Der Aufmarsch der Reaktion
Während die Linksparteien mit
deutscher Gründlichkeit ihre Zwiste austragen, macht die Rechte klar zum
Gefecht. Während in den großen Städten die republikanischen Parteien einen mehr
oder weniger geistigen Kampf gegeneinander führen, sichern die Monarchisten
sich das flache Land und die Provinz, und bald dürfte es ihnen
gelungen sein, Städte und Industriereviere gründlich einzukesseln. Wenn in Berlin geschossen wird, dann tanzt
die pommersche Vendée vor Freude. Die Republik ist schlecht, das ist heute
das politische Credo unzähliger Deutscher. Die Maßlosigkeit der linksradikalen
Opposition ist die beste Helferin der von rechts anrückenden Reaktion.
Das haben wir uns im November
1918 nicht träumen lassen, als wir, fern der Heimat, unsere verwitterten
Feldmützen in die Luft warfen und die Republik leben ließen, daß so bald an ihr
gerüttelt würde, daß so mancher, der sich damals vor Begeisterung die Kehle
wund schrie, so bald zum unfreiwilligen Helfer derjenigen werden würde, die sie
heute meucheln wollen. Was uns damals das Blut schneller durch die Adern jagte,
das waren nicht Parteiprogramme und nicht spitzfindig ausgeklügelte soziale
Glaubenssätze ‑ kein Mensch fragte danach, was Radek von Kautsky trennte.
Millionen aber einte das Gefühl: das Morden ist zu Ende, der Militarismus ist an
sich selbst verreckt, wir sind von Stunde an freie Menschen im freien
Vaterland! Die deutsche Revolution war nicht parteidogmatisch beschwert,
sie war der elementare Notwehrakt eines
entsetzlich leidenden Volkes.
Wir wissen, wie schnell dieses
Gefühl der inneren Zusammengehörigkeit dahinschwand. Gewiß, Begeisterung kann
nicht auf Eis gelegt werden. Aber wo sie stark und echt ist, bringt sie auch
eine Parole hervor, die noch lange
nachher zündende Kraft beweist und Auseinanderstrebende von neuem bindet. Daß
die neue Ordnung eine solche Parole nicht gefunden hat, empfinden ihre Feinde
leider stärker als ihre Freunde. Man kann den Gegnern der Republik die
Anerkennung nicht versagen, daß sie gründlich und vielseitig sind. Die
ehemaligen Stützen von Thron und Altar verstehen sich trefflich auf
Maulwurfsarbeit. Die Tippelskirche verstehen es, wirksam gegen Korruption zu deklamieren. Es gibt nichts, was die
deutschnationale Opposition nicht auszunützen verstände. Es ist da keine Frage
zwischen Himmel und Erde, die nicht mit einem innerlich durchdrungenen «die
Republik ist schuld» beantwortet wird. Die militärische Niederlage, der
schlimme Frieden, Teuerung, Sittenlosigkeit, Schiebertum ... die Republik ist schuld! Es ist kein
bedenklicher Instinkt in der Volksseele, der nicht ins Maßlose gesteigert wird.
Der dumme Dünkel ehemals bevorrechteter Kasten wird ebenso in Rechnung gestellt
wie die primitive Sehnsucht bornierter Spießer nach militärischem und dynastischem
Schaugepränge. Und diese Kleinarbeit ist konsequent. Die Sozialisten von einst,
die sich auf die Massenpsychose verstanden, sind harmlose Stümper daneben. Es gibt keine öffentliche Institution, in
die nicht die wüste monarchistisch-nationalistische Hetze hineingetragen wird.
Schule, Kirche, sogar Theater, sind die Tummelplätze der deutschen Mafia.
Es ist ziemlich hoffnungslos,
solch randalierender Agitation entgegenzuhalten, daß ein Jahr neues System
nicht alle Blütenträume zur Reife bringen konnte. Wir kennen die
Schwierigkeiten von Übergangszeiten. Auch in Frankreich hat die dritte Republik drei Jahrzehnte gebraucht, um
sich endgültig durchzusetzen. Auch das französische Offizierkorps beherrschten
royalistische Cliquen; die ehrlichen Republikaner waren in oft verzweifelter
Minderzahl. Aber Klugheit und Festigkeit können den Übergang abkürzen und der
neuen Staatsform ein sicheres Fundament schaffen. Keine törichte Gewalt, kein
plumper Versuch, Argumente durch Zwang zu ersetzen. Aber erst recht keine faulen
Kompromisse in der Hoffnung, sich das Wohlwollen der Abgesägten zu
erschleichen.
Die Republik muß sauber sein. Ihre Unantastbarkeit muß
ihre Gegner entwaffnen. Von den Führern eines arm gewordenen Volkes muß die härteste Selbstzucht verlangt werden. Sonst
ist jeder politischen Unmoral Tür und Tor geöffnet.
Die Republik muß weise sein. Von dem scharfen Instrument
des Ausnahmezustandes mache sie niemals ohne letzte Not Gebrauch. Jede
Maßnahme, die irgendwie an die Methoden des alten Systems erinnert, läßt weite
Kreise des Volkes an der Demokratie zweifeln, schafft Erbitterung und
Gleichgültigkeit. Nichts schlimmeres könnte der Republik widerfahren, als eine Verdrossenheit gerade der Volksschichten,
die sie zu ihrer Verteidigung braucht und die nach ihrer ganzen Denkungsart zu
ihr gehören.
Kein größerer Gefallen kann
der Reaktion erwiesen werden als die gegenwärtig betriebene Innenpolitik. Diese
Politik der «starken Hand» entspricht ganz den Intentionen des Edlen von
Oldenburg. Kein Mensch von gesunden Sinnen wird sich dagegen sträuben, daß
Parlament und Verfassung gegen Eingriffe von außen geschützt werden müssen;
aber die Verhaftung angeblicher «intellektueller Urheber» solcher traurigen
Geschehnisse erinnert an die übelsten Gepflogenheiten von Anno Puttkamer. Wir
stehen als Demokraten den Däumig und Goldschmidt scharf gegenüber, aber wir
achten sie als ehrliche Gegner und wissen sie von dunklen Putschbrüdern ebenso
weit entfernt, wie den Herrn Reichswehrminister von staatsmännischer Einsicht.
Was hier ausgesprochen wird,
sind Binsenwahrheiten. Nichtsdestoweniger scheint die stärkste Partei der
Koalition, die sozialdemokratische, den Sinn dafür verloren zu haben. Jene
Partei, die einst so stolz darauf war, auch von jedem Ansatz einer Kamarilla
frei zu sein, läßt sich heute in seltsamen «Funktionärversammlungen» von
Krügern und Heilmännern gängeln.
Schlecht beraten sind die
Führer der Republik. «Caveant consules
... !» So rief man einst in gefährlichen Stunden. Heute muß es heißen: «Möge die Republik zusehen, daß die Konsuln keinen Schaden nehmen!»
Quelle: Carl von Ossietzky in "Berliner Volks‑Zeitung",
31. Januar 1920