Brutus schläft
Adolf Hitlers Sorgen sind
nicht die unsrigen. Wenn Hitler sich festgelaufen hat, ist es nicht andrer
Sache, ihm wieder auf die Strümpfe zu helfen. Dennoch ist die gegenwärtige
Situation einer Sonderbetrachtung wert, denn zum ersten Mal seit langem
arbeitet der Nationalsozialismus ohne Glück, genauer: er arbeitet überhaupt
nicht.
Die Mehrzahl der
nationalsozialistischen Kapitäne sind wildgewordene Skatbrüder, denen der
republikanische Staat ihren Weg sehr erleichtert. In der fertigen Schablone des
alten Klassenstaates mit der dynastischen Spitze darüber, hätte der Ehrgeiz der
Kube, Stöhr etcetera nicht weiter als bis zum etatmäßigen Feldwebel gereicht.
Der weimarer Staat, der zwar nicht die wirtschaftlichen, wohl aber die
politischen Schranken niedergelegt hat, schafft dem Tüchtigen, dem Versammlungsmatador
freie Bahn. Es gibt Mandate, Ämter, Pöstchen, und wer nichts abbekommt, wird
noch immer Gläubige finden, die ihm abnehmen, der Führer im alten, echten
germanischen Sinne zu sein, ohne Diplom und Bestallung, doch zu dem richtigen
Platz von seinem Genius berufen. Die Nationalsozialisten haben am 14. September
gezeigt, daß ein Rudel von Faselhänsen und Halbverrückten, hinter denen
allerdings große Kapitalsmacht steht, ein paar Millionen deutscher
Volksgenossen an ihr Phrasenbanner heften können. Den andern Beweis, was mit
einem solchen Erfolge praktisch anzufangen ist, den haben sie bisher nicht
erbracht.
Hitler hat viele Monate
verloren, er hat eine Zeit untätig verbraucht, die ihm keine Ewigkeit wieder
zurückbringen wird. Diesen 15. September mit dem Zittern der Besiegten und der
amtlichen Ratlosigkeit wird ihm keine Macht der Welt mehr wiedergeben. Damals
war die Stunde für den deutschen Duce da, legal oder illegal, wer fragte
danach? Aber dieser deutsche Duce ist eine feige, verweichlichte
Pyjamaexistenz, ein schnell feist gewordener Kleinbürgerrebell, der sichs
wohlsein läßt und nur sehr langsam begreift, wenn ihn das Schicksal samt seinen
Lorbeeren in beizenden Essig legt. Dieser Trommler haut nur in der Etappe aufs
Kalbfell. Mag auch Joseph Michael Goebbels dreimal wöchentlich in den berliner
Tanzpalästen seine Exhibitionen vollführen, das Haupt der Verschwörergemeinde
glänzt durch Abwesenheit. Brutus schläft.
Wir schrieben an dieser Stelle
in der Wahlnacht: «Hitler muß mitregieren oder putschen.» Eine Bewegungspartei
muß es bleiben, und sie bleibt es nicht dadurch, daß sie ihr kleines Kroppzeug
sich im Rinnstein balgen läßt, während die großen Herren es sich auf dem
Kanapee gemütlich machen. Wer so viel versprochen hat wie Hitler, muß viel
halten oder wenigstens viel unternehmen. Statt dessen hat er die Parole:
Legalität! ausgegeben ‑ eine Parole, die nur von einer streng
geschlossenen revolutionären Partei, geführt von eisernen, zielbewußten
Menschen, ohne Schaden befolgt werden kann, nicht von einem bunten Haufen, von
dem jeder Einzelne Belobung für seine Tapferkeit oder auch nur für seinen
Stimmzettel erwartet. Die vielen Reichstags‑ und Landtagsmandate sind
doch nur erste Sättigung für Bevorzugte. Wo bleiben die ungezählten Andern, die
auf Amt und Titel, vor allem auf Geld warten? Wäre die Nationalsozialistische
Partei eine richtige Arbeiterpartei, so dürfte sie sich diese Säumigkeit eher
gestatten. Denn der deutsche Arbeiter, das wissen wir, behält auch in ärgster
Not seine von Gott oder vom Teufel gesegnete Geduld. Aber das Gros der Nazis
wird von dem schnell absinkenden Bürgertum gestellt, das keine Zeit mehr hat.
Für ein paar bleiche Schwärmer der Bewegung mag das Dritte Reich die endliche
Verwirklichung krauser Utopien sein, für die Masse der Anhängerschaft bedeutet
es das Mittagessen im kommenden Monat, den lange fälligen neuen Anzug. Brutus
muß sich beeilen. Nach den Demonstrationen gegen den Remarque‑Film
("Im Westen nichts Neues", d.V.) sind auch die von der andern Seite
wieder munterer geworden. Von Kommunisten und Reichsbannerleuten sind in Berlin
und an andern Orten zum erstenmal seit langer Zeit nationalsozialistische
Veranstaltungen gesprengt worden. Die Nationalsozialisten sind in letzter Zeit
wiederholt dort geschlagen worden, wo sie zu Haus sind: auf der Straße. Ihre
Terrorherrschaft ist nicht mehr unangefochten. Und Brutus schläft.
Auch auf parlamentarischem
Felde haben die Nationalsozialisten keinen Siegespreis errungen. Ihre Tätigkeit
beschränkte sich im Plenum auf unqualifizierbare Brüllereien, in den
Ausschüssen auf Sprengungen. Das deutsche Reichsparlament ist keine Auslese der
Besten und Geistigsten; dennoch haben die Naziabgeordneten wiederholt erwiesen,
daß sie tief unter dem Niveau des Durchschnittsdeputierten stehen, sie müssen
demonstrieren, weil sie sonst nichts zu bieten haben. Ihre Kraftpose entspringt
der Hilflosigkeit. Nicht einmal der Offensivplan gegen Preußen will fertig
werden; Hitler kann sich mit Hugenberg und Seldte nicht über gemeinsames
Vorgehen verständigen. Nachdem also der Nationalsozialismus gezeigt hat, daß
seine schwersten Hemmungen in ihm selbst enthalten sind, zeigen sich auch auf
den Ruinen der bürgerlichen Parteien wieder ein paar Hoffnungsfähnchen. Die
Herren Kaas und Dingeldey haben Hitler, in verschiedener Tonstärke,
Vorhaltungen gemacht, und schließlich hat der Reichskanzler selbst ein paar
gute Worte für die Demokratie, ein paar strenge Worte gegen die
Nationalsozialisten und gegen die ihnen verbündete Schwerindustrie gefunden.
In der Gegend, wo sich, nach
einwandfreien Zeugenaussagen, früher die Demopartei befunden haben soll, wird
einiger Triumph über die schwarzrotgoldene Renaissance des Reichskanzlers laut.
Vor der Konsequenz der wirtschaftspolitischen Tatsachen ist es ziemlich
gleichgültig, ob Herr Brüning eine ernsthafte Wandlung vollzogen oder nur eine
taktische Schwenkung vorgenommen hat. Wenn er die Demokratie vor ihren Gegnern
retten, wenn er der Anmaßung der Schwerindustrie sein Paroli entgegensetzen wollte,
so hat er dazu im Wahlkampf die beste Gelegenheit gehabt, und die hat er
versäumt. Der ganze Wahlkampf der bürgerlichen Parteien aber ging gegen eine
demokratische Innenpolitik und gegen eine versöhnliche Außenpolitik
stresemannscher Überlieferung. Mehr Macht dem Reichspräsidenten!
Verfassungsänderung! Abbau der Sozialpolitik! Starke Außenpolitik! Aufrüstung!
Kolonien! Korridor! Das waren so die hauptsächlichsten bürgerlichen Schlagworte
des letzten Wahlkampfes. Der Reichskanzler hat es peinlichst vermieden, seine
eigne Stellung dazu zu präzisieren, er hat zu allen Aufforderungen geschwiegen.
Er hat zu den treviranischen Hetzreden geschwiegen, er ist nicht von dem damals
noch bei Hindenburg in Gunst stehenden Kabinettsminister Schiele abgerückt, der
sich dahin geäußert hatte, daß es am besten wäre, «das ganze System zum Teufel
zu jagen». Unter den Augen des schweigenden Reichskanzlers vollzog sich der
wüsteste Wahlkampf gegen die Republik; unter seinen Augen wurde die Demokratie
geknebelt durch die Gossen geschleift. Wenn Herr Brüning sich heute schützend
vor sie stellt, so bleibt nichts übrig, als zu sagen, daß das entweder
reichlich spät geschieht oder daß er sie wirklich für mausetot hält und ihr
wenigstens die Ehrensalve über dem Grabe nicht verwehrt. Unter diesem
Reichskanzler ist der Schwerpunkt der Politik nach rechts gelegt worden. Er ist
der Kanzler mit dem Artikel 48, der Zerstörer der bürgerlichen Mitte. Auch wenn
der offene Fascismus nicht kommt, so wird doch eine Reaktion den Platz behaupten,
die sich von ihm nur in Äußerm unterscheidet, und der Reichskanzler Brüning war
ihr Wegbereiter.
Nichts kann uns dazu bewegen,
den gegenwärtigen Streit zwischen Nazis und Zentrum anders zu beurteilen als
den von ein paar Geschäftsleuten, die sich einstweilen nicht einigen können.
Kurz vor der östlichen Tournee des Reichskanzlers war der Pakt so ziemlich
fertig. Die Sache zerschlug sich, weil Hitler zu viel Ministersitze forderte.
Ein Konflikt um den Anteil, nicht ums Prinzip. Dann klangen dem Reichskanzler
die Pfiffe von Königsberg bis Gleiwitz unangenehm in den Ohren, die
präparierten vaterländischen Reden blieben in der Kehle stecken. Statt dessen
kam die Drohung mit großen Enthüllungen, was vom <Völkischen Beobachter>
sofort mit einer Gegendrohung pariert wurde. Keiner von beiden hat bis zur
Stunde seine Enthüllungen aufgetischt. Sie könnten auch nicht mehr enthüllen,
als daß sie zum Zusammengehen bereit waren. Was heute noch nicht klappen
wollte, kann morgen gelingen. Da ist noch immer der redliche Seeckt, trotz der
von Goebbels besorgten groben Abfuhr, nach wie vor bereit, sich seine Provision
als Schadchen zu verdienen. Da sind noch immer die unsichern Kantonisten der Deutschen
Volkspartei, die mit ihrem Bedürfnis, sich von der Regierungsverantwortung zu
distanzieren, einmal ganz plötzlich ein unheilbares parlamentarisches Malheur
anrichten und das Kartenhaus Brünings zum Einsturz bringen können. Und da ist
schließlich der Reichspräsident selbst, der von der Clique Treviranus‑Schleicher,
die heute die Reichspolitik bestimmt, noch immer in einem günstigen Augenblick
bewogen werden kann, wie der alte Attinghausen segnend die Hände zu heben:
«Seid einig, einig, einig!» Nein, auf antifascistische Kräfte von oben her, ist
kein Verlaß. Eine einzige Bundesgenossin nur hat die Arbeiterschaft, hat das
verteidigungsgewillte Republikanertum überhaupt: das ist die Unfähigkeit
Hitlers, einem Zufallssieg mit oder ohne Gewalt Form und Dauer zu verleihen.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 3. Februar 1931