Das Deutsche Reich

 

Ein Wort/Begriff wird gestrichen, ausradiert, impotent gemacht

 

Roosevelt und Stalin in einem Gedankenaustausch über die Zukunft Deutschlands

 

Bekanntlich gab es 1990 unter den Deutschen eine Diskussion über die Frage, wie sich das damals sich vereinigende Deutschland künftig offiziell nennen soll. Während die einen ‑ vornehmlich die Westdeutschen ‑ für die Beibehaltung der Bezeichnung "Bundesrepublik Deutschland" eintraten, sprachen sich die anderen ‑ wie etwa Lothar de Maiziere ‑ für den geläufigen Namen "Deutschland" aus. Spaßvögel und Wiedervereinigungsgegner schockten Landsleute wie Ausländer mit Bezeichnungen wie "Viertes Reich" oder gar "Großdeutschland" ‑ bis es dann auf einmal ganz ruhig um die Namensfrage wurde.

 

Vor kurzem von Mitarbeitern der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) im Roosevelt‑Archiv zu Hyde Park/New York aufgefundene Regierungsprotokolle dokumentieren, daß sich über den künftigen offiziellen Staatsnamen Nachkriegsdeutschland vor über 50 Jahren auch bereits Roosevelt und Stalin Gedanken gemacht hatten.

 

So überliefert ein vertrauliches "Memorandum of Conversation" vom "Evening November 28, 1943" ein Gespräch zwischen dem US‑Präsidenten und dem Kremlchef über die Frage, "welche Behandlung Nazi‑Deutschland zugemessen werden soll" ('The question of the treatment to be accorded Nazi Germany').

 

In seinem Verlauf stellte Roosevelt fest, daß es "seiner Ansicht nach sehr wichtig sei, in den deutschen Köpfen nicht die Vorstellung des Reiches zu belassen, vielmehr solle auch schon das Wort (Reich) allein aus der deutschen Sprache gestrichen werden" ('The President said that, in his opinion, it was very important not to leave in the German mind the concept of the Reich and that the very word should be stricken from the language').

 

Nach derselben Quelle erwiderte Stalin darauf, daß "es nicht genug" sei, nur "das Wort auszurotten"; viel wichtiger sei es, "das Reich an sich für immer impotent zu machen", damit es die Welt nicht immer wieder in einen Krieg stürzen könne ('Marshal Stalin replied that it was not enough to eliminate the word, but the very Reich itself must be rendered impotent ever again to plunge the world into war').

 

Als geeignete Mittel, das Deutsche Reich nach dem Krieg "impotent" zu machen, bezeichnete der Sowjetdiktator das "Austilgen des deutschen Militarismus", die "Besetzung strategischer Positionen" und eine "Aufteilung Deutschlands" ('Dismenberment of Germany') und empfahl seinen westlichen Verbündeten, entsprechende Maßnahmen nach dem Kriegsende vorzusehen. Namen und Bezeichnung waren für ihn nebensächlich. Deswegen stieß er sich nach dem Krieg auch nicht daran, daß die deutsche Eisenbahn in seiner Zone weiterhin "Deutsche Reichsbahn" hieß und die von ihm ins Leben gerufene "Deutsche Demokratische Republik" diese Bezeichnung beibehielt. Erst die nach der Wiedervereinigung erfolgte Gründung der "Deutschen Bahn AG" ließ die "Reichsbahn" untergehen und mit ihr ein letztes verbales Überbleibsel des "Reiches" aus der deutschen Sprache verschwinden.

 

Für Präsident Roosevelt blieb dagegen die Austilgung des Wortes "Reich" weiterhin ein vordringliches Anliegen, das er noch als wichtiger als manche Geld- ­und Reparationsfrage erachtete.

 

Dies bezeugt ein gleichfalls von der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle in der Roosevelt‑Library zu Hyde Park/NewYork aufgefundenes Dokument vom 6. April 1945. Als "Memorandum for the Secretary of State" (Denkschrift für den Außenminister) von Roosevelt mit seinen Initialen "F.D.R." abgezeichnet, markiert es einen gewichtigen Schwerpunkt Roosevelt'scher Deutschland‑Politik, den Franklin D. Roosevelt gleichsam sein ganzes politisches Leben hindurch verfolgt hat, wie er dies in seinem "Memorandum" an den Außenminister auch selbst andeudete. Die 'elemination of the word "Reich"' (Entfernung des Wortes "Reich") beschäftigte ihn noch bis kurz vor seinem Tode am 12. April 1945 und zeigte in dieser Gewichtung offenkundig ein wesentliches Kriegsziel des amerikanischen Staatschefs an.

 

Zu der in der sogenannten "Atlantik‑Erklärung" ('Atlantic‑Charter') vom 14. August 1941 verkündeten "endgültigen Zertörung der Nazi‑Tyrannei" ('final destruction of the Nazi tyranny') trat nunmehr die politische Absicht Roosevelts, den Deutschen den Begriff und Staatsnamen "Reich" zu nehmen. Daß er ihnen damit auch eine historische Verbindungslinie zu ihrer Geschichte vor Hitler und der Weimarer Zeit beschädigte oder ganz zerschnitt, mag eine unbeabsichtigte Folge gewesen sein, verdeutlicht sich jedoch in manchen "Vergangenheitsbewältigungs"‑Übungen der nachgeborenen Zeitgenossen, wie die meisten öffentlichen Kundgebungen zu den Erinnerungsdaten des Jahres 1945/95 beweisen. Für Roosevelt gewann der Begriff "Reich" offenbar seit Hitlers Machtantritt eine negative Bedeutung und wurde zum Synonym für Agression und Expansion wie für viele Zeitgenossen des Jahres 1995 alle Übel der späteren Jahre ursächlich mit dem 30. Januar 1933 einsetzten.

 

So scheint sich ein halbes Jahrhundert nach dem "F.D.R.‑Memorandum for the Secretary of State" vom 6. April 1945 Roosevelts Wunsch nach 'elimination of the word "Reich"' vollends erfüllt zu haben und der Begriff "Reich" endgültig aus dem öffentlichen Bewußtsein der Deutschen entschwunden zu sein.

 

Dr. Alfred Schickel

 

Quelle: Anzeiger der Notverwaltung des Deutschen Ostens im Deutschen Reich, Heft 2/1995, S. 20 - 22