Armenier-Massaker
Vor wenigen Tagen beschloß das
französische Parlament, die Armenier-Massaker in der Türkei vom Anfang des 20.
Jahrhunderts als Völkermord anzuerkennen. Die türkische Regierung, daraufhin
erbost, drohte, Sanktionen gegen Frankreich zu verhängen. Was ist der
historische Hintergrund des Streites zwischen Paris und Ankara? Beging der
türkische Staat tatsächlich Völkermord?
Seinerzeit spürte man bis nach
Mitteleuropa die Nachbeben des Geschehens in der Türkei. Vor achtzig Jahren, am
15. März 1921, erschoß der armenische Student Salomon Teilirian in der Berliner
Hardenbergstraße einen Mann namens Talaat Pascha, vormals Großwesir und
Innenminister der Türkei. Passanten schlugen Teilirian beinahe tot, bevor sie
ihn der Polizei übergaben. Auf den Armenier schien nun der Henker zu warten.
Doch das Berliner Schwurgericht sprach ihn frei! Die Schuld treffe das Opfer,
sagte der Richter. In der deutschen Justizgeschichte, zumal der der Weimarer
Republik, bedeutet dieses Urteil geradezu eine Sensation.
Das Gericht hielt Teilirian
zugute, daß der türkische Staat 1915 seine Familie ermordet hatte. Nur dank
eines extremen Zufalls war der spätere Attentäter selbst einem Massaker
entgangen. Die Türken hatten ihn, der schwerverletzt unter Leichen lag, für tot
gehalten.
Unter der Mitverantwortung
Talaat Paschas fanden im Ersten Weltkrieg, wie eine Berliner Zeitung nach dem
Attentat schrieb, "jene blutigen Armeniermetzeleien und zwangsweise
Vertreibung der Bevölkerung ganzer Landstriche statt, vor deren Übertreibung
die deutsche Regierung wiederholt gewarnt" habe. Die Türkei stand zwischen
1914 und 1918 an der Seite des Deutschen Reiches.
Lange hatten die christlichen
Armenier ‑ unterdrückt, aber nicht existentiell bedroht ‑ im
türkisch‑osmanischen Reich gelebt. Das änderte sich seit der Mitte des
19. Jahrhundert, als das Türken-Imperium immer stärker dahinschmolz. Die
osmanischen Herrscher setzten alles daran, den Abfall weiterer Territorien zu
verhindern. Besonders mißtrauisch beäugte die Pforte drei Millionen Armenier,
die nicht nur wegen ihrer Religion störten, sondern auch deshalb, weil sie
partiell mit Rußland sympathisierten. Teile Armeniens gehörten zu Rußland und
Persien.
Um der Gefahr ausländischer
Interventionen vorzubeugen, gewährten die Sultane zunächst allen Volksgruppen
des Reiches formelle Gleichberechtigung. De facto besserte dies die Lage der Armenier
nicht. Schon 1867 erklärte der damalige türkische Großwesir: "Wenn es den
Armeniern in unseren Provinzen nicht gefällt, dann sollen sie eben das Land
verlassen. Wir werden es mit Zirkassiern bevölkern."
Sultan Abdul Hamid II., der von 1876 bis 1909 regierte, war
entschlossen, die Armenierfrage gewaltsam zu lösen. Rußland führte 1877/78
gegen die Türkei Krieg mit der Begründung, die Christen, welche unter dem
Halbmond lebten, schützen zu wollen. Zwar siegte Rußland, doch mußte es
aufgrund der Beschlüsse des Berliner Kongresses seine Eroberungen, vor allem
armenisches Gebiet, größtenteils wieder abgeben. Bereits in diesem Krieg hatten
Türken und Kurden Greueltaten an Armeniern verübt.
Nach außen tat Abdul Hamid,
als sei er bereit, in der armenischen Frage Milde walten zu lassen, doch sah
die Realität völlig anders aus. Durch überhöhte Steuern ruinierte er die
wirtschaftliche Basis der Armenier. Seit den frühen neunziger Jahren verließen
ständig mehr Armenier das Land.
Etliche europäische Großmächte
wollten derweil den "kranken Mann am Bosporus" unter sich aufteilen.
Berlin hingegen bemühte sich darum, die Türkei zu stabilisieren. Deutsche
Offiziere modernisierten das türkische Heer, und nach Bagdad wurde eine
Eisenbahn gebaut. Dabei spielten aber nur außenpolitische Gesichtspunkte eine
Rolle. Keinesfalls dachte die Reichsleitung daran, den Türken einen Freibrief
hinsichtlich der Armenier zu verleihen.
1895/96 organisierte die
türkische Regierung erste systematische Armenier‑Massaker. Etwa 100.000
Personen verloren dabei ihr Leben. In einer offiziellen Anweisung hieß es: "Alle
Kinder Mohammeds müssen jetzt ihre Pflicht tun, alle Armenier töten, ihre Häuser
plündern und niederbrennen."
Der Genozid an Armeniern setzte sich bis 1923 fort
Am Beginn des 20. Jahrhunderts
versuchte die Bewegung der "Jungtürken", das osmanische Reich zu
erneuern. Abdul Hamid wurde 1908 gezwungen, eine Verfassung zu gewähren, die
den Nationalitäten und Religionen Gleichberechtigung versprach. Im April 1909
versuchte jedoch Abdul Hamid, die Jungtürken gewaltsam zu entfernen. Mehrere
von ihnen fanden Zuflucht bei Armeniern. Daraufhin entfesselte der Sultan
Pogrome, denen zehntausende Armenier zum Opfer fielen, bis es den Jungtürken
gelang, Abdul Hamid zu stürzen. Mit Blick auf jene Massaker entstand der
Begriff "Holocaust", den der Brite Duckett Z. Ferriman 1913 erstmals
verwendete.
Ende 1914 schloß die Türkei,
vermittelt durch Talaat Pascha, ein Kriegsbündnis mit Deutschland. Wenige
Monate später mißlang eine türkische Offensive unter der Führung Enver Paschas
gegen das Zarenreich. Nun argwöhnt die türkische Führung, daß sich die 1,5
Millionen Armenier, die noch in der Türkei leben, Rußland anschließen könnten
und befahl deren Ausrottung. Eine Spezialtruppe, die "Cete", wurde
formiert, die das Mordprogramm realisierte. Bronsart von Schellendorf, der deutsche
Chef des türkischen Generalstabs, welcher verlangte, die Armenier nicht zu
töten, sondern nach Rußland zu deportieren, fand kein Gehör.
Alle Armenier, die im
türkischen Heer dienten, wurden handstreichartig entwaffnet und umgebracht. In
Konstantinopel metzelten Mordkommandos die Führungsschicht der Armenier nieder,
etwa 2.000 Personen. Nach diesen "Enthauptungsschlägen" vernichteten
Türken und Kurden in sieben anatolischen Provinzen nahezu die gesamte
armenische Bevölkerung. Entweder tötete man die Armenier an Ort und Stelle oder
man schickte sie auf Todesmärsche, die fast niemand überlebte.
Die türkische Regierung
koordinierte das Geschehen. Innenminister Talaat Pascha befahl Ende 1915 der
Präfektur in Aleppo: "Rotten Sie mit geheimen Mitteln jeden Armenier der
östlichen Provinzen aus, den Sie in ihrem Gebiet finden sollten." Kein
Armenier dürfe ins Ausland entkommen. "Der Ort der Verbannung derartiger
Unruhestifter ist das Nichts." Insgesamt fanden 1,5 Millionen Armenier den
Tod. Türkisch‑Armenien existierte nicht mehr.
Deutschland hat die Armenier‑Massaker
ausdrücklich nicht gewollt. Die Alleinverantwortung hierfür trägt der türkische
Staat. Notgedrungen verschwieg die Reichsregierung den Untergang der Armenier,
weil der Verbündete nicht entlarvt werden sollte. In einer amtlichen
Presseanweisung vom Oktober 1915 hieß es: "Über die Armeniergreuel ist
folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürften
durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet,
sondern nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu
schweigen."
Nach Kriegsende setzte die
Türkei, unter republikanischen Vorzeichen, den Genozid fort. Türkisches Militär
verhinderte die Bildung eines unabhängigen armenischen Staates, der aufgrund
internationaler Abkommen hatte entstehen sollen. Die letzten Untaten datieren
aus dem Jahr 1923.
Talaat Pascha stand auf der
Kriegsverbrecherliste der Alliierten. Deutschland gewährte ihm Asyl.
Bis heute behauptet jede
türkische Regierung, daß es keine Armeniermorde gegeben habe. Wer in der Türkei
etwas anderes sagt, kann immer noch zu einer Haftstrafe verurteilt werden.
Quelle: JUNGE FREIHEIT vom 16. Februar 2001, Seite 13