Das neue Völkergeschlecht - Friedrich Schiller
Das neue System
gesellschaftlicher Verfassung, welches, im Norden von Europa und Asien erzeugt,
mit dem neuen Völkergeschlecht auf den Trümmern des abendländischen Kaisertums
eingeführt wurde, hatte nun beinahe sieben Jahrhunderte lang Zeit gehabt, sich auf
diesem neuen und größeren Schauplatz und in neuen Verbindungen zu versuchen,
sich in allen seinen Arten und Abarten zu entwickeln und alle seine
verschiedenen Gestalten und Abwechslungen zu durchlaufen. Die Nachkommen der
Vandalen, Sueven, Alanen, Goten, Heruler, Langobarden, Franken, Burgundier
u.a.m. waren endlich eingewohnt auf
dem Boden, den ihre Vorfahren mit dem Schwert in der Hand betreten hatten, als
der Geist der Wanderung und des Raubes, der sie in dieses neue Vaterland
geführt, beim Ablauf des elften Jahrhunderts in einer anderen Gestalt und durch
andere Anlässe wieder bei ihnen aufgeweckt wurde. Europa gab jetzt dem
südwestlichen Asien die Völkerschwärme und Verheerungen heim, die es
siebenhundert Jahre vorher von dem Norden dieses Weltteils empfangen und
erlitten hatte, aber mit sehr ungleichem Glück, denn so viele Ströme Bluts es
den Barbaren gekostet hatte, ewige Königreiche in Europa zu gründen, so viel
kostete es jetzt ihren christlichen Nachkommen, einige Städte und Burgen in
Syrien zu erobern, die sie zwei Jahrhunderte darauf auf immer verlieren
sollten.
Die Torheit und Raserei,
welche den Entwurf der Kreuzzüge erzeugten, und die Gewalttätigkeiten, welche
die Ausführung desselben begleitet haben, können ein Auge, das die Gegenwart
begrenzt, nicht wohl einladen, sich dabei zu verweilen. Betrachten wir aber
diese Begebenheit im Zusammenhang mit den Jahrhunderten, die ihr vorhergingen,
und mit denen, die darauf folgten, so erscheint sie uns in ihrer Entstehung zu
natürlich, um unsere Verwunderung zu erregen, und zu wohltätig in ihren Folgen,
um unser Mißfallen nicht in ein ganz anderes Gefühl aufzulösen. Sieht man auf ihre
Ursachen, so ist diese Expedition der Christen nach dem Heiligen Lande ein so
ungekünsteltes, ja ein so notwendiges Erzeugnis ihres Jahrhunderts, daß ein
ganz Ununterrichteter, dem man die historischen Prämissen dieser Begebenheit
ausführlich vor Augen gelegt hätte, von selbst darauf verfallen müßte. Sieht
man auf ihre Wirkungen, so erkennt man in ihr den ersten merklichen Schritt,
wodurch der Aberglaube selbst die Übel anfing zu verbessern, die er dem
menschlichen Geschlecht Jahrhunderte lang zugefügt hatte, und es ist vielleicht
kein historisches Problem, das die Zeit reiner aufgelöst hätte als dieses,
keines, worüber sich der Genius, der den Faden der Weltgeschichte spinnt,
befriedigender gegen die Vernunft des Menschen gerechtfertigt hätte.
Aus der unnatürlichen und
entnervenden Ruhe, in welche das alte Rom alle Völker, denen es sich zur
Herrscherin aufdrang, versenkte, aus der weichlichen Sklaverei, worin es die
tätigsten Kräfte einer zahlreichen Menschenwelt erstickte, sehen wir das
menschliche Geschlecht durch die gesetzlose stürmische Freiheit des
Mittelalters wandern, um endlich in der glücklichen Mitte zwischen beiden
Äußersten auszuruhen und Freiheit mit Ordnung, Ruhe mit Tätigkeit,
Mannigfaltigkeit mit Übereinstimmung wohltätig zu verbinden.
Die Frage kann wohl schwerlich
sein, ob der Glücksstand, dessen wir uns erfreuen, dessen Annäherung wir
wenigstens mit Sicherheit erkennen, gegen den blühendsten Zustand, worin sich
das Menschengeschlecht sonst jemals befunden, für einen Gewinn zu achten sei
und ob wir uns gegen die schönsten Zeiten Roms und Griechenlands auch wirklich
verbessert haben. Griechenland und Rom konnten höchstens vortreffliche Römer, vortreffliche Griechen erzeugen ‑ die Nation,
auch in ihrer schönsten Epoche, erhob sich nie zu vortrefflichen Menschen. Eine barbarische Wüste war dem
Athenienser die übrige Welt außer Griechenland, und man weiß, daß er dieses bei
seiner Glückseligkeit sehr mit in Anschlag brachte. Die Römer waren durch ihren
eigenen Arm bestraft, da sie auf dem ganzen großen Schauplatz ihrer Herrschaft
nichts mehr übrig gelassen hatten als römische
Bürger und römische Sklaven. Keiner
von unseren Staaten hat ein römisches
Bürgerrecht auszuteilen, dafür aber besitzen wir ein Gut, das, wenn er Römer
bleiben wollte, kein Römer kennen durfte ‑ und wir besitzen es von einer
Hand, die keinem raubte, was sie einem gab,
und, was sie einmal gab, nie
zurücknimmt: wir haben Menschenfreiheit; ein
Gut, das ‑ wie sehr verschieden von dem Bürgerrecht des Römers! ‑
an Werten zunimmt, je größer die Anzahl derer wird, die es mit uns teilen, das,
von keiner wandelbaren Form der Verfassung, von keiner Staatserschütterung
abhängig, auf dem festen Grunde der Vernunft und Billigkeit ruht.
Der Gewinn ist also offenbar, und die Frage
ist bloß diese: war kein näherer Weg zu diesem Ziel? Konnte sich diese heilsame
Veränderung nicht weniger gewaltsam aus dem römischen Staat entwickeln, und
mußte das Menschengeschlecht notwendig die traurige Zeitstrecke vom vierten bis
zum sechzehnten Jahrhundert durchlaufen?
Die Vernunft kann in einer
anarchischen Welt nicht aushalten. Stets nach Übereinstimmung strebend, läuft sie
lieber Gefahr, die Ordnung unglücklich zu verteidigen, als mit Gleichgültigkeit
zu entbehren.
War die Völkerwanderung und das Mittelalter,
das darauf folgte, eine notwendige Bedingung
unserer besseren Zeiten?
Asien kann uns einige
Aufschlüsse darüber geben. Warum blühten hinter dem Heerzug Alexanders keine
griechischen Freistaaten auf?. Warum sehen wir Sina [China], zu einer traurigen Dauer verdammt, in ewiger Kindheit
altern? Weil Alexander mit Menschlichkeit erobert hatte, weil die kleine Schar
seiner Griechen unter den Millionen des großen Königs verschwand, weil sich die
Horden der Mandschu in dem ungeheuren Sina unmerkbar verloren. Nur die Menschen
hatten sie unterjocht, die Gesetze und die Sitten, die Religion und der Staat waren
Sieger geblieben. Für despotisch beherrschte Staaten ist keine Rettung als in
dem Untergang. Schonende Eroberer führten ihnen nur Pflanzvölker zu, nähren den
siechen Körper und können nichts, als seine Krankheit verewigen. Sollte das
verpestete Land nicht den gesunden Sieger vergiften, sollte sich der Deutsche
in Gallien nicht zum Römer verschlimmern, wie der Grieche zu Babylon in einen
Perser ausartete, so mußte die Form zerbrochen werden, die seinem
Nachahmungsgeist gefährlich werden konnte, und er mußte auf dem neuen Schauplatz,
den er jetzt betrat, in jedem Betracht der Stärkere bleiben.
Die skythische Wüste öffnet
sich und gießt ein rauhes Geschlecht über den Okzident aus. Mit Blut ist seine
Bahn bezeichnet, Städte sinken hinter ihm in Asche, mit gleicher Wut zertritt
es die Werke der Menschenhand und die Früchte des Ackers, Pest und Hunger holen
nach, was das Schwert und Feuer vergaßen; aber Leben geht nur unter, damit
besseres Leben an seiner Stelle keime. Wir wollen ihm die Leichen nicht
nachzählen, die es aufhäufte, die Städte, nicht die es in die Asche legte.
Schöner werden sie hervorgehen unter den Händen der Freiheit, und ein besserer
Stamm von Menschen wird sie bewohnen. Alle Künste der Schönheit und der Pracht,
der Üppigkeit und Verfeinerung gehen unter, kostbare Denkmäler, für die
Ewigkeit gegründet, sinken in den Staub, und eine tolle Willkür darf in dem
feinen Räderwerk einer geistreichen Ordnung wühlen; aber auch in diesem wilden
Tumult ist die Hand der Ordnung geschäftig, und was den kommenden Geschlechtern
von den Schätzen der Vorzeit beschieden ist, wird unbemerkt vor dem
zerstörenden Grimm des jetzigen geflüchtet. Eine wüste Finsternis breitet sich
jetzt über dieser weiten Brandstätte aus, und der elende ermattete Überrest
ihrer Bewohner hat für einen neuen Sieger gleich wenig Widerstand und
Verführung.
Raum ist jetzt gemacht auf der
Bühne ‑ und ein neues Völkergeschlecht besetzt ihn, schon seit
Jahrhunderten, still und ihm selbst unbewußt, in den nordischen Wäldern zu
einer erfrischenden Kolonie des erschöpften Westens erzogen. Roh und wild sind
seine Gesetze, seine Sitten; aber sie ehren in ihrer rohen Weise die
menschliche Natur, die der Alleinherrscher in seinen verfeinerten Sklaven nicht
ehrt. Unverrückt, als wäre er noch auf salischer
Erde, und unversucht von den Gaben, die der unterjochte Römer ihm anbietet,
bleibt der Franke den Gesetzen
getreu, die ihn zum Sieger machten; zu stolz und zu weise, aus den Händen der
Unglücklichen Werkzeuge des Glücks anzunehmen. Auf dem Aschenhaufen römischer
Pracht breitet er seine nomadischen Gezelte aus, bäumt den eisernen Speer, sein
höchstes Gut, auf dem eroberten Boden, pflanzt ihn vor den Richterstühlen auf,
und selbst das Christentum, will es anders den Wilden fesseln, muß das
schreckliche Schwert umgürten.
Und nun entfernen sich alle
fremden Hände von dem Sohne der Natur. Zerbrochen werden die Brücken zwischen
Byzanz und Massilien, zwischen Alexandria und Rom, der schüchterne Kaufmann
eilt heim, und das ländergattende Schiff liegt entmastet am Strande. Eine Wüste
von Gewässern und Bergen, eine Nacht wilder Sitten wälzt sich vor den Eingang
Europens hin, der ganze Weltteil wird geschlossen.
Ein langwieriger, schwerer und
merkwürdiger Kampf beginnt jetzt, der rohe germanische Geist ringt mit den
Reizungen eines neuen Himmels, mit neuen Leidenschaften, mit des Beispiels
stiller Gewalt, mit dem Nachlaß des umgestürzten Roms, der in dem neuen
Vaterland noch in tausend Netzen ihm nachstellt, und wehe dem Nachfolger eines
Klodion [König Chlodio, fränkischer König des 5.Jahrhunderts], der auf der
Herrscherbühne des Trajanus sich Trajanus dünkt! Tausend Klingen sind gezückt,
ihm die skythische Wildnis ins Gedächtnis zu rufen. Hart stößt die Herrschsucht
mit der Freiheit zusammen, der Trotz mit der Festigkeit, die List strebt die
Kühnheit zu umstricken, das schreckliche Recht der Stärke kommt zurück, und
Jahrhunderte lang sieht man den rauchenden Stahl nicht erkalten. Eine traurige
Nacht, die alle Köpfe verfinstert, hängt über Europa herab, und nur wenige
Lichtfunken fliegen auf, das nachgelassene Dunkel desto schrecklicher zu zeigen.
Die ewige Ordnung scheint von dem Steuer der Welt geflohen oder, indem sie ein
entlegenes Ziel verfolgt, das gegenwärtige Geschlecht aufgegeben zu haben. Aber
eine gleiche Mutter allen ihren Kindern, rettet sie einstweilen die erliegende
Ohnmacht an den Fuß der Altäre, und gegen eine Not, die sie ihm nicht erlassen
kann, stärkt sie das Herz mit dem Glauben der Ergebung. Die Sitten vertraut sie
dem Schutz eines verwilderten Christentums und vergönnt dem mittleren
Geschlechte, sich an diese wankende Krücke zu lehnen, die sie dem stärkeren
Enkel zerbrechen wird. Aber in diesem langen Kriege erwarmen zugleich die
Staaten und ihre Bürger, kräftig wehrt sich der deutsche Geist gegen den
herzumstrickenden Despotismus, der den zu früh ermattenden Römer erdrückte, der
Quell der Freiheit springt in lebendigem Strom, und unüberwunden und wohlbehalten
langt das spätere Geschlecht bei dem schönen Jahrhundert an, wo sich
endlich, herbeigeführt durch die vereinigte Arbeit des Glücks und des Menschen,
das Licht des Gedankens mit der Kraft des Entschlusses, die Einsicht mit dem
Heldenmut gatten soll. Da Rom noch Scipionen und Fabier zeugte, fehlten ihm die
Weisen, die ihrer Tugend das Ziel gezeigt hätten; als seine Weisen blühten,
hatte der Despotismus sein Opfer gewürgt, und die Wohltat ihrer Erscheinung war
an dem entnervten Jahrhundert verloren. Auch die griechische Tugend erreichte
die hellen Zeiten des Perikles und Alexanders nicht mehr, und als Harun seine
Araber denken lehrte, war die Glut ihres Busens erkaltet. Ein besserer Genius
war es, der über das neue Europa wachte. Die lange Waffenübung des Mittelalters
hatte dem sechzehnten Jahrhundert ein
gesundes, starkes Geschlecht zugeführt und der Vernunft, die jetzt ihr Panier
entfaltet, kraftvolle Streiter erzogen.
Auf welchem andern Strich der
Erde hat der Kopf die Herzen in Glut
gesetzt und die Wahrheit den Arm der Tapferen bewaffnet? Wo sonst als hier
erlebte man die Wundererscheinung, daß Vernunftschlüsse des ruhigen Forschers
das Feldgeschrei wurden in mörderischen Schlachten, daß die Stimme der
Selbstliebe gegen den stärkeren Zwang der Überzeugung schwieg, daß der Mensch
endlich das Teuerste an das Edelste setzte? Die erhabenste
Anstrengung griechischer und römischer Tugend hat sich nie über bürgerliche
Pflichten geschwungen, nie oder nur in einem einzigen Weisen, dessen Name schon
der größte Vorwurf seines Zeitalters ist; das höchste Opfer, das die Nation in
ihrer Heldenzeit brachte, wurde dem Vaterland
gebracht. Bei Ablauf des Mittelalters allein erblickt man in Europa einen
Enthusiasmus, der einem höheren Vernunftidol auch das Vaterland opfert. Und
warum nur hier, und hier auch nur einmal diese
Erscheinung? Weil in Europa allein, und hier nur am Ausgang des Mittelalters,
die Energie des Willens mit dem Licht des Verstandes zusammentraf, hier allein
ein noch männliches Geschlecht in die Arme der Weisheit geliefert wurde.
Durch das ganze Gebiet der
Geschichte sehen wir die Entwicklung der Staaten
mit der Entwicklung der Köpfe einen
sehr ungleichen Schritt beobachten. Staaten sind jährige Pflanzen, die in einem
kurzen Sommer verblühen und von der Fülle des Saftes rasch in die Fäulnis
hinübereilen; Aufklärung ist eine
langsame Pflanze, die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viele Pflege
und eine lange Reihe von Frühlingen braucht. Und woher dieser Unterschied? Weil
die Staaten der Leidenschaft anvertraut
sind, die in jeder Menschenbrust ihren Zunder findet, die Aufklärung aber dem Verstand, der nur durch fremde Nachhilfe
sich entwickelt, und dem Glück der Entdeckungen, welche Zeit und Zufälle nur langsam
zusammentragen. Wie oft wird die eine Pflanze
blühen und welken, ehe die andere einmal
heranreift? Wie schwer ist es also, daß die Staaten
die Erleuchtung abwarten, daß die
späte Vernunft die frühe Freiheit noch findet? Einmal nur
in der ganzen Weltgeschichte hat sich die Vorsehung dieses Problem aufgegeben,
und wir haben gesehen, wie sie es löste. Durch den langen Krieg der mittleren
Jahrhunderte hielt sie das politische Leben
in Europa frisch, bis der Stoff endlich zusammengetragen war, das moralische zur Entwicklung zu bringen.
Nur Europa hat Staaten, die
zugleich erleuchtet, gesittet und ununterworfen
sind; sonst überall wohnt die Wildheit bei der Freiheit und die
Knechtschaft bei der Kultur. Aber auch Europa allein hat sich durch ein
kriegerisches Jahrtausend gerungen, und nur die Verwüstung im fünften und
sechsten Jahrhundert konnte dieses kriegerische Jahrtausend herbeiführen. Es
ist nicht das Blut ihrer Ahnherren, nicht der Charakter ihres Stammes, der
unsere Väter vor dem Joch der Unterdrückung bewahrte, denn ihre gleich frei
geborenen Brüder, die Turkomanen und Mandschu, haben ihren Nacken unter den
Despotismus gebeugt. Es ist nicht der europäische Boden und Himmel, der ihnen
dieses Schicksal ersparte, denn auf eben diesem Boden und unter eben diesem
Himmel haben Gallier und Briten, Hetruier und Lusitanier das Joch der Römer
geduldet. Das Schwert der Vandalen und Hunnen, das ohne Schonung durch den
Okzident mähte, und das kraftvolle Völkergeschlecht, das den gereinigten
Schauplatz besetzte und aus einem tausendjährigen Kriege unüberwunden kam ‑ diese sind die Schöpfer unseres jetzigen
Glücks; und so finden wir den Geist der Ordnung in den zwei schrecklichsten
Erscheinungen wieder, welche die Geschichte aufweist ...
Im dreizehnten Jahrhundert ist
es, wo der Genius der Welt, der schaffend in der Finsternis gesponnen, die
Decke hinwegzieht, um einen Teil seines Werks zu zeigen. Die trübe Nebelhülle,
welche tausend Jahre den Horizont von Europa umzogen, scheidet sich in diesem
Zeitpunkt, und heller Himmel sieht hervor. Das vereinigte Elend der geistlichen Einförmigkeit und der politischen Zwietracht, der
Hierarchie und der Lehenverfassung, vollzählig und erschöpft beim Ablauf des
elften Jahrhunderts, muß sich in seiner ungeheuersten Geburt, in dem Taumel der
heiligen Kriege selbst ein Ende bereiten.
Ein fanatischer Eifer sprengt
den verschlossenen Westen wieder auf, und der erwachsene Sohn tritt aus dem
väterlichen Hause. Erstaunt sieht er in neuen Völkern sich an, freut sich am
thrakischen Bosporus seiner Freiheit und seines Muts, errötet in Byzanz über
seinen rohen Geschmack, seine Unwissenheit, seine Wildheit und erschrickt in
Asien über seine Armut. Was er sich dort nahm und heimbrachte, bezeugen
Europens Annalen; die Geschichte des Orients, wenn wir eine hätten, würde uns
sagen, was er dafür gab und zurückließ. Aber scheint es nicht, als hätte der
fränkische Heldengeist in das hinsterbende Byzanz noch ein flüchtiges Leben
gehaucht? Unerwartet rafft es mit seinen Komnenern sich auf, und durch den
kurzen Besuch der Deutschen gestärkt, geht es von jetzt an einen edleren
Schritt zum Tode.
Hinter dem Kreuzfahrer schlägt
der Kaufmann seine Brücke, und das wiedergefundene Band zwischen dem Abend und
Morgen, durch einen kriegerischen Schwindel flüchtig geknüpft, befestigt und
verewigt der überlegende Handel. Das levantische Schiff begrüßt seine
wohlbekannten Gewässer wieder, und seine reiche Ladung ruft das lüsterne Europa
zum Fleiße. Bald wird es das ungewisse Geleit des Arkturs entbehren, und eine
feste Regel in sich selbst, zuversichtlich auf nie besuchte Meere sich wagen.
Asiens Begierden folgen dem
Europäer in seine Heimat ‑ aber hier kennen ihn seine Wälder nicht mehr,
und andere Fahnen wehen auf seinen Burgen. In seinem Vaterlande verarmt, um an
den Ufern des Euphrats zu glänzen, gibt er endlich das angebetete Idol seiner
Unabhängigkeit und seine feindselige Herrengewalt auf und vergönnt seinen
Sklaven, die Rechte der Natur mit Gold einzulösen. Freiwillig bietet er den Arm
jetzt der Fessel dar, die ihn schmückt, aber den Niegebändigten bändigt. Die
Majestät der Könige richtet sich auf, indem die Sklaven des Ackers zu Menschen gedeihen; aus dem Meer der Verwüstung hebt sich, dem Elend abgewonnen, ein
neues fruchtbares Land, Bürgergemeinheit.
Er allein, der die Seele der
Unternehmung gewesen war und die ganze Christenheit für seine Größe hatte arbeiten lassen, der römische Hierarche, sieht seine Hoffnungen hintergangen. Nach einem
Wolkenbild im Orient haschend, gab er im Okzident eine wirkliche Krone
verloren. Seine Stärke war die Ohnmacht der Könige, die Anarchie und der
Bürgerkrieg die unerschöpfliche Rüstkammer, woraus er seine Donner holte. Auch
noch jetzt schleudert er sie aus ‑ jetzt aber tritt ihm die befestigte
Macht der Könige entgegen. Kein Bannfluch, kein himmelsperrendes Interdikt,
keine Lossprechung von geheiligten Pflichten löst die heilsamen Bande wieder
auf, die den Untertan an seinen rechtmäßigen Beherrscher knüpfen. Umsonst, daß
sein ohnmächtiger Grimm gegen die Zeit streitet, die ihm seinen Thron erbaute
und ihn jetzt davon herunterzieht! Aus dem Aberglauben war dieses Schreckbild
des Mittelalters erzeugt und großgezogen von der Zwietracht. So schwach seine
Wurzeln waren, so schnell und schrecklich durfte es aufwachsen im elften
Jahrhundert ‑ seinesgleichen hatte kein Weltalter noch gesehen. Wer sah
es dem Feind der heiligsten Freiheit an, daß er der Freiheit zu Hilfe geschickt
wurde? Als der Streit zwischen den Königen und den Edlen sich erhitzte, warf er
sich zwischen die ungleichen Kämpfer und hielt die gefährliche Entscheidung
auf, bis in dem dritten Stand ein
besserer Kämpfer heranwuchs, das Geschöpf des Augenblicks abzulösen ... Rom und
Athen gehen aus dem Bürgerkrieg zur Knechtschaft über ‑ das neue Europa
zur Freiheit. Warum war Europa glücklicher? Weil hier durch ein vorübergehendes
Phantom bewirkt wurde, was dort durch
eine bleibende Macht geschah ‑ weil hier allein sich ein Arm fand, der
kräftig genug war, Unterdrückung zu hindern, aber zu hinfällig, sie selbst
auszuüben.
Wie anders sät der Mensch, und
wie anders läßt das Schicksal ihn ernten! Asien an den Schemel seines Thrones
zu ketten, liefert der heilige Vater dem Schwert der Sarazenen eine Million
seiner Heldensöhne aus, aber mit ihnen hat er seinem Stuhl in Europa die
kräftigsten Stützen entzogen. Von neuen Anmaßungen und neu zu erringenden
Kronen träumt der Adel, und ein gehorsameres Herz bringt er zu den Füßen seiner
Beherrscher zurück. Vergebung der Sünden und die Freuden des Paradieses sucht
der fromme Pilger am heiligen Grab, und ihm allein wird mehr geleistet, als ihm
verheißen ward. Seine Menschheit findet er in Asien wieder, und den Samen der
Freiheit bringt er seinen europäischen Brüdern aus diesem Weltteil mit ‑
eine unendlich wichtigere Erwerbung als die Schlüssel Jerusalems oder die Nägel
vom Kreuz des Erlösers.