Churchills Brief
Das freundliche Angebot Herrn
Churchills an Deutschland, gemeinsam mit der Entente Sowjetrußland zu
bekriegen, lenkt wieder einmal die Aufmerksamkeit auf diesen Politiker. Zwar
hat Lloyd George mit guter Laune der Unternehmungslust dieses höchst
eigenmächtigen Kollegen eine Schranke gezogen, indem er erklärte, Herr
Churchill habe mehr einer Sehnsucht Ausdruck
gegeben als einer Ansicht, aber man
wird nicht glauben, daß damit die Sache abgetan ist. Denn selbst wenn es sich
hier nur um eine «Sehnsucht» handelt, so ist das ohne Zweifel nicht die
persönliche des Herrn Kriegsministers, sondern die des britischen Imperialismus, zu dessen gewichtigsten Exponenten er
zählt. Lloyd George wird sich also darauf vorbereiten müssen, nicht nur weitere
Witzpfeile zu versenden, sondern auch den Donnerkeil zu schwingen, um die im
eigenen Lager vorhandenen Gelüste, einen europäischen Koalitionskrieg gegen das
bolschewistische Rußland zu entfesseln, zu zerschmettern.
Winston Churchill ist kein
angenehmer Widersacher, aber ein vielleicht noch peinlicherer Kollege. Ein Mann
der erlesensten Extratouren. Alle paar Monate durch einen Schiffbruch seiner
Hoffnungen bis auf die Knochen blamiert und dennoch unverwüstlich. Ein
Vabanquespieler, aber mit einer zu guten Dosis englischer Nüchternheit geimpft,
als daß eine Parallele mit den Ludendorff und Helfferich gestattet wäre. Der
Vater der unseligen Gallipoli-Expedition und Gönner der konterrevolutionären
Generale Rußlands. Kein Freund von Bagatellen, aber ein nimmermüder
Improvisator von ganz großen, gigantischen Dummheiten. Sie haben weder seiner
Karriere noch seiner märchenhaften politischen Bulldoggenkonstitution
geschadet. Es gibt eine höchst bedenkliche Mischung, wenn sich verwegenste
Projektenmacherei und unerschrockenes Abenteurertum, dem die Reputation gar
nichts gilt, mit der Zählebigkeit eines Geheimrates der wilhelminischen Ära
verbinden.
So sieht Winston Churchill
aus, der, seinen Mißgeschicken zum Trotz, einer der populärsten Männer Englands
ist, und für den die Northcliffe‑Presse mit Ausdauer die Reklametrommel
schlägt. Von allen Ministerposten gewöhnlich nach kurzer Amtszeit mit Geräusch
gestürzt, kehrt er doch immer wieder zurück, um sofort mit zwangloser Geste einen
neuen Zankapfel mitten in das politische Bankett zu werfen. Seine Aufforderung
zum Kreuzzug gegen Rußland, von Frankreich inspiriert und deshalb gefährlich,
dürfte trotz alledem in Deutschland wenig Gegenliebe finden. Schon hat Simons
energisch abgewinkt. Immerhin wird bei den platzhaltenden Vertrauensmännern der
Pabst und Bischoff so manches Ohr gespitzt sein. Es wäre auch zu schön, endlich
wieder mal Krieg!
Das deutsche Volk in seiner Mehrheit will dieses Abenteuer nicht! Wahrheitsgetreuer
als in den Artikeln des Kappisten‑Trosses spiegelt sich die deutsche
Stimmung in den Taten unserer Eisenbahner, die es ablehnen, den Polen zu
Ententesukkurs zu verhelfen.
Unsere eigenen Hasardeure
haben uns in unendliches Elend verstrickt. Wir weigern uns, Figuren zu sein auf
dem Schachbrett eines englischen Spielers.
Quelle: Carl von Ossietzky "Berliner Volks‑Zeitung", 6.
August 1920