Unternehmen Barbarossa - oder Stalins Weg zum Atlantik
Gelegendich geht es
Buchautoren wie Filmproduzenten. Sie bringen ein Werk heraus, das ein Furioso
neuer Ideen und Perspektiven enthält. Der durchschlagende Erfolg, den sie damit
erzielen, verführt sie dazu, Fortsetzungen folgen zu lassen, die das ursprüngliche
Muster nur wenig variieren und deshalb von Mal zu Mal an Neuheit, Qualität und
Reiz verlieren. Das trifft auch im Fall des vorliegenden Buches zu, das, wenn
es ein Film wäre, wohl einfach einen Titel tragen würde wie "Stalin's
Great Coup III", vielleicht noch mit einem Untertitel wie "The Lost
Victory". Leider ist bei Büchern ein solches Verfahren der Betitelung noch
nicht üblich, was dem Leser manche Chance zur Frühwarnung raubt.
Tatsächlich serviert Suworow
thematisch einen Aufguß seiner alten Werke "Der Eisbrecher" (1989)
und "Der Tag M" (1995), wenn auch mit inhaltlichen Variationen. Der ‑
wie gewohnt ‑ flüssige Erzählstil verbindet sich so gelegentlich noch mit
reizvollen neuen Einzelheiten, doch die aufgesetzte Naivität bei der
argumentativen Entfaltung der immer gleichen Thesen langweilt mittlerweile doch
sehr. Auch seine zentrale These stellt nicht gerade eine umwerfende Innovation
dar: Stalin plante demnach im Sommer 1941 eine gigantische Militäroffensive zur
Eroberung des nichtrussischen Europas, wo ihm nur noch ein einziger ernsthafter
Gegner gegenüberstand, eben jene deutsche Wehrmacht, die ihm dadurch einen
Strich durch die Rechnung machte, daß sie wenige Wochen früher ihrerseits
angriff.
Ebenfalls keine Überraschung
bietet die Tatsache, daß bei Suworow ein durchaus chauvinistischer Stolz auf
russische Militärtraditionen durchbricht ‑ zum Beispiel im Kapitel über
den sowjetisch-finnischen Winterkrieg ("Es gab nur eine Schlußfolgerung
aus den Kampfhandlungen in Finnland. Für die Rote Armee war nichts
unmöglich") oder über die Luftlande‑Kapazitäten der sowjetischen
Luftwaffe: "Dem, der daran erinnert, wie viele Flugzeuge die Amerikaner
für die Einsätze ihrer Fallschirmjäger benötigten, antworte ich: 'Sind wir etwa
Amerikaner?'"
Bereits der aufmerksame Leser
des "Eisbrechers" konnte 1989 bemerken, daß die Aufzählung jener
Fakten, mit denen Suworow einen Offensivaufmarsch der Roten Armee im Sommer
1941 belegen wollte, ihm zugleich dazu diente, zu erklären, warum die Wehrmacht
nach dem 21. Juni zunächst so große Erfolge erringen konnte. Denn alle
Vorteile, die die an sich weit überlegene sowjetische Armee gegenüber der
deutschen besaß, wurden, so die offensichtlich tiefsitzende Überzeugung
Suworows, durch ihre ausschließlich offensive Ausrichtung, die gerade im
riskantesten Moment des Aufmarsches vom deutschen Angriff getroffen wurde, in
ihr Gegenteil verkehrt. Aufgrund der Besessenheit ihres Führers wurde so die
unermeßliche Stärke des russischen Militärs zum Quell einer fatalen, fast
letalen Schwäche.
Und dieses Verhältnis von
Führer und Armee im russischen Fall ist es, das Suworow (ähnlich den Memoiren
deutscher Generäle in den fünfziger Jahren, die von "(nicht) verlorenen
Siegen" träumten, wenn nur der "Führer" nicht gewesen wäre) umtreibt
‑ will man ihm nicht ein ausschließlich kommerzielles Interesse
angesichts der bisher erzielten Absatzerfolge unterstellen. Das einzig neue
Argument des Buches soll jedenfalls vor allem einen Zweck erfüllen: jene
"Besessenheit" Stalins zu erklären, die alle russische Größe so
zuschanden werden ließ. Denn ein zynischer Realpolitiker, der skrupellos eine
einmalige Chance zur Verbreiterung der eigenen territorialen Machtbasis nutzen
wollte, war Stalin für Suworow nicht. Vielmehr unterstellt er ihm ein
"weltrevolutionäres" Grand Design als Motiv, für das nun die Stunde
gekommen war.
Dieses schon im
"Eisbrecher" präsentierte Motiv genügt Suworow allerdings nicht zur
Erklärung jener fatalen Offensiv-Besessenheit des großen Führers der
Weltrevolution. Er sucht nach einem letzten, fast vernünftigen Grund, quasi
einer objektiven Notwendigkeit zu einem, (dann verhinderten)
"Erstschlag". Den findet er bei der Betrachtung der weltbewegenden
Frage, warum 1945 Stalin die Siegesparade der nun nach großen Opfern so
glorreichen Roten Armee in Moskau nicht höchstpersönlich, auf einem
Schimmelhengst sitzend, vor der Front seiner Truppen abgenommen hat. Die
Antwort, daß Stalin nicht reiten konnte, ist ihm offensichtlich zu banal.
Suworow besteht vielmehr darauf, daß der "Sieg" von 1945 für Stalin
kein Sieg, sondern nur der Beginn der Niederlage war, weil nur das halbe und
nicht das ganze Europa (und Afrika) erobert werden konnte. Denn, so projiziert
Suworow die Erfahrungen der achtziger Jahre ein halbes Jahrhundert zurück,
Stalin sei klar gewesen, daß ein sozialistischer Staat auf Dauer keinen Bestand
haben könne, solange seine Bürger noch andere Staaten vor Augen hätten, die
zeigten, daß es auch anders, kapitalistischer, d. h. wohlstandsgesättigter und
freier als bei ihnen zu Hause zugehen könne. Die einzige Lösung dieses Dilemmas
bestand darin, diese Vergleichsmöglichkeit auszuschließen ‑ indem das
Pluriversum der bisherigen Staatenwelt mit Hilfe geeigneter Befreiungsaktionen
der Roten Armee durch die eine sozialistische Weltrepublik abgelöst werden
sollte.
Der 1939 ausgebrochene Krieg
bot die Gelegenheit, dieser streng notwendigen Vorbedingung des sozialistischen
Staatserhalts zu entsprechen und durch die Eroberung Europas und seiner
Kolonien (zu letzterem sollte die übergroße Zahl von sowjetischen
Fallschirmverbänden hauptsächlich dienen, wie Suworow nun herausgefunden zu
haben glaubt) zumindest eine Vorentscheidung zu fällen. Das halbe Europa von
1945 war da nicht gut genug, für einen solchen Pyrrhussieg wollte der große
Führer der Völker nicht auf ein Pferd steigen. Er ließ Marschall Schukow die
Parade abnehmen, gab die Hoffnung auf Weltrevolution und langfristigen Bestand
der UdSSR auf, zog sich trotz seiner Resignation aber leider nicht völlig
zurück, sondern tyrannisierte für den Rest seines Lebens ‑ wohl zum
Ausgleich ‑ die alten und die neu gewonnenen Untertanen. Und das alles, weil
der als "Eisbrecher" eingeplante Hitler seine an sich minderwertige
Wehrmacht ein paar Wochen zu früh losgeschickt und dadurch die
überlebensnotwendige Weltrevolution erstickt hatte und so nicht nur wie König
Kroisos von Lydien sein eigenes Reich zerstörte, sondern langfristig auch das,
das er 1941 eigentlich im Auge hatte.
Wie man sieht, gehorcht
Suworows Buch dem Gesetz der abnehmenden Qualität von Fortsetzungsfilmen, in
denen Neues nur noch um den Preis des Abstrusen zu haben ist. Wenn ein
Nichthistoriker wie Ernst Topitsch zum Beispiel eine zwar hochspekulative, aber
doch immerhin durch Quellenstudium gestützte und insofern legitime Hypothese
über die sowjetische bzw. Stalinsche Langzeitstrategie publiziert, kann diese
im Kontext der historischen Wissenschaften methodisch und inhaltlich
kritisiert, widerlegt, verifiziert oder auch modifiziert werden. Suworows
Allerweltsargumente über die überlegene Funktionsweise des Kapitalismus und die
daraus resultierende Notwendigkeit der sozialistischen Welteroberung bieten
dafür allerdings keinen Ansatzpunkt mehr. Vielleicht glaubt er, gerade dadurch
den Fachhistorikern unendlich überlegen zu sein, wie seine wiederholten
Invektiven gegen die "Historiker" im "Verhinderten Erstschlag"
zeigen. Historiker ist Suworow wahrhaftig nicht, vielmehr nur ein "Indizien‑Klauber".
Soll heißen: Der ehemalige KGB‑Mann, der sich hinter dem Pseudonym
Suworow verbirgt, versteht es durchaus, Details zusammenzutragen und zu
analysieren, aber aus der Summe der Details die Zusammenhänge zu mehr als einem
grobschlächtigen und spekulativen Gesamtbild zusammenzutragen, überschreitet
seine Kompetenzen (und gehörte wohl auch in seiner vormaligen
"Dienst"‑Stellung nicht zu seinen Aufgaben). Das macht es den
Historikern vom Fach oft allzu leicht, seine Werke als billige
Schundproduktionen abzutun.
Das ist insofern schade, weil
Suworow als Indizien‑Aufspürer durchaus seine Stärken und Meriten hat,
wenn auch diese in der Folge seiner Trilogie immer geringer werden. Der
"Eisbrecher" war vor gut zehn Jahren ein so durchschlagender Erfolg,
weil darin eine Fülle von Details zusammengetragen wurden, die alle darauf
hinwiesen, daß die Rote Armee 1941 weder nichtsahnend war, noch sich ‑ wenn
auch unzulänglich ‑ auf die Verteidigung der Sowjetunion vorbereitete.
Worauf sie sich vorbereitete, waren vielmehr offensive Operationen tief ins
Feindesland hinein ‑ ein Sachverhalt, um dies vorwegzunehmen, der eine
militärisch-operative Option umschreibt, nicht aber zwangsläufig eine
strategisch-politische Entscheidung zum unprovozierten Angriffskrieg. Letzteres
nachzuweisen war Suworow schon damals bei allem Bemühen nicht möglich ‑
nicht nur wegen der Natur seiner Quellen und Indizien, sondern auch aufgrund
seiner begrenzten analytischen Fähigkeiten.
Leider bemüht er sich im
letzten Band seiner Trilogie verstärkt darum, diese Grenzen zu ignorieren, und
produziert einen entsprechend grenzenlosen Schwachsinn. Von jenen Indizien‑Edelsteinen,
die er hingegen durchaus zu finden versteht, liefert er im "Verhinderten
Erstschlag" nur noch wenige, wie jenen 1941 massenhaft gedruckten deutsch‑russischen
militärischen Sprachführer (im Anhang des Buches ausschnittsweise
reproduziert), der offensichtlich zur Orientierung der Soldaten auf
deutschsprachigem Gebiet dienen sollte (vielleicht im Zuge eines strategischen
Rückzuges bis zur wolgadeutschen ASSR?). Solche Indizien wie auch der nicht
ganz neue ‑ Hinweis auf massenhaft in Grenznähe gelagerte Vorräte an
topographischen Karten, die allesamt beim deutschen Angriff verlorengingen,
sind jedoch die eigentlichen Steine des Anstoßes, die manchem Historiker schwer
im Magen liegen könnten, wenn es ihm Suworow mit seinen Ambitionen auf den
Posten eines "Überhistorikers" nicht so leicht machen würde, sie zu
ignorieren. Solche Schwächen der Folge III von "Stalin's Great Coup"
lassen leider kein anderes Urteil zu: Gerade um der Sache willen, die es zu
vertreten meint, wäre dieses Buch besser nie geschrieben worden und hätte auf
deutsch schon gar nicht in einem Verlag, der sich "Pour le Mérite"
nennt, erscheinen dürfen.
Man kann eine Rezension über
einen mit dem Untertitel "Hitler erstickt die Weltrevolution"
ausgestatteten Fortsetzungsroman nicht abschließen, ohne einige Bemerkungen zu
der "Präventivkriegsdebatte" zu machen, in der Suworows Werke
eingebettet sind. Der Rezensent hat bereits zu Beginn dieser Debatte in zwei
Sammelbesprechungen in der Etappe (8/1992 und 9/1993)davor gewarnt, die
Diskussion unter diesem Begriff zu führen. Sein Hauptargument war und ist, daß
jedenfalls auf deutscher Seite weder Hitler noch die Wehrmachtsführung das
Unternehmen Barbarossa als Präventivkrieg im eigentlichen Sinne auffaßten, d.h.
als angriffsweise Verhinderung eines unmittelbar bevorstehenden gegnerischen
Angriffs. Leider war für zu viele die Versuchung zu groß, dem volkspädagogisch
aufgebauschtem Mythos von der im Sommer 1941 unschuldig überfallenen
Sowjetunion damit zu Leibe zu rücken. Sie stellten sich dadurch auf einem
Begriffs‑Feld zur Schlacht auf, auf dem die interessierte Gegenseite nur
gewinnen konnte, und letztere ließ es sich auch nichts nehmen, möglichst alle Zweifler
am friedliebenden Charakter der Sowjetunion oder doch am eindeutigen "Angreifer
Hitler ‑ Angegriffener Stalin"‑Schema als "Präventivkrieger"
zu
charakterisieren.
Die Gegenseite so zu schmähen
hat indes allein den Zweck, die Augen der Öffentlichkeit und wohl auch die
eigenen vor einem Anblick zu verschließen, dessen bloße Möglichkeit zu irritierend
ist, um volkspädagogisch noch verarbeitet werden zu können. Denn wie soll
vermittelt werden, daß Hitler vielleicht tatsächlich die Weltrevolution
erstickte nicht präventiv, sondern durch eben den imperialistischen und
rassistischen Eroberungskrieg, als der "Barbarossa" ‑ ob aus
Motiven der Ideologie oder der Raison d'État, sei hier dahingestellt ‑ geplant
und durchgeführt wurde.
Der Begriff "Präventivkriegsdebatte"
suggeriert, daß es darum ginge, die Position von Angreifer und Verteidiger zu
vertauschen. Aber die eigentliche Provokation enthält schon die weder von
Suworow bewiesene noch von anderen widerlegte These, daß Stalins Sowjetunion
sich im Sommer 1941 ebenfalls auf eine Offensive in größtem Maßstab in Richtung
Westen vorbereitete. Träfe dies allerdings zu, ergäbe sich eine
"unerträgliche" Konsequenz: Der brutalste und blutigste aller
Hitlerischen Kriege ‑ nie als Präventivkrieg gedacht, sondern zur
Unterjochung imperialer Räume, und unermeßliche Zerstörungen sowie das Ende des
Reiches mit sich bringend ‑ wäre dennoch Voraussetzung dafür, daß Den
Haag, Brüssel, Paris, Rom und viele andere keine Hauptstädte autonomer
Sowjetrepubliken im Verbund der großen Welt‑Sowjetunion von Lissabon bis
Wladiwostock, von Kapstadt bis Hammerfest wurden (und immer noch wären) Und das
alles sogar nur, weil der eine Aggressor seinen Angriff etwas früher
terminierte als der andere? Darf eine Weltgeschichte, die sich solche
Treppenwitze erlaubt, noch fortschrittlich geheißen werden? Ist "Glück
gehabt" die eigentliche historische Basis des freien Europas? Und was soll
man aus einer solchen Geschichte überhaupt noch lernen können?
Was nicht sein darf, kann auch
nicht (gewesen) sein. Die Gegner Suworows in der historischen Zunft hatten
schnell die zu erwartenden Defensivpositionen bezogen. Zwar wurden notgedrungen
"Frontverkürzungen" vorgenommen. Insbesondere das so liebgewordene
Bild von der ahnungslos "friedliebenden Sowjetunion", die so ruchlos
überfallen wurde, mußte teilweise revidiert werden, allerdings in einer Form,
die am Modus "Aggressor hier, Defensor dort" prinzipiell nichts
änderte. Die offensive Aufrüstung und Aufstellung der Roten Armee 1941 wurde,
soweit nicht ignorierbar, in den Kontext einer prinzipiell auf (Gegen‑)Offensive
abgestellten Militärdoktrin eingeordnet. Publizierte Materialfunde in
sowjetischen Archiven, besonders der Aufmarsch‑ und Operationsentwurf vom
15. Mai 1941, bereiteten manches Kopfzerbrechen, doch konnten in den jüngsten
einschlägigen Publikationen (Ueberschär, Gerd R. / Bezymenskij, LevA. (Hg.):
Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die
Präventivkriegsthese, Darmstadt 1998; Petrow‑Ennkner, Bianka (Hg.): Präventivkrieg?
Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion Frankfurt a. M. 2000) auch dafür passende
Interpretationen im Sinne eines zunächst defensiven Aufmarsches gefunden
werden, der 1941 zu ‑ dann nicht realisierten ‑ Überlegungen zu
einem sowjetischen Präventivschlag (eben jenen Plan vom 15. Mai) gegen den
deutschen Angriff geführt haben soll.
Es ist hier nicht der Ort,
diesen Komplex in allen Einzelheiten zu diskutieren. Den fachlich versierten
Gegnern Suworows ist in vielen Fällen durchaus zu konzedieren, daß sie eine
"Geschichte" erzählen, die insgesamt auf professionelle Weise
rekonstruiert wurde. Nur ist es nur eine, und nicht, wie oft angemaßt, die
"einzige" mögliche (tatsächlich gemeint: "erlaubte")
Geschichte, die auf der Basis der publizierten Quellen und des zugänglichen
Archivmaterials erzählt werden kaum. Leider dominieren in der Debatte jene
Forscher, die dazu neigen, den "seriösen" Stand der Forschung dadurch
zu definieren, daß sie das, was einer seriösen Diskussion für würdig befunden
wird, am Leisten des volkspädagogisch Erwünschten und politisch Korrektem
bemessen.
Ein weniger rigider Gegner der
Präventivkriegthese und ausgewiesener Kenner der sowjetischen Geschichte wie
Bernd Bonwetsch schließt sich im Sammelband von Pietrow‑Ennkner hingegen
der oben skizzierten Interpretation der sowjetischen Politik im Sommer 1941 an,
räumt jedoch ohne weiteres ein, daß über die wirklichen Ansichten und Absichten
Stalins und der sowjetischen Führung zwar plausible Vermutungen möglich sind,
eine "wirkliche Klärung" allerdings noch aussteht. (Er gesteht auch
Suworow zu, daß "manche seiner Vermutungen durchaus originell, legitim und
manchmal vielleicht sogar auch richtig" sind, wenn auch seine
Schlußfolgerungen "unprofessionell und häufig sogar skandalös" seien).
Historiker müssen die Art und
Qualität der Quellen, auf der sie ihre Thesen und Urteile stützen, einschätzen
können. Tatsächlich handelt es bei den bislang zugänglich gemachten Materialien
zu den sowjetischen Absichten und Plänen im Sommer 1941 nur um Formulierungen
politischer und militärischer Optionen, nicht aber endgültiger Entscheidungen.
Bonwetschs entsprechende Kritik an einer kurzschlüssigen Identifikation des
Operationsplans vom 15. Mai mit dem großen sowjetischen Angriffsplan trifft
durchaus den Punkt, allerdings muß diese Zurückhaltung umgekehrt auch gegenüber
solchen Dokumenten angewandt werden, wie sie Bezymenskij und andere zum
angeblich definitiven Beweis einer defensiven sowjetischen Grundhaltung
publizieren.
Ob Stalin im Sommer 1941 einen
Erstschlag vorbereitete, ist tatsächlich weder bewiesen noch widerlegt, und, so
wie es derzeit aussieht, auch so schnell nicht zu beweisen oder zu widerlegen.
Wer dennoch behauptet, es definitiv zu wissen, ob nun bejahend zur
nachträglichen Rehabilitierung der Größe des russischen Militärs oder
verneinend zur Rettung des fortschrittlichen Sinns der Weltgeschichte, beweist
nur volkspädogogischen Eifer im nationalistischen oder antinationalistischen Sinne,
aber keine wissenschaftliche Kompetenz. Dem Nicht-Wissenschaftler Vladimir B.
Rezun alias Viktor Suworow kann man das vielleicht noch nachsehen,
professionellen Historikern hingegen nicht.
Aus deutscher Perspektive
zeigte Clio auf jeden Fall gnadenlos: Ob Hitler tatsächlich 1941 die
Weltrevolution erstickte und das Rote Weltimperium verhinderte, wissen wir
nicht, wir wissen nur, daß er mit "Barbarossa" sein eigenes Reich
zerstörte ‑ und das war dummerweise das Deutsche Reich. Ein Verlust, der
sich jeder Wiedergutmachung entzieht. Wer weiß noch, wo Lydien lag?
Quelle: JUNGE FREIHEIT vom 15.12.2000 ("Erbitterter Deutungskampf um
'Barbarossa' - Überfall, Angiff, Präventivschlag: Ein neuer Beitrag zur
Kontoverse über die Ursprünge des deutsch-sowjetischen Krieges")
Anmerkung: Zur gleichen Thematik wird hingewiesen auf die Beiträge
"Kriegsschuldfragen" und "Stalins Vernichtungskrieg" auf
dieser Homepage. Interessant sind auch S. 138 - 141 in "Das Schwarzbuch
des KGB - Moskaus Kampf gegen den Westen" von Christopher Andrew und
Wassili Mitrochin, Ullstein-Taschenbuch, München, 3. Auflage, 2002. Ein älteres
populärwissenschaftliches Standardwerk mit drei Seiten Literaturverzeichnis ist
"Unternehmen Barbarossa - Der Marsch nach Russland" von Paul Carell,
Frankfurt am Main + Berlin 1963