Deutschland - Die Kultur

 

Die ältesten Spuren germanischer Kultur finden wir, abgesehen von vorgeschichtlichen Funden, in Schmucksachen mit Tier- und Flechtornamenten der Völkerwanderungszeit, im Einschlag nordischer Schmuckmotive in der Kunst des Langobardenreiches und des Ostgotenreiches und den Lichterkronen des Westgotenkönigs Reccesvinthus. Höher entfaltete sich die Kunst seit der Zeit um 800 n. Chr. im Reiche Karls des Großen. Byzantinische und lateinische Einflüsse kreuzen sich oder lösen sich ab in Bauwerken, wie der achteckigen Pfalzkapelle zu Aachen oder in der Pfalz: zu Ingelheim.

 

Eine wirkliche Blüte erlebte die deutsche Kultur aber erst im romanischen Zeitalter. Die gewaltigen romanischen Dome in Mainz, Worms und Speyer, die Kaiserpfalzen zu Goslar und Gelnhausen sind die stolzesten Zeugen dieser Epoche zwischen 1000 und 1250.   Aber auch im Bereich der Plastik, z. B. mit der Bronzetür am Dom zu Hildesheim oder der Pforte des Freiberger Doms, entstanden bereits herrliche Kunstwerke. Zur Kulturleistung muß jedoch auch die Urbarmachung weiter Landstriche in jenem Zeitraum gezählt werden.

 

Im folgenden Hochmittelalter brachte Deutschland die größten Dichter der Epoche hervor: Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Im Nibelungenlied ist uns aus jener Zeit die eindruckvollste "altdeutsche" Dichtung überliefert. Später als in Frankreich gelangt der gotische Stil in Deutschland zum Durchbruch. Die gotische Baukunst am Rhein war noch ganz von französischen Einflüssen beherrscht, wie die Dome zu Straßburg und Köln zeigen. Selbständig aber ist schon die reiche Entwicklung der Türme, die sich am ausgeprägtesten am Freiburger Münster zeigt. Aus dem 14. und 15. Jahrhundert ragen das Ulmer Münster, die Kreuzkirche in Gmünd, die Dome in Wien und Prag hervor. Sie sind zugleich Zeugnisse der echten und tiefen Religiosität dieser Zeit. Ebenso eigenartig wie selbständig entwickelte sich im Norden der gotische Backsteinbau, dessen Höhepunkte in Lübeck, Wismar und Danzig noch heute zu bewundern sind. Von dem Aufblühen der Städte in diesem Zeitalter und dem wachsenden Gemeinsinn des werdenden Bürgertums zeugen die stattlichen Rathäuser in Bremen, Braunschweig oder Lübeck, die zahlreichen Tortürme, Zunftbauten und Bürgerhäuser in vielen Städten Deutschlands.

 

Die im Mittelalter beginnenden Einflüsse des deutschen Kulturkreises auf den slawischen Osten zogen sich fast ein halbes Jahrtausend hin. Sie begannen unter Heinrich I. und Otto I., wurden machtvoll gefördert von Heinrich dem Löwen und vom Deutschen Orden entscheidend getragen.

 

Nach der nordischen Renaissance, die das Naturgefühl in Deutschland wiedererwachen ließ, zog die italienische Renaissance in Deutschland ein und wurde hier zu einer selbständigen Wirkung gebracht. Die kölnische und die oberrheinisch‑schwäbische Malerschule wurden zu den Trägern eines neuen Realismus, Konrad Witz und Martin Schongauer sind nur zwei Namen, die sich unsterblich mit dieser Entwicklung verbinden. Es folgte eine große Zeit der deutschen Malerei mit Holbein d. Ä., Matthias Grünwald, Hans Baldung Grien, Albrecht Dürer, Holbein d. J. und Lucas Cranach. Im Bereich der Plastik schufen die Holzschnitzer Veit Stoß und Tilman Riemenschneider, der Steinmetz Adam Krafft und der Erzgießer Peter Vischer unvergängliche Werke. Über das Kunstgewerbe drang die Renaissance in die Baukunst ein. Viele Zeugnisse dieser Bauepoche begegnen uns noch heute: der Otto‑Heinrichs‑Bau des Heidelberger Schlosses, die Schloßbauten von Torgau, Liegnitz oder Brieg, die stattlichen Patrizierhäuser von Nürnberg, die zahlreichen Rathäuser, Zeughäuser, Gildenhäuser und Wohnbauten in Leipzig, Braunschweig, Halberstadt oder Hildesheim.

 

Die Erfindung des Buchdrucks, die von Italien eindringende humanistische Geistesströmung und der wachsende Verfall der Kirche bewirkten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Abwendung vom mittelalterlichen Geist und ließen neue Bildungs‑ und Persönlichkeitsideale entstehen. In Martin Luther gewannen diese Bewegungen, soweit sie das deutsche Sprachgebiet angehen, ihren Lenker und Mittelpunkt. Unerschütterlicher Glaube, starker Wille und genialer Blick für das Bedürfnis der Zeit und seines Volkes vereinten sich in ihm mit höchster Sprachgewalt. Mit seiner Bibelübersetzung nach dem Meißenschen Kanzleideutsch schuf er die Wurzeln für unsere deutsche Hochsprache, mit seinen Kirchenliedern die Vorbilder des protestantischen Kirchengesanges.



Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges war zugleich ein Tiefpunkt der deutschen Kulturentwicklung. Nur sehr langsam begann eine neue Blütezeit sich anzubahnen. Mit Andreas Schlüter, der die bedeutendsten Barockbauten des unter holländischen Einflüssen stehenden deutschen Nordens schuf ‑ Vollendung des Zeughauses, Ausbau des Schlosses in Berlin ‑ und Pöppelmanns Zwinger in Dresden erwachte ein neuer Stil, der freilich nur im Süden, z. B. in Wien mit den Bauten Fischer von Erlachs und Hildebrandts einen Triumph feierte. Schon dem Rokoko-­Zeitalter gehören das Versailles nachgebildete Würzburger Schloß J. B. Neumanns, Behrs Frauenkirche in Dresden, Chiaveris Hofkirche gleichfalls in der sächsischen Residenzstadt ‑, aber auch das Pillnitzer Schloß und die unter Friedrich dem Großen in Sanssouci entstandenen Bauwerke an. Im Kunstgewerbe blühte im Zeitalter des Barock insbesondere nach 1660 die Gold‑ und Eisenschmiedekunst sowie die Elfenbeinschnitzerei. Neu hinzu kam in der Ära des Rokoko ab 1709, nach Böttchers Enthüllung eines alten chinesischen Geheimnisses, die Kunst des Porzellans.

 

Von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung der deutschen Kultur war das Auftreten Johann Joachim Winckelmanns, an das sich auf allen Gebieten der Kunst eine streng klassizistische, auf die antiken Vorbilder zurückgehende Richtung anschloß. In der Baukunst brachte die bedeutendsten Leistungen in dieser Richtung Karl Friedrich Schinkel in seinen Berliner Bauten hervor. In München folgten Leo von Klenze, in Karlsruhe Friedrich Weinbrenner ähnlichen Idealen. Daneben stand schon bald das frische Naturgefühl eines Gottfried von Schadow, das der Plastik neue Impulse brachte.

 

Als 1748 Friedrich Karl Klopstock mit den ersten drei Gesängen seines "Messias" hervortrat, erweckte er nicht nur die deutsche poetische Sprache zu neuem Leben, sondern brachte Schwung und Begeisterung in das deutsche literarische Dasein. Es begann eine Hoch‑Zeit des Geisteslebens, die Deutschlands Ruhm als Land der Dichter und Denker begründete. Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller sind die "geistigen Leuchtfeuer" dieser fruchtbaren Epoche, die in der Lyrik mit Friedrich Hölderlin ihren Ausklang hatte. Die der Klassik vorangehende Sturm‑ und Drangperiode der deutschen Literatur brachte ein starkes Streben nach Ursprünglichkeit und pflegte die Ideale des Vaterlandes, der Freundschaft und der Tugend. Johann Hinrich Voss, der Übersetzer des Homer und Gottfried August Bürger, der Meister der Ballade, waren wohl die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung, die zwischen 1805 und 1830 in die Romantik führte, welche durch Begeisterungswillen und Formgefühl uns auch heute noch tief berührt. Clemens Brentanos und Achim von Arnims Liedersammlungen, die Lyrik Adalbert von Chamissos und des Freiherrn von Eichendorff, die Freiheitsgesänge Ernst Moritz Arndts und Max von Schenkendorfs, aber auch die Dichtungen Ludwig Uhlands und Friedrich Rückerts gehören zum bleibenden Bestand dieses Zeitalters, aus dem Heinrich von Kleist wohl als selbständigste und nach höchsten Idealen strebende Persönlichkeit herausragt.

 

Reich ist das 19. Jahrhundert wie kein anderes an großen Schriftstellern; es brachte auch Franz Grillparzer, den nach Goethe und Schiller größten Dramatiker der Deutschen hervor, Ferdinand Reimund muß mit seinen Zauberpossen ebenso erwähnt werden wie Gustav Schwab, der Sagensammler, die Gebrüder Grimm als Meister des deutschen Märchens, die großen politischen Dichter wie Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Georg Herwegh oder die "Nachzügler" der Romantik, wie Annette von Droste‑Hülshoff oder Eduard Mörike.

 

Auch die Malerei der Romantik fand ihren bewunderungswürdigen Ausdruck in den Arbeiten von Moritz von Schwind, Ludwig Richter, Ferdinand Waldmüller und Caspar David Friedrich. Die deutschen Maler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich nur schwer in eine Kunstrichtung einordnen: da stand Adolph Menzel, fast alle Techniken der Zeit beherrschend, neben Karl Spitzweg und Anton Defregger, die das Genrebild pflegten, und Ludwig Thoma, der sich an altdeutschen Formen orientierte; da wirkte der überragende Porträtmaler Franz von Lenbach neben Max Liebermann, der bereits den Impressionismus verkörperte.

 

Im Felde der Baukunst trat Mitte des 19. Jahrhunderts neben den Klassizismus in wachsendem Maße die Neugotik, deren Hauptvertreter der Wiener Friedrich von Schmidt war und die Wiederentdeckung der Renaissance, die besonders in Gottfried Sempers Hoftheater in Dresden einen Gipfelpunkt erreichte. Die Meister der Folgezeit verwendeten die alten Stile zunehmend in freier und persönlicher Weise und verwoben sie so miteinander, daß trotzdem markante und unverwechselbare Bauwerke entstehen konnten; Paul Wallots Reichstags‑Bau in Berlin, Ludwig Hoffmanns Reichsgericht in Leipzig, Friedrich von Thierschs Justizpalast in München, Heinrich Freiherr von Ferstels Votiv-­Kirche in Wien sind Beispiele dafür. Monumentale Nationaldenkmäler wie das Völkerschlachtdenkmal zu Leipzig oder das Kaiser‑Wilhelm‑Denkmal am Kyffhäuser sind Versuche künstlerischer baulicher Gestaltung der Zeit vor und nach der Jahrhundertwende, die freilich durch das Aufkommen der neuen Baumaterialien Stahl und Beton verdrängt werden. Der jetzt entstehende und bis in unsere Tage reichende funktionale Stil verzichtete weitgehend auf die Verwendung von Bauornamenten oder die Nachahmung historischer Formen, obwohl z. B. William Lossows 1915 vollendeter Leipziger Hauptbahnhof oder Heinrich Tessenows Festspielhaus der Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik in Hellerau keinesfalls schon jene abstoßende Kälte und Eintönigkeit ausstrahlen, wie moderne Betonbauten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in West‑ und Mitteldeutschland. Die ausgeprägte Sachlichkeit und Kargheit moderner Bauformen hat mit Walter Gropius und Hans Poelzig auch zwei weit über die deutschen Grenzen hinaus wirkende Vertreter hervorgebracht.

 

In der Literatur entwickelte sich der Roman in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Einflüssen von Balzac und Dickens ebenso wie die Novelle als Kunstwerk sich immer weiter ausprägte. Namen wie Gustav Freytag, Karl Gutzkow, Wilhelm Raabe und Gottfried Keller verbinden sich mit dieser Zeit. Die Ära nach 1871 war eine Ära der Verflachung, erzeugt durch übertriebenen Materialismus, wie er durch die französischen Reparationen nach der Reichsgründung noch gefördert wurde. Ob neben den Romanen, Reisebeschreibungen und Gedichten Theodor Fontanes, den Erzählungen Ferdinand von Saars, den einfühlsamen Beschreibungen und Erzählungen Marie von Ebner‑Eschenbachs und Peter Roseggers noch viel Bleibendes aus dieser Epoche erwähnt werden kann, bleibt zu bezweifeln.

 

Impulse aus Frankreich, Skandinavien und Rußland aufnehmend, entwickelte sich ab 1880 der Naturalismus, der mit Gerhart Hauptmann seinen Hauptvertreter hervorbrachte; neben ihm sind zu nennen: der Lyriker Detlev von Liliencron, der ostpreußische Erzähler Hermann Sudermann, die Dramatiker Max Halbe und Arno Holz. Aus der Krise des Ersten Weltkrieges wuchsen vielfältige literarische Formen des Experimentierens, von denen man ähnlich denen nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht sagen kann, was in den unverlierbaren Bestand unserer Literatur eingehen wird. Große Namen unseres Jahrhunderts, vielleicht der Lyriker Josef Weinheber, Ernst Jünger, der vielseitige Essayist und Forscher, der Novellist Friedrich Franz von Unruh, die Erzähler Friedrich Lenz, Manfred Hausmann, Werner Bergengruen sowie einige Heimatdichter werden dabei sein.

 

Die großen Epochen, die in der bildenden Kunst und der Literatur hier skizziert wurden, könnten für weitere Bereiche ergänzt werden! Da ist der Weg unserer Musikkultur von den Minnesängern über Paul Gerhardt, hin zu Johann Sebastian Bach und Friedrich Händel, und weiter über Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven und Carl Maria von Weber bis Franz Schubert, Robert Schumann, Richard Wagner, Anton Bruckner und Johannes Brahms. Da ist der Weg der deutschen Philosophie von den theologischen Anfängen über Gottfried Wilhelm Leibniz, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Hegel, Friedrich Schelling, Friedrich Ernst Schleiermacher, Arthur Schopenhauer zu Oswald Spengler, Martin Heidegger und Karl Jaspers. Da ist auch der Weg der deutschen Naturwissenschaften, der mit Namen wie Nikolaus von Cues, Nikolaus Kopernikus und Friedrich Kepler, aber auch Karl Friedrich Gauß, Hermann von Helmholtz, Justus von Liebig, Gregor Mendel, Robert Koch, Wilhelm Conrad Röntgen, Robert Bosch und Ferdinand Porsche direkt in unsere Gegenwart führt. Da wären weiter ähnliche Wege im Bereich der Geschichtsschreibung, der einzelnen Wissenschaften und der verschiedenen Eigenkulturen der deutschen Stämme zu beschreiben.

 

An diese großen Traditionen anzuknüpfen, ist die Aufgabe der jungen Generation, sie schöpferisch weiterzuentwickeln, eines ihrer wichtigsten Ziele. Deutschland wird leben, wenn der Wille zur Fortsetzung seiner Kultur nicht erlahmt!

 

Quelle: Uwe Grewe in "kulturelle arbeitshefte" Nr. 5, herausgegeben vom Bund der Vertriebenen, Bonn 1980/83, S. 14 - 17