihn.
«Weiß doch niemand recht, an wen der glaubt ... » Der Aufstieg erfolgt langsam.
Bonaparte muß sich ans Warten gewöhnen. Jugend schwindet. Pathos weicht der
Berechnung. Ein kalter unbarmherziger Dialektiker ist es, der als
Zweiundvierzigjähriger den großen Premierminister Sir Robert Peel stürzt, den
Konservativen, der sich Cobdens Freihandelsprinzipien verdächtig genähert hat.
Jetzt ist Disraeli in der Leadership. Er wird drei Mal Schatzkanzler, zwei Mal
Premier. Das letzte Mal hält er sich von 1874‑80. Es ist das große
Kabinett der Bildung des Empire und des Konfliktes mit Rußland, der auf dem
Berliner Kongreß mit Englands Sieg endet. Die außenpolitische Superiorität, die
unter den liberalen Führern Lord John Russel und Gladstone verloren gegangen
ist, wird wiederhergestellt, innere Reformen kommen hinzu, die den Whigs Wind
aus den Segeln nehmen. Benjamin Disraeli wird der Schöpfer jenes bürgerlichen
England, das sich in seiner seltsamen Mischung von Reaktion und Fortschritt bis
in unsre Tage hält und dem erst heute im roten Rußland ein neues, seine
Existenz bedrohendes System gegenübersteht. Der alte Disraeli humpelt gichtbrüchig
und asthmatisch durch seinen Triumph dem Grabe zu. Aber der Geist im
verfallenden Körper ist leichter und beherrschter als je. Spielend leitet der
Greis die schwer behandelbare Königin, die den korrekten Gladstone verabscheut.
Denn sein Vortrag ist grazil und mit Anekdoten gespickt, er nimmt die Königin
ganz als Frau, während der ehrenfeste Whig Gladstone in ihr vornehmlich eine
verfassungsmäßige Institution sieht, an die er mit einer in Massenversammlungen
erprobten Stimme seine Ansprachen richtet. Der alte Disraeli, der als junger
Beau mit den Töchtern Sheridans kokettiert hat, bringt einen letzten späten
Hauch von Rokoko in die gähnende Langweiligkeit der königlichen Gemächer. Es
ist nicht ohne Ironie, daß dieser letzte große Courtisan, der gewiß einer neuen
Semiramis würdig gewesen wäre, eben nur der Seladon der Queen Victoria war, die
nach kurzem, romantischem Eheglück prüde und philiströs wurde, solide englische
Küche liebte und stark in die Breite ging. Die andre und größere Ironie, die des
historischen Geschehens aber ist, daß der Mann des endgültigen bürgerlichen
Durchbruchs in England eben der Führer einer Partei war, die man gemeinhin mit
dem Rückschritt identifiziert. Jetzt erst ist in der Politik das Monopol der
Feudalherren erledigt, die Aristokratie wird zur pomphaften heraldischen
Attrappe; die Regierung gehört von nun an den Männern, die die Zeit braucht.
Von nun an ist der Weg frei für die begabten Außenseiter, für den robusten
Radikalen Lloyd George, der den Krieg gewinnen, für Rufus Isaacs, der als Lord
Reading nach Indien gehen und noch ein Mal das Imperium retten wird. In seinen
letzten Jahren sieht Disraeli im Unterhaus einen Abgeordneten von Birmingham,
dessen selbstbewußte Art, sein Monokel zu tragen, den Stutzer von 1830 ärgert.
Es ist Joe Chamberlain, der sein Werk fortsetzen wird ...
André Maurois beherrscht die
große Kunst, die Geschichte eines solchen Lebens ganz zeitlos vorzutragen. Das
ist um so schwieriger, da vieles, um was vor fünfzig Jahren gestritten wurde,
auch noch heute nicht ausgekämpft ist, vieles nur den Namen gewechselt hat. Die
kluge Dämpfung ist die besondere Virtuosität des Herrn Maurois, und er zeigt
seine schriftstellerischen Gaben nirgends glänzender als wenn er von Gladstone
spricht, Disraelis heftigstem Rivalen, dem er gewiß ähnliche Gefühle
entgegenbringt wie die alte Dame von Windsor. «Gladstone hatte sein ganzes Leben
hindurch sich wie der kleine Junge in der Sonntagsschule geführt. In Eton
sprach er morgens und abends sein Gebet. In Oxford tranken 1840 die jungen
Leute weniger, weil 1830 Gladstone dort gewesen war. » Kann man eleganter einen
Abgrund von Hohn aufzeigen? Gewiß sind es Stöße mit umwickelter Spitze, aber
die Waffe ist edel, und man liebt die Hand, die sie führt. Grade bei solchen Sätzen
wird von neuem kund, daß sie nur in einer Sprache gedacht werden konnten und
weshalb diese Sprache für ein paar Jahrhunderte Europa beherrscht hat.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 10. Juli 1928