Die deutsche Weltfrage
Deutschland - das protestierende Land
Und nun wollen wir auf
Deutschland zu sprechen kommen, auf seine jetzige Aufgabe, seine jetzt
verhängnisvolle und zugleich auch alle anderen angehende Weltfrage. Was ist das
denn für eine Aufgabe? Und warum hat sich diese Aufgabe erst jetzt in eine so
schwierige Frage für Deutschland verwandelt, warum nicht schon früher, sondern
erst unlängst, knapp vor einem Jahr, oder gar erst vor kaum zwei Monaten?
Deutschland hat nur eine
Aufgabe, hat sie auch früher schon und immer gehabt. Das ist sein Protestieren ‑
nicht bloß jene eine Formel des Protestierens, welche sich unter Luther
entwickelt hat, sondern sein ständiger Protest gegen die römische Welt,
einsetzend mit Arminius, gegen alles, was Rom und römische Aufgabe war, und
später gegen alles, was vom alten Rom aufs neue Rom und auf all die Völker
überging, die Roms Idee, seine Formel und sein Wesen übernahmen, der Protest
gegen die Erben Roms und gegen alles, was dieses Erbe ausmacht. Ich bin
überzeugt, daß manche Leser über das, was ich soeben geschrieben, die Achseln
zucken und lachen werden: »Wie kann man nur im neunzehnten Jahrhundert, im
Jahrhundert der freien Ideen und der Wissenschaft, noch über Katholizismus und
Protestantismus reden und streiten, als wären wir noch im Mittelalter! Es gibt
ja allerdings noch religiöse Leute und sogar Fanatiker, aber die haben sich
doch meist nur wie archäologische Raritäten erhalten, die verdammt und verlacht
und von allen verurteilt in weltfernen Winkeln sitzen, ein armseliges,
klägliches Häuflein rückständiger Leutchen. Wie kann man sie bei einer so
großen Frage, wie es die der Weltpolitik ist, überhaupt nur erwähnen?«
Ich aber meine nicht den
religiösen Protest, noch denke ich dabei an die zeitweiligen Formeln der
altrömischen Idee, noch an den ewig gegen sie gerichteten germanischen Protest.
Ich nehme nur die Grundidee, die schon vor zweitausend Jahren aufgetaucht und
seit der Zeit nicht gestorben ist, obgleich sie sich fortlaufend in
verschiedenen Arten und Formeln verkörpert hat. Und heute ist es die Erbin
Roms, die äußerste westeuropäische Welt, die sich in den Geburtswehen einer
neuen Umgestaltung dieser ererbten alten Idee windet und quält. Das ist für
denjenigen, der zu schauen versteht, schon dermaßen sichtbar, daß es für ihn
keiner weiteren Erklärungen bedarf.
Das alte Rom war die erste
Macht, die die Idee einer universalen Vereinigung der Menschen hervorbrachte,
und die erste, die da glaubte (und fest überzeugt war), sie praktisch in
Gestalt einer Weltmonarchie verwirklichen zu können. Diese Formel jedoch fiel
vor dem Christentum ‑ die Formel, aber nicht die Idee. Denn diese Idee
ist die Idee der europäischen Menschheit, aus ihr bildete sich deren Kultur,
für sie allein lebt sie überhaupt. Es fiel bloß die Idee der universalen römischen
Monarchie, und sie wurde durch das neue Ideal einer wiederum universalen neuen Vereinigung
in Christo ersetzt. Dieses neue Ideal zerspaltete sich in das östliche, das
Ideal der vollkommen geistigen Vereinigung der Menschen, und das
westeuropäische, römisch‑katholische des Papstes, das dem östlichen
durchaus entgegengesetzt ist. Diese westliche, römisch‑katholische
Verkörperung der Idee vollzog sich auf ihre Art, ohne den christlichen
geistigen Ursprung der Idee ganz zu verlieren, und indem sie diese Idee mit dem
altrömischen Erbe verband. Das römische Papsttum verkündete, daß das
Christentum und seine Idee ohne die universale Beherrschung der Länder und
Völker, ‑ nicht geistig, sondern staatlich, mit anderen Worten: daß es
ohne die irdische Verwirklichung einer neuen universalen römischen Monarchie,
deren Haupt nicht der römische Imperator, sondern der Papst sein würde ‑
nicht zu verwirklichen wäre. Und da begann dann wieder der Versuch einer
universalen Monarchie ‑ ganz und gar im Geist der altrömischen Welt, aber
doch schon in einer anderen Form. Auf diese Weise ist das östliche Ideal:
zuerst die geistige Vereinigung der Menschheit in Christo anstreben und dann
erst, kraft dieser geistigen Vereinigung aller in Christo, die zweifellos sich
aus ihr sich ergebende rechte staatliche wie soziale Vereinigung verwirklichen.
Nach der römischen Auffassung ist das Ideal dagegen das umgekehrte: zuerst sich
eine dauerhafte staatliche Vereinigung in der Form einer universalen Monarchie
zu sichern und dann, nachher, meinetwegen auch eine geistige Vereinigung
zustande zu bringen unter der Obrigkeit des Papstes, als des Herrn dieser Welt.
Dieser Versuch hat seitdem in
der römischen Welt Fortschritte gemacht und sich ununterbrochen verändert. Mit
der Entwicklung dieses Versuchs ist dann der wesentlichste Teil der
christlichen Grundsätze fast gänzlich eingebüßt worden. Als jedoch die Erben
der altrömischen Welt schließlich das Christentum geistig verwarfen, da
verwarfen sie mit ihm auch das Papsttum. Das geschah im Sturm der schrecklichen
Französischen Revolution, die im Grunde nichts anderes war als die letzte
Gestaltsveränderung oder Umverkörperung dieser selben altrömischen Formel der
universalen Vereinigung. Doch die neue Formel erwies sich als ungenügend, die
neue Idee verwirklichte sich nicht. Es gab sogar einen Augenblick, wo alle
Nationen, welche die altrömische Sendung übernommen hatten, fast verzweifelten.
Oh, versteht sich, der Teil der menschlichen Gesellschaft, der 1789 für sich
die politische Suprematie gewonnen hatte ‑ die Bourgeoisie ‑,
triumphierte natürlich und erklärte, daß weiter zu gehen nun nicht mehr nötig
sei. Dafür aber schlugen sich alle die Geister, die nach den unvergänglichen
Gesetzen der Natur zur ewigen Beunruhigung der Welt bestimmt sind, zum Suchen
neuer Formeln des Ideals und des neuen Wortes, wie sie beide unentbehrlich
sind, ‑ sie alle schlugen sich zu den Erniedrigten und Umgangenen, zu
denen, die von der neuen Formel der allmenschlichen Vereinigung, die von der
Französischen Revolution 1789 proklamiert worden war, nichts erhalten hatten.
Diese Geister verkündeten nun ihr neues Wort, gerade die Notwendigkeit der
Allvereinigung der Menschheit, und zwar nicht mehr in der Absicht, Gleichheit
der Lebensrechte für etwa einen vierten Teil der ganzen Menschheit zu schaffen
und die übrigen bloß als Rohmaterial und auszunutzendes Mittel zum Wohl dieses
Viertels bestehen zu lassen, sondern im Gegenteil, um die Allvereinigung der
Menschen auf den Grundsätzen der allgemeinen Gleichheit zustande zu bringen,
mit der Teilnahme aller und jedes einzelnen an der Nutznießung der Güter dieser
Welt, welcher Art sie auch sein mögen. Zur Verwirklichung dieser Lösung aber
beschlossen sie, sich jedes Mittels zu bedienen, also durchaus nicht nur mit
den Mitteln der christlichen Zivilisation vorzugehen, vielmehr vor nichts mehr
stehen zu bleiben.
Was hat nun Deutschland in
diesen ganzen zweitausend Jahren mit alledem zu tun gehabt? Der
charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stolzen und eigenartigen
Volkes bestand schon seit dem ersten Augenblick seines Auftretens in der
geschichtlichen Welt darin, daß es sich niemals, weder in seiner Sendung noch
in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen europäischen Welt hat
vereinigen wollen, das heißt mit all den Erben der altrömischen Sendung. Es hat
die ganzen zweitausend Jahre gegen diese Welt protestiert, und wenn es auch
sein eigenes Wort nicht aussprach ‑ und es überhaupt noch nie
ausgesprochen hat, sein scharf formuliertes eigenes Ideal, zum positiven Ersatz
für die von ihm zerstörte altrömische Idee ‑ so, glaube ich, war es doch
im Herzen immer überzeugt, daß es noch einmal imstande sein werde, dieses neue
Wort zu sagen und mit ihm die Menschheit zu führen. Schon mit Armin begann es,
gegen die römische Welt zu kämpfen. Darauf, zur Zeit des römischen
Christentums, kämpfte es mit dem neuen Rom mehr denn jedes andere Volk um die
Vorherrschaft. Und endlich protestierte es in der mächtigsten Weise, indem es
die neue Formel des Protestes aus den geistigsten, elementarsten Gründen der
germanischen Welt zog. Die Stimme Gottes tönte aus ihm und verkündete die
Freiheit des Geistes. Die Spaltung war furchtbar und allgemein ‑ die
Formel des Protestes war gefunden und ging in Erfüllung, wenngleich es noch
immer eine negative Formel blieb, und das positive Wort noch immer nicht gesagt
wurde.
Und siehe, nachdem der
germanische Geist dieses neue Wort des Protestes gesprochen, erstarb er
gleichsam für eine Zeitlang, und zwar geschah das parallel mit einer
ebensolchen Erschlaffung der früher scharf formulierten Einheit der Kräfte
seines Gegners. Die äußerste westliche Welt suchte, unter dem Einfluß der
Entdeckung Amerikas, der neuen Wissenschaften und der neuen Grundsätze, sich in
eine andere neue Wahrheit umzugestalten, gewissermaßen in eine neue Phase
einzutreten. Als der erste Versuch dieser Umgestaltung zur Zeit der
Französischen Revolution gemacht wurde, da war der germanische Geist in großer
Verwirrung und nahe daran, seine Individualität zu verlieren, mitsamt dem
Glauben an sich. Er konnte nichts gegen die neuen Ideen der äußersten
westeuropäischen Welt sagen. Luthers Protestantismus hatte seine Zeit schon
längst hinter sich, die Idee aber des freien Geistes, der freien Forschung war
bereits von der Wissenschaft der ganzen Welt angenommen worden. Der riesige
Organismus Deutschland fühlte mehr denn je, daß ihm sozusagen der Körper und
die Form für seinen Ausdruck fehlten. Und damals war es denn auch, daß in ihm
das dringende Bedürfnis entstand, sich wenigstens äußerlich zu einem einzigen festen
Organismus zusammenzufügen, in Anbetracht der herannahenden neuen Phasen seines
ewigen Kampfes mit der äußersten westlichen Welt Europas. Hierbei ist nun ein
interessantes Zusammentreffen bemerkenswert: Beide feindlichen Lager, beide
Gegner, beide Kämpfer um die Hegemonie im alten Europa ergreifen und erfüllen
zu ein und derselben Zeit ‑ oder ungefähr zu ein und derselben ‑
jeder eine Aufgabe, die der des anderen sehr ähnlich sieht. Die neue, noch
phantastische zukünftige Formel der äußersten westlichen Welt ‑ die
Erneuerung der menschlichen Gesellschaft durch neue soziale Grundsätze diese
Formel, die fast unser ganzes Jahrhundert hindurch nur von Schwärmern und ihren
halbwissenschaftlichen Vertretern, von allen möglichen Idealisten und
Phantasten gepredigt worden ist, verändert plötzlich in den letzten Jahren ihr
Aussehen und den Gang ihrer Entwicklung und beschließt: vorläufig von der
theoretischen Definition und Propagandierung ihrer Aufgabe abzulassen und
sogleich den ersten praktischen Schritt zu tun, das heißt soviel wie sofort den
Kampf zu beginnen, zu diesem Zweck aber die Vereinigung aller zukünftigen
Kämpfer für die neue Idee in einer einzigen Organisation zustande zu bringen,
also des ganzen 1789 umgangenen Vierten Standes, aller Besitzlosen, aller
Arbeitenden, aller Armen, und erst darauf die rote Fahne der neuen unerhörten
Weltrevolution zu erheben. Es bildete sich die Internationale, die Vereinigung
aller Armen dieser Welt, es gab Zusammenkünfte, Kongresse, Beschlüsse, neue
Ordnungen ‑ mit einem Wort, im ganzen alten Westeuropa wurde der
Grundstein zu einem neuen status in statu gelegt, und die zukünftige Ordnung
dieser Welt sollte die alte, die dort im äußersten Westen Europas herrscht,
verschlingen. Zu derselben Zeit aber, da dieses beim Gegner vor sich ging,
begriff der deutsche Geist, daß auch die deutsche Aufgabe, vor allen anderen
Dingen und neuen Anfängen, vor jedem Versuch eines neuen Wortes gegen den aus der
alten katholischen Idee umgestalteten Gegner, zuerst nur diese eine war: die
eigene politische Einheit herzustellen, die Schöpfung des eigenen staatlichen
Organismus zu vollenden und, erst nachdem das geschehen, sich Stirn gegen
Stirn seinem alten Feinde entgegenzustellen. So geschah es auch: nachdem
Deutschland seine Vereinigung innerlich vollendet hatte, warf es sich auf den
Gegner und trat mit ihm in eine neue Kampfperiode ein, die mit Eisen und Blut
begann. Der Kampf mit dem Eisen ist heute beendet ‑ jetzt steht nur noch
bevor, ihn geistig zu beenden.
Feodor Michailowitsch Dostojewski: "Tagebuch eines
Schriftstellers"