Brüning darf nicht bleiben
Jene Sorte Politiker, die sich
damit brüstet, immer nur mit den sogenannten Realitäten zu rechnen, hat eine
fürchterliche Schlappe erlitten. Während die Blätter der Mittelparteien sich
aufgeregt darüber unterhielten, wer wohl besser abschneiden würde, Koch oder
Scholz, hat der Fascismus das Rennen gemacht. Die bürgerlichen Parteien, vom
Zentrum abgesehen, das sogar aufgeholt hat, sind kaum mehr existent. Sie müssen
Neuwahlen wie das höllische Feuer fürchten und schon deshalb für ein möglichst
langes Regiment ex lex sein, das ihnen die Verantwortung abnimmt und die
Abrechnung hinausschiebt. Der vielgeschmähte Hugenberg hat sich als der bessere
Stratege erwiesen. Er hat rechtzeitig erkannt, daß bei einer Wahl, in der jäh
proletarisierte Schichten, Millionen sozial Absinkender den Ausschlag geben,
eine kapitalistische Partei, die von dem Segen des Eigentums und von den
Vorzügen eines kräftigen und gut verdauenden Unternehmertums faselt, nicht
prosperieren kann. So stellte sich Hugenberg hinter die Kulisse des Fascismus,
und dieser Fascismus hat gesiegt. Wobei nicht zu vergessen ist, daß über dem
italienischen Fascismus die Adler Roms rauschen und daß Mussolini einen höchst
gebildeten Despoten abgibt, der Marx, Bakunin und Georges Sorel in sich
aufgenommen hat, während Herr Goebbeles, unser Duce in spe, nur ein
schmächtiges Moseskind ist, das Adolf Hitler im Schilf gefunden und mit den
literarischen Delirien Artur Dinters großgezogen hat.
Bedeutet dieser Sieg schon den
Auftakt fascistischer Diktatur? Wenn Hitler Putsch gewollt hat, dann hätte er
in der Wahlnacht losschlagen müssen. Die Straßen Berlins gehörten den Nazis.
Überall dröhnte das stupide «Deutschland erwache! » In den Redaktionen der
großen Presse kursierten Umsturzgerüchte. Der Marsch auf Berlin ist da!
Plötzlich wird die Verläßlichkeit der preußischen Polizei, der Reichswehr
bezweifelt. Hat man nicht für beide die Hände ins Feuer gelegt? Jetzt, beim
ersten blinden Alarm, gilt das alles nicht mehr. Jetzt erzählt man angstbebend
von einer Fühlungnahme zwischen Hitler und hohen Kommendeuren. Jetzt erzählt
man, das R.W.M. habe seine Neutralität zugesagt. Während so gräßliche
Geschichten umlaufen, feiern die Sieger im Sportpalast. Das Übermaß des Erfolgs
hat sie überrumpelt. Sie torkeln in seliger Besoffenheit. Walhall öffnet sich
den Helden. Das Methorn geht um, die Midgardschlange liegt erschlagen, und man
verspeist sie in Senfsauce. Diese Nacht gehört uns!
Auch noch der nächste Tag?
Hitler strebt schon lange sehnlichst nach der Legalität. Nicht aus dem
Verjüngungsbad der nationalen Revolution, aus ganz gewöhnlichen
Ministerportefeuilles wird das Dritte Reich steigen. Es muß dahingestellt
bleiben, ob es Hitler gelingen wird, seine Gardekapitäne, die den Endsieg schon
zum Greifen nahe sehen, zu einem gemächlichern Tempo zu bewegen. Das ist der
Fluch dieser in allem Sachlichen ganz nebelhaften Bewegung, daß sie zwar das
Maul aufreißen aber nichts unternehmen darf, was ihre großindustriellen
Konnexionen trüben könnte. Die Fraktion hat für die Reichstagseröffnung
sozialradikale Demonstrativanträge vorbereitet, die so formuliert sein sollen,
daß auch Kommunisten und Sozialisten sich ihnen nicht entziehen können.
Wahrscheinlich ist allerdings, daß auch die Kommunisten solche Anträge stellen
werden, die ihre Weisheit allerdings nicht aus Gottfried Feders
Wirtschaftskabbala holen, sondern sich schroff und ohne Fisimatenten gegen die
Industrie richten und damit die der Nazis gleich erheblich überrunden. Außerdem
dürfte auch Hugenbergs Einfluß im Reichstag größer sein als im Wahlkampf, wo
der Herr Geheimrat oft nur wie eine Geisel für das Wohlverhalten seiner Partei
wirkte. Soweit es den Kapitalismus angeht, wird er schon für Ordnung sorgen,
und die frischgebackenen Nazitribunen werden bald den vollen Ernst des Lebens
kennen lernen und Augen machen wie ein ahnungsloses Stiftsfräulein, das durch
einen unheimlichen Zufall ins falsche Hotel geraten ist. Doch von dem, was im
Fraktionssaal vor sich geht, wird die Wählermasse zunächst nichts erfahren. Und
das Ergebnis des 14. September ist ganz unzweideutig: außerhalb der beiden
sozialistischen Linksparteien haben noch auf der extremen Rechten sechs
Millionen antikapitalistisch gestimmt. Dieser
Reichstag hat eine antikapitalistische
Mehrheit. An dieser Tatsache können auch die Koalitionstechniker nicht
vorübergehen, die eine arbeitsfähige Reichsregierung zu errechnen versuchen.
Es ist recht ungewiß, ob die
Große Koalition zustande kommen wird, und dies Ziel ist auch nicht
wünschenswert, wenn die Diskussion darüber so wie jetzt weitergeht. Die
Mittelparteien fühlen sich schon wieder wichtig, und die Sozialdemokratie
biedert sich schon wieder an, anstatt zu fordern. Der gute, alte
<Vorwärts> zählt schon wieder die Reize seiner Partei auf und stellt dabei
deren liebenswürdige Bescheidenheit als ersten Posten heraus, anstatt den
gepantschten Bürgerparteien ein paar pädagogische Maulschellen zu verabfolgen,
die das Begreifen beschleunigen. Die
Sozialdemokratie hat 1918 das Bürgertum aus dem Wasser geholt und nur Undank
dafür geerntet. Diesmal wenigstens muß sie den Bürgerlichen deutlich
machen, daß es nicht ratsam ist, frech zu werden, während man noch im
Rettungsgürtel zappelt. Die Partei kommt auch nicht ohne Blessuren aus dem
Wahlkampf. Sie hat von den Millionen Neuwählern nichts profitiert, sogar zehn
Mandate verloren. Die radikalisierte Arbeiterschaft ist zu den Kommunisten
übergegangen, und von bürgerlicher Seite ist kein Zuzug mehr zu erwarten. Ob
die Sozialdemokratie in Opposition bleibt oder in die Regierung geht, ihr neuer
Haltepunkt muß ein paar Schritte weiter links sein. Ihr vornehmster Ehrgeiz
darf hinfort nicht mehr darauf gerichtet sein, von der Schwerindustrie als
brauchbar und koalitionswürdig anerkannt zu werden. Ihre aktuelle Aufgabe ist
die Wiederherstellung einer wenigstens operativen Einheit der deutschen
Arbeiterklasse. Der Akkord wird ganz gewiß nicht dort erfolgen, wo die heutige
Kommunistenpartei steht. Aber die Superintendenten aus der Lindenstraße irren
sich ganz gewaltig, wenn sie glauben, daß der Wollsack, auf dem die Partei
jahrelang geschlafen hat, von der Arbeiterschaft jemals als Sammelplatz neuer
Einigung hingenommen werden wird.
Vor allem sollte aber die
Sozialdemokratie die Zumutung ablehnen, mit Herrn Brüning zusammenzusitzen. Der
Reichskanzler ist der Urheber und Manager dieses unseligen Wahlkampfes, er ist
verantwortlich für dieses Resultat. Brüning ist der Schuldige. Er hat
verfassungswidrig den Reichstag aufgelöst, und er hat den Wahlkampf
ausschließlich gegen links geführt. Er hat die Sammlung des Bürgertums
proklamiert und die Sozialdemokratie als staatsfeindlich stigmatisiert, vom
Rechtsradikalismus und seinen Drohungen dagegen kaum Notiz genommen. Er hat
nach den Sozialisten Vitriol gespritzt; Hugenberg und seinen Verbündeten aber
nur sanften Spott gesagt. Er hat weder Treviranus desavouiert, der von
vornherein die Diktatur als Ziel aufstellte, noch den Jesuitenpater Muckermann,
der in der <Germania> prophezeite, daß dies «der letzte Reichstag der
Weimarer Zeit» sein werde. Das hieß ganz unmißverständlich: wenn diese Wahlen
nicht das von Herrn Brüning gewünschte Ergebnis bringen, dann wird weiter mit
Artikel 48 regiert. Kampf also gegen Sozialisten und Republikaner, dafür aber
tolerante Behandlung der Nationalsozialisten, die zwar knotig und schwer
disziplinierbar sind, aber doch eine gute Reservetruppe des Bürgerblocks
abgeben können. Diese Kalkulation ist erbärmlich zusammengekracht. Niemals ist
ein Staatsmann von den Ereignissen ärger Lügen gestraft worden. Herrn Brünings
Bürgertum, das zu sammeln war, hat sich als nicht vorhanden erwiesen. Seine
konservative Ideologie hat keinen Hund vom Ofen fortgelockt, sein Appell, eine
Mehrheit für eine streng kapitalistische und sozialreaktionäre Regierung zu
schaffen, ist ungehört verhallt. Statt dessen hat er den Fascismus groß
gemacht.
Das alles ist dem Herrn
Reichskanzler auch von linksbürgerlicher Seite gesagt worden, aber es ist
merkwürdig, welch großes Vertrauen man ihm dort trotz alledem noch
entgegenbringt. Man glaubt dort noch immer an seine Fähigkeit, mit den
Nationalsozialisten auf trockenem Wege fertig zu werden. Dieses Vertrauen ist
nicht sehr ehrenvoll, denn es besagt deutlich, daß man zwar von Herrn Brüning
keine schöpferischen staatsmännischen Taten mehr erwartet, desto mehr aber von
seiner intriganten Veranlagung. Hofft man auf eine Wiederholung von München
Dreiundzwanzig? Hofft man, daß Brünings rot‑ und schwarzröckige
Vorgesetzte, wie damals der Kardinal Faulhaber, die Sache wieder deichseln
werden? Hitler ist gewiß kein kühl denkender Politiker sondern ein pathetisches
Mondkalb, aber er müßte Ricinus im Kopfe haben, wenn er die Bräuhauskomödie
noch einmal aufführen wollte. Herrn Brünings Verschlagenheit alle schuldige
Hochachtung, aber sie hat mindestens eine ungeheure Niederlage verschuldet, und
wenn die republikanische Tugend schon bereit ist, mit dem Teufel zu paktieren,
dann nicht mit einem betrogenen. Lieber eine offene Rechtsregierung als eine
Prolongation Brünings. Dieses spitznasige Pergamentgesicht, dieser Pater
Filucius mit dem E.K.1 am Rosenkranz muß endlich verschwinden. Ein Mann, der
nicht widerspricht, wenn sein Leiborgan das «Ende der Weimarer Zeit» verkündet,
ist nicht geeignet, in dieser dramatischen Epoche die Verfassung von Weimar zu
verteidigen. Er wird vielleicht versuchen, noch eine Zeitlang, auf Herrn von
Schleicher gestützt, in der bisherigen Weise fortzufahren. Aber die
Hindenburgdiktatur besitzt wenig Autorität mehr, der Name des
Reichspräsidenten, von Treviranus durch die Pfützen der Parteiagitation
geschleift, zeigt sich nunmehr ramponiert und ohne Zugkraft. Wird Herr Brüning,
der Antidemokrat, wenn sein Witz an der Härte der Aufgabe zu zerschellen droht,
die angemaßte Gewalt auch wirklich der verfassungsmäßigen Instanz zurückgeben
oder nicht vielmehr vor dem Fascismus kapitulieren? Bald wird der Winter mit
neuer Arbeitslosigkeit und vermehrtem Elend da sein. Bald wird Herr Dietrich
eine neue Kassenkatastrophe des Reichs anzeigen müssen. Es gibt genug Esel, die
sich jetzt von einer möglichst strammen Sprache eine Revision des Youngplans
versprechen. Welch ein Wahnsinn! Schon heute ist Aristide Briand ein toter
Mann, nicht Poincaré und Maginot, Treviranus und Hitler haben ihn erledigt. Das
Schlimmste ist wieder möglich ‑ sogar eine Wiederbesetzung der
Rheinlande. Alles das kann schon im Laufe der nächsten Wochen akut werden. Dann
wird der Fascismus seinen zweiten gewaltigen Auftrieb erhalten, und dann kann
Herr Brüning die Schlußworte der Republik sprechen: Kabinett Facta. Dieser Kanzler
darf nicht länger bleiben. Er ist gegen die drohenden Gefahren keine schützende
Mauer, höchstens die Wand aus dem «Sommernachtstraum», die sich mitten im Spiel
mit einer höflichen Verbeugung entfernt: ‑ Ich, Wand, hab meinen Part
tragiert, drum Wand sich jetzt empfiehlt und abmarschiert.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 23. September
1930