Gottfried Benn Zum Thema Geschichte
Fürst Talleyrand
hat das sehr einfache Geheimnis seiner sehr komplizierten Politik mit den Worten
enthüllt: »nur kein Übereifer.« Wir pflücken allzu unreife Früchte und hemmen
mit unserer Ungeduld die Entwicklung der Dinge. Kein Wort findet sich häufiger
unter Napoleons Aussprüchen über politische und strategische Lagen als das
etwas vulgäre: »die Birne ist noch nicht reif.« »Überwachsen, nicht
überwältigen«, sagt Laotse, das ist die Stimmung der
tiefsten Schicht; oder sein anderer Satz: »Das Abwartende pflegen und das Auswirkenlassen des Seins.« Alles meint das gleiche,
Reifsein ist alles. Wer stillsteht, auf den kommen die Dinge zu. Die Männer
großer äußerer Erfolge wie die Männer großer innerer Erfahrung vereinen sich
darin, ihren eigenen Willen zu überwachen und das Bereitwerden der Objekte zu
empfinden.
In dieselbe Richtung ist die
Tatsache zu deuten, daß die Geschichte Methoden anwendet, die den geistig
Wachen und Aufmerksamen übergehn. Einer ihrer
eklatantesten Züge an ihren Wendepunkten ist die Verwendung von Mikrozephalen.
Der denkerische Typ ist bereits zu triebentfremdet
und muskelentwöhnt, um ihrer geologischen Bewegung zu
genügen. Auch Napoleon ist innerhalb seines Jahrhunderts ein mikrozephaler
Artillerist, Hauptmann mit der Fahne, ein Dutzend Pferde, auf denen er mit
seinen prallen Schenkeln saß und kommandierte, fielen unter seinem Leib. Beweglichkeit
(»Vitesse! Vitesse!«),
solange es vorwärtsging; nach Fehlschlägen schleunigste Flucht (Beresina, Leipzig, Waterloo) ‑; Beweglichkeit und
Feuerwerk, Beschwörungen und Knallfrösche. Was er hinterließ, was übrigblieb,
sind Militärstraßen, die die Städte umgehen und die Gesellschaft im Chaos als
Material für die Balzacschen Romane. Alexander und Alkibiades
werden nichts anderes gewesen sein, motorische Typen, Rossebändiger,
Freischwimmer, Furtenüberquerer ‑ Legenden
durch einige Geschlechter, Fetische, Bilder. In Formen von Dauer gehn sie nicht ein durch das, was sie marschierten und
liefen, proklamierten und transpirierten; am Leben gehalten werden sie und die
Völker von den Friesen der meißelführenden Bildner,
den Chören der Eumeniden, die mit des Opfers stillem Blut des Landes Unheil
wehren, von den Worten orphisch und den »Verlorenen Illusionen«. Die ganze Geschichte,
die Geschichte der weißen Rasse, ist der Weg der verlorenen Illusionen von der
Glorie des Helden und der Mythe der Macht. Diese Birne wird jetzt reif, es
gilbt ihre Schale, ihr Saft wird süß, es rüstet sich ihr Fest.
Der Held und der Durchschnitt ‑,
ein affektives Begegnen! »Wo du nicht bist, kann ich nicht sein« ‑
Lehársche Melodik, und dies Land des Lächelns heißt Geschichte ‑ ein
Lächeln allerdings auf den Zügen von Leichen und eine Geschichte, erhellt
allein vom Gold und Purpurrot geistig einfacher, gutbezahlter,
moralisch undifferenzierter Generale. Die Qualität einer Armee beruht auf der
Eitelkeit und der Armut ihrer unteren Offiziere. Dies treibt sie vor und als
Drittes, daß sie einen Beruf höherer Art nicht erlernten. »Sie lesen wohl
Bücher« ‑ sagte eine höhere Charge ‑, »habe ich nie gemacht;
Zigarre, Schnaps und Zungenkuß und sonntags natürlich in den Gottesdienst, aber
Bücher, ‑ doch, über die Königin Luise habe ich eins gelesen« ‑:
diese Charge war unter anderen menschlich anständig und moralisch solide. Man
trifft auch Generale von geistigem Rang, aber sie sind selten, sie bestimmen
die Klasse nicht, sie sind eher verdächtig. Kaum einer sah im Frieden ein
anderes Land, spricht eine fremde Sprache, auch der Adel stirbt aus, man läßt
ihn fallen ‑ auf den Schlachtfeldern; jetzt sind die »Zwölfender« aristokratisch,
orthographische Fehler empfehlen den Avantageur.
Sprengen, Bunkerstürmen, Brückenköpfevortreiben,
niederbrennen, versenken, zerstören ‑: vernichten, vernichten, vernichten
‑: dafür das Eichenlaub und die Brillanten, das ist die Werbung des
Staates um die Jugend. Erziehung heißt: geschickt zum Mord; Führer:
heimtückisch und gerissen. Es ist völlig unerfindlich, warum die Natur die
Aasgeier und Hyänen verließ und am sechsten Schöpfungstag nicht weiter in Schakalen
machte, sondern das Antlitz schuf, über das Tränen rannen und das sich erhob.
Und es ward ausgeworfen der
große Drache ‑: Dschingis‑Khan, der sieben Millionen mordete, die
Spanier in Mexiko, unsere »Genesungsbewegung« im Osten ‑ die Frage ist
unbeantwortet, wer mehr menschliches Gut zerstörte: die Elemente oder die
Geschichte. Selbst nimmt man den natürlichen Tod hinzu, bleibt doch der
willentliche Anteil des Menschen wesentlich und sehr beachtlich. Der ungebrochene
und offenbar unbrechbare Wille im Namen Baals, im
Namen von Lokalgöttern, mythologisierten Gauwächtern, idealisierten
Stammräubern, Halluzinationen, Fetischen, Phrasen ‑ dies alles setzt die
anthropologische Zerstörungsgeologie in hohem Prozentsatz neben die elementare.
Die erwachten Deutschen haben den Ehrgeiz, wenigstens in diesem Sinne,
anthropologisch führend zu sein: »das Reich«! Der Maßstab für den deutschen
Menschen ist der tote Ostsoldat. Wer ißt, dient dem Feind; wer lebt, ist
dadurch schon ein Landesverräter. Am Tatarengraben bei Kertsch
verstümmelt ruhen ‑: dann ist der Sinn erfüllt, dann ist es »beispielhaft«,
dann küren ihn die Asen und das Grab am Busento
rauscht durch die Jahrhunderte seine Herzogsfanfare, sein Gotenlied.
Es handelt sich nicht um
Ansichten, Meinungen, Weltanschauungen, es handelt sich um einen bestimmten
Konstitutionstyp. Der Nationalsozialismus hatte darin recht, einen bestimmten Typ
ausrotten zu wollen und darin vorbildlich zu werden, soweit es ihm gelang. (Von dieser Äußerung müssen wir uns - auch
wenn sie vom großen Benn stammt - distanzieren. Der - originäre -
Nationalsozialismus mag zwar in einigen Punkten recht gehabt haben, im Ziel der
Ausrottung bestimmter Typen sicherlich nicht. Das war übrigens auch die
ursprüngliche Überzeugung u.a. von Heinrich Himmler, der die Absicht der
Judenvernichtung als "ungermanisch" verwarf, um sich allerdings
später gleichwohl Hitlers verbrecherischen Befehlen zu beugen.) Wir
bestrafen nicht Fehler und Vergehn, lehrte seine
Rechtsphilosophie, wir verfolgen Typen. Welcher Typ es ist, schildert der Universitätsprofessor
Erich Jaensch in seinem Buch: »Der Gegentypus «. Der
Gegentyp ist der »Auflösungstyp«, nämlich alles, was sich der »prallen Jugendform«
entgegenstellt, und der Charaktererziehung zum »reifenden Wir«. Die »gefühlsbeseelte Pyknika«
(kurzbeinig, breithüftig, »totale Schwangerschaft«) ist die Idealgestalt. Es
gibt eine Venus aus Wöllersdorf, eine Venus aus der
Steinzeit, unproportioniert, aber riesig in bezug auf Gesäß und Genital, das
ist die biologisch hochwertige Stilform, die hat den richtigen
Integrationskern. Alles andere ist Desintegration, Auflösung, Unterwertigkeit, finalbetontes Ausgangsarrangement. Bei Jaensch
heißt dies der »S‑Typ«. Jaensch war der Leiter
des Instituts für psychologische Anthropologie an der Universität Marburg. Er
vertritt die Wissenschaft des Dritten Reichs. Von ihn stammt der eminente
Ausdruck für den Nationalsozialismus als »Genesungsbewegung«. Den Auflösungstyp
führt Jaensch ohne jede wissenschaftliche Begründung
auf die Durchseuchung der modernen Menschheit mit Tuberkulose zurück. Der
Kochsche Bazillus ‑ aus ihm Niedergang, Dolchstoß, Systemzeit. Sofern das
keine Reklame für der Janningsfilm war, ist es nur erklärlich aus dem Haß des Jaensch gegen Thomas Mann, in seinen Augen die Inkarnation
des S‑Typs, und seinen »Zauberberg«. Der Typ, den aufzulösen entgegen Jaensch anderen die ganze Zeit über am Herzen lag, stand
den George Groszschen Figuren wesentlich näher als der empfängnisbereiten Pyknika.
Die Genesungsbewegung! »Für
ein Auge ‑zwei, für einen Zahn ‑ den ganzen Kiefer«, das war ihr
Genesungsmotiv, gegen moralische Beurteilungen erhob sich ihr Gefühl. Anbetung
der Macht, ganz gleich, ob sie die gemeinste, dümmste, schakathafteste
Gesinnung vertrat, wenn es nur die Macht war: Führer befiehl, wir folgen!
Geborene Lumpen und trainierte Mörder, ‑ alles, was an ihnen nicht unter
diese beiden Begriffe fällt, ist Blattpflanze, dekorative Arabeske. Mit diesen Dekorationen
umgeben sie sich gern, zum Beispiel Goebbels spricht unaufhörlich über Kunst,
es wirkt so, als wenn die Regenwürmer sagten, was sind wir doch für ein rapides
Geschlecht, ich sah erst gestern einen Vogel, der mußte die Flügel bewegen, um
vorwärtszukommen. Der dicke Reichsmarschall mit Orden und Medaillen von der
Schilddrüse bis zur Milz, wenn er in seinen Reden nicht weiterkam, flicht er
immer ein: ‑ »wie ist das doch gewaltig, meine Freunde « ‑ in der
Tat, es ist gewaltig, was diese Bewegung dem einzelnen brachte: Jagdschlösser,
Gamsreviere, Inseln im Wannsee, sogar Umlegungen von Autobahnen für die
Kühlwagen der Lieferanten ‑, eine wahre Gesundmachung ging für einige von
dieser Genesungsbewegung aus!
Deutschland hat seine Bestien hochgelassen, schrieb Heinrich Mann bald nach seiner
Emigration, aber alles, was die Emigranten schrieben, genügte uns hier nicht.
Waren es die Bestien oder waren es die Deutschen, fragten wir uns immer wieder,
die hier genasen? Sehr verdächtig in dieser Richtung ist der Erlösungsgedanke,
der ihre Musik- und Bühnendramen durchzieht. Tannhäuser und seine Variationen,
Fliegender Holländer, Parsifal, nicht »Faust«, aber die faustischen Motive ‑:
erst benehmen sie sich wie die Schweine, dann wollen sie erlöst werden. Von irgendeiner
»höheren« Macht, die ihnen ihr tumbes, stures Weben und Wabern vergibt. Sie
kommen gar nicht darauf, sich selber durch einen Gedanken innerer Erziehung,
durch Einfügen in ein Moralprinzip oder eine prophylaktische Vernunft in Ordnung
zu halten oder wieder in Form zu bringen, sie haben ihre »Dränge«, das ist
faustisch ‑ und dann wollen sie erlöst werden.
Auch die Haltung ihrer
führenden Männer, noch in Friedensjahren, bekräftigt Heinrich Mann. Da sitzen
sie in der Festsitzung der Deutschen Akademie, zu der Goebbels geladen hat. Die
großen Dirigenten, die ordentlichen Professoren für Philosophie oder Physik,
Ehrensenatoren noch aus den alten anständigen Zeiten, Pour‑le‑mérite‑Träger
der Friedensklasse, Reichsgerichtspräsidenten, kaiserliche Exzellenzen,
Verleger, »erwünschte« Romanschreiber, Goethe-Forscher, Denkmalspfleger,
Staatsschauspieler, Generalintendanten, der ehrbare Kaufmann und alle
ausnahmslos lassen das antisemitische Geschwätz des Ministers ruhig über sich
ergehen. Sie rücken interessiert hin und her, sie rühren die Arme, ‑ erst
vor kurzem hat die philosophische Fakultät Thomas Mann aus der Reihe der
Ehrendoktoren ausgestoßen, die naturwissenschaftliche einen Rasseforscher, der
die idiotischen Teutonismen nicht mitmachte, ins Lager
gebracht; jeder der Anwesenden weiß, einer der edelsten Geistlichen, ehemaliger
U‑Bootskommandant mit zwölf Feindfahrten, wird im Lager gefoltert, weil
er lehrte, daß Gott größer sei als dieser Hitler; jeder der zuhörenden
Wissenschaftler ist darüber orientiert, daß die Portiers und Blockwalter gehört werden, ob ein in ihrem Bezirk wohnender
Gelehrter einen Lehrstuhl bekommen darf; sie alle ausnahmslos sehen die
Lastwagen, auf die jüdische Kinder, vor aller Augen aus den Häusern geholt,
geworfen werden, um für immer zu verschwinden: dieses Ministers Werk ‑;
sie alle rühren die Arme und klatschen diesem Goebbels zu. Da sitzen sie: Die Agnaten der alten Familien, aus denen Novalis, Kleist,
Platen, die Droste‑Hülshoff kamen, Seite an Seite mit den Abkömmlingen
der zahlreichen großen Pfarrergeschlechter, von denen vierhundert Jahrelang zweiundfünfzigmal im Jahr das Gebot der Liebe gepredigt
war, Schulter an Schulter mit dem ehrbaren Kaufmann, dessen Gesetz Worthalten
und Vertragstreue sein sollte, schlagen mit die Juden tot und bereichern sich
an ihren Beständen, überfallen kleine Völker und plündern sie mit der größten
Selbstverständlichkeit bis aufs Letzte aus ‑ und nun »zutiefst« und
»letzten Endes« und »voll und ganz« reinigen sie kulturell mit. Keiner fühlt
sich verpflichtet durch irgendeine Tradition, irgendeine Herkunft familiärer
oder gedanklicher Natur, irgendeine Ahnenhaltung, ein Ahnenerbe ‑, aber
das Ganze nennen sie Rasse. Die Deutsche Akademie! Nicht einer erhebt sich,
speit auf die Blattpflanzen, tritt die Kübel mit Palmen ein und erklärt, es ist
unstatthaft zu behaupten, daß sich in diesen üblen völkischen Pöbeleien
irgendeine dumpfe nationale Substanz etwa ans Licht ringt, hier betätigen sich ganz
allein die völkischen Ausscheidungsorgane, durch dieses Sprachrohr läßt die
Nation unter sich ‑: Keiner rührt sich, die großen Dirigenten, die Pour‑le‑mérite‑Träger der Friedensklasse,
die internationalen Gelehrten, der ehrbare Kaufmann, ‑ alle klatschen.
Eine besondere Rolle spielen
die Naturwissenschaften. Die Konstitutionslehre befaßt sich eingehend mit dem
Heldentyp, sie weist darauf hin, daß alle den athletischen oder leptosomen
Körperbau besaßen (nur Napoleon war Pykniker), und daß sie alle einen zu hohen
Blutdruck hatten. Sie fügt harmlos ‑ aber im Hintergrund schimmert die
Goethe‑Medaille oder der Adlerschild ‑ hinzu, daß auffallend viel a‑
oder homosexuelle Typen unter ihnen seien. Die Medizin durchforscht die
Zusammenhänge (Moltkes Gallenleiden und die verlorene Marne-Schlacht); alles
drängt mit Arbeiten herbei, alle möchten sich dem Heldenleben nähern, an ihnen
teilhaben, zum mindesten in seine Ausdünstungen treten, offenbar umwittert
diese etwas von dem tellurischen Reiz des Sexuellen. Die moderne Biologie
vollends, selbst völlig unfähig, einen metaphysischen Gedanken aus ihrem Schoß
zu entbinden, dafür aber um so begieriger, sich in unauffälliger Weise
anzuschließen und hinzugeben, fügt hinsichtlich der Helden hinzu: »auf jeden
Fall ist ihr Ziel wahrhaft kosmisch« (Medizinische Klinik 1943, Heft 4). Der
Gynäkologe will nicht fehlen, er hilft den Helden züchten. Bei kinderlosen Ehen
soll es nach Prüfung von seiten der Parteidienststellen durch die künstliche
Befruchtung (»k. B.«) geschehn. Der »Wasserweg« soll
ersetzt werden durch den »Lufttransport«. Alle Mann an die Petrischale und die
trocken sterilisierte Spritze mit langer stumpfer Kanüle! Der »Zeugungshelfer«
der alten Germanen in Gestalt eines Dritten, der das Sperma liefert, soll
wieder in das Brauchtum eingeführt werden; die geistige Anregung hierzu entnahm
die Gynäkologie dem Darréschen Buch über den
Lebensgrund der germanischen Rasse.
Der Komponist eines Oratoriums
»Ruth« tritt mit einer zeitgerechten Textbearbeitung hervor, aus Ruth hat er Li
gemacht, und die Handlung läßt er nicht mehr auf den moabitischen
Ackern Boas' spielen, sondern auf den Reisfeldern Chinas ‑ witzigerweise
hat er dem Werk nunmehr den Titel »Das Lied der Treue« gegeben. Ein
Balladendichter erbittet vom Propagandaministerium die Erlaubnis, die Heine‑Texte
der Schubert‑Lieder durch dem Volksempfinden näherstehende
eigene zu ersetzen ‑ die Presse findet es angebracht. »Die Juden« ‑
sagen die Militärs, wenn die Amerikaner in Nordafrika landen. Die Schlafmittel,
sagen die volksbewußt gewordenen Apotheker, sind
unrassisch, die Blase soll schuften, bis sie absackt, dann steigt Morpheus
schon hernieder. Nein, es ist ganz Deutschland, alles eint sich in dieser
Genesungsbewegung, dieser großen geistigen Bewegung, die nach Lodz den »Graf
von Luxemburg« und nach Stavanger »Kollege kommt gleich« trägt, an das Parthenon die Marschklänge »Panzer rollen nach Afrika«
schmettert und an den Strand von Syrakus eine Führer‑Büste spült. Was die
Deutschen Idealismus nannten und den sie sich so besonders zusprachen, war
immer nur ein Mangel an Formbildung und Gliederungsvermögen. Nun aber wurde er
eine Verschlammungsorgie, ein wahres Sumpffieber, an dem die Goebbels und
Fritsche groß verdienten, aber auch für die Jaensch
und Blunck fiel noch genug ab. Hier wuchs weniger aus der Not eine Tugend als
aus moralischer Verwahrlosung hohes Einkommen, aus Erpressung Landhäuser, darin
der Wandbehang aus Museumsdiebstählen ‑ das Ganze nannten sie nordisch.
Nein, man muß bekennen, es
waren nicht die Bestien, es war Deutschland, das in dieser Bewegung seine
Identität zur Darstellung brachte, und nun fällt unser Blick, mit Bedauern,
aber unausweichlich noch auf eine besondere Gruppe, eine Gruppe lebhafter
Gestalten, selekte Haltung in der Wespentaille, kein
Kanonenfutter, exzellent equipierte Herren in Purpur und Gold. Wo immer es
galt, einen Überfall zu arrangieren, einen Rechtsbruch zu stabilisieren, eine
politische Felonie massiv zu untermauern oder einen Offizier alter Gesinnung
und alter Qualität erst hinauszusetzen und dann an seine Stelle zu treten oder
die alte Kriegsflagge zu verraten, die alte Ehrenauffassung zu sabotieren, wo
immer für einen Tresoreinbruch größeren Stils Experten in Sprengungen und
Aufknacken fällig waren ‑ überall stand ein General und sagte: Jawohl!
Die deutsche Armee war bis
1938 innerhalb des Nazideutschland die letzte Elite und der letzte Kern von
Fond. Der Eintritt in die Armee war, wie ich damals sagte, die aristokratische
Form der Emigration. Mit dem Ausstoßen des Generalobersten Freiherrn von
Fritsch begann das Ende. Was sich jetzt noch hielt oder hochkam, war Kreatur.
Schließlich erschien jener Erlaß, der anordnete, daß bei den
Qualifikationsberichten über Offiziere angegeben werden mußte, nicht nur, ob
der Betreffende die Weltanschauung des Nationalsozialismus verträte, sondern ob
er sie 'hinreißend zu übertragen' vermöchte. Das wurde die Vorbedingung zur
Beförderung ‑; stand ein General und sagte: Jawohl!
Ein General will schwören, wem
ist nebensächlich, dann ist er glücklich, das Weitere vollzieht sich dann mechanisch.
Es ist Befehlsausgabe im Hohen Haus. Er nähert sich: Pharao und seine Günstlinge,
sein Gesicht ist fett, braun, behaglich, er könnte in Pantoffeln mit einem
Dackel durch Schrebergärten gehen.
Die Flügeltüren öffnen sich.
"Meine Herren -"
Die Angeredeten nehmen Haltung
an, ziehen die vorgestreckten Körperteile zurück, ordnen die Bäuche.
»Meine Herren Generale, wir
werden demnächst wieder ein neues Volk überfallen, es ist klein und nahezu ohne
Waffen, mit unseren Fahnen wird der Sieg sein ‑ «
Genugtuung bei den Generalen.
» ‑ sollte wider Erwarten
ein bewaffneter Gegner zu Hilfe kommen, ‑ einige taktische Erwägungen!
Der Materialwert der Angrenzerländer ist Reichsmark zehntausend für den Morgen,
in der Avenue de l'Opéra und auf den Docks von Bone wesentlich höher: demnach Viertonnenbomber nur auf
Produktionszentren! «
Volkswirtschaft, denken die
Generale, enormer Kopf!
»Einbrechen! Lost auf das
angesiedelte Ungeziefer! Sauerstoff an die Tresors! ‑ Die Leere des
Schlachtfeldes, dieser bedeutende Begriff, heißt: Schablonen hüben wie drüben,
es gibt keine Gegenstände! Feuerleitung ‑ Brunnenstube der Haubitzen ‑
Zirbeldrüse der Schlacht - lautlos kriechen die Termiten! ‑«
Ichverlust,
Selbstaufgabe bei den Generalen, alle saughaft am
Sprecher.
»Berufen sowohl wie
auserwählt! Das Harakiri wurde bereits durch Kopfabschlagen verweichlicht, und
bei den Kannibalen haben höchstens noch die Großväter Menschenfleisch gefressen
‑: Unser Idealismus heißt Einkesseln, unsere Metaphysik zehntausend
Kopfschüsse! Eisern! Mitschreiben! Stichwort Reginald: 13.25 Uhr fünfzig
Batterien Steilfeuer auf Bunker Germinal ‑: «
Die Generale taumeln: Wachen
und schanzen! Bilder, Visionen: auf dem Schlachtfeld melden! Dem Feldherrn
melden: Fall einer Festung! Hunderttausend Gefangene! Melde gehorsamst:
unaufhaltsame Verfolgung ‑ ‑ melde: völlige Vernichtung ‑ ‑:
Cannä ‑! ‑ melde, melde gehorsamst ‑ ‑ »Sieg, meine Herren! Pylone,
wenn Sie heimkehren und ein ewiges Feuer den Toten! Vernichtung! Ein Rausch die
Gräben ‑ vorher doppelte Rumportion und die letzten dreihundert Meter,
wenn die Maschinen schweigen müssen, die Infanterie ‑ ‑ die
Infanterie ‑ ‑!«
Traumhaft die Generale. Völlig
verschleiert. Im Dunst Halsorden, Beinamen wie »Löwe von«, Kranzschleifen bei
späterem Todesfall, Lorbeer und Mythen -
Von diesen Generalen sind
viele gefallen, mehr als je in einem anderen Feldzug, und kein Zweifel, sie
sind aufs tapferste gefallen, ohne zu zaudern und ohne Tränen. »Der
kommandierende General greift an, das Korps folgt« ‑ berühmtgewordenes
Wort aus diesem Krieg. Sie sind nicht zu Hause geblieben wie die Bonzen, die uk‑gestellten Genesungswanzen. Aber überblickt man
das Ganze, so gehören sie alle zusammen; wo immer die Genesungsbewegung eine
infame Großplanung tätigte, stand ein General und sagte: Jawohl!
Etwa 1943