Deutsch ist, soweit die
deutsche Zunge schallt
"Ich habe als erster Kanzler Deutschösterreichs am 12. November 1918 in der Nationalversammlung den Antrag gestellt und zur nahezu einstimmigen Annahme gebracht: »Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik«.
Ich
habe als Präsident der Friedensdelegation zu St. Germain durch viele Monate um
den Anschluß gerungen — die Not im Lande und die feindliche Besetzung der
Grenzen haben die Nationalversammlung und so auch mich genötigt, der Demütigung
des Friedensvertrages und dem bedingten Anschlußverbot uns zu unterwerfen.
Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten
Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt.
Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne errungen, ist der
Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese
betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigung von 1918 und 1919
für St. Germain und Versailles.
Ich
müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des
Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer
Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses
der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte.
Nun
ist diese 20-jährige Irrfahrt des österreichischen Volkes beendet, es kehrt
geschlossen zum Ausgangspunkt, zu seiner feierlichen Willenserklärung vom 12.
November zurück. Das traurige Zwischenspiel des halben Jahrhunderts 1866 bis
1918 geht hiermit in unserer 1.000-jährigen gemeinsamen Geschichte unter. ...
Als
Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der
Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreichs und als gewesener
Präsident ihrer Friedensdelegation zu St. Germain werde ich mit »Ja«
stimmen."
Quelle: Dr. Karl Renner – später der erste Bundespräsident der 2.
Republik – in einem Aufruf im Vorfeld der Volksabstimmung am 10. April 1938.
Zur Veröffentlichung im „Neuen Wiener Tagblatt“ übergeben am 3. April 1938 (Aula-Verlag:
„1938 – Lüge und Wahrheit“, Graz, Sonderblatt Nr. 34/1988, S. 36f