Der Antisemitismuskomplex
Wie hochgradig
überempfindlich, mithin irrational Habermas auf ihm unbequeme historische
Tatsachen reagiert, zeigt seine Empörung über Noltes Hinweis, daß es auch
»unter den polnischen Opfern des Nationalsozialismus virulenten Antisemitismus
gab«. Habermas fertigte Nolte u.a. dafür mit der schneidenden Bemerkung ab:
"Diese unappetitlichen Kostproben zeigen, daß Nolte einen Fassbinder
bei weitem in den Schatten stellt."
Dieser Satz gewährt jäh, wie
eine Blitzlichtaufnahme, Einblick in Habermas' Denkstrukturen: Für Habermas war
Fassbinder Antisemit. Also wäre Nolte ein noch schlimmerer Antisemit? Oder will
Habermas suggerieren, daß es für einen Deutschen unstatthaft sei, auf
außerdeutschen Antisemitismus zu verweisen? Es gab jedoch Antisemitismus auch
außerhalb Deutschlands, vor, während und nach Hitler, auch in Polen (Leon
Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. 7 Bde. Worms 1977ff; M. Hillel: Le
Massacre des Survivants; Michael Checinskis: Poland. Communism, Natinalism,
Antisemitism. New York 1982, S 9f). Antisemitismus
in Deutschland und deutschsprachigen Gebieten war bis 1914, sogar bis 1933 erheblich
geringer ausgeprägt als jeweils zur gleichen Zeit in Rußland, Frankreich, Rumänien, Polen oder Ungarn. Das
besonders zu Erklärende ist daher, warum sich danach der deutsche
Antisemitismus so steigerte, daß er alles bisher Gewesene weit in den Schatten
stellte, daß Auschwitz eben einzigartig in der Weltgeschichte ist.
Selbstverständlich hat kein Deutscher auch nur den Anschein eines Rechts, Polen
Antisemitismus vorzuhalten, gar noch anklagend oder zur apologetischen
Entlastung des deutschen Antisemitismus (»die anderen auch«). Abgesehen davon,
daß ein solches mit den Fingern auf den anderen Zeigen überhaupt nicht
weiterhilft, müßte Auschwitz für einen Deutschen jegliches entlastende
Aufrechnen anderer Antisemitismen verbieten. Wo immer solches geschieht, ist
energischer Einspruch berechtigt und vonnöten, am deutlichsten von deutscher
Seite selbst.
Somit bliebe nur noch zu
klären, ob sich Nolte dieses ablenkenden, NS‑apologetischen Mißbrauchs
anderer Antisemitismen schuldig gemacht hat. Damit wäre die Streitfrage wieder
verengt und versachlicht, wenn auch auf Nolte zugespitzt. So mißverständlich
sich Nolte in seinem FAZ‑Aufsatz vom 6.6.1986 auch ausgedrückt hat, in
seinem neuen Buch, das fortan als Grundlage für die Sachdebatte dienen müßte,
läßt sich, bei unbefangenem Lesen, dieser Vorwurf nicht nachweisen bei aller
Lust Noltes zum Schlittern an intellektuellen Abgründen mit Hilfe zweideutiger
oder zweideutig zu deutender Formulierungen.
Die moralisierende Empörung
Habermas' gegen Nolte erklärt sich vielleicht auch aus der gleichzeitigen
Verquickung mit dem Fassbinder‑Komplex als linker Verdrängung
unbegriffener Geschichte: Das Dilemma beginnt, wo das für Habermas
antisemitische Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« nicht von der
ideologisch‑politischen Position Fassbinders und seiner Freunde zu trennen
ist. Sie verstehen sich als Linke und stehen in der Traditionslinie eines von
Voltaire, Proudhon und Marx herkommenden, aber von ihnen ihrerseits verdrängten
linken Antijudaismus, der später zum modernen Antisemitismus beitrug. Also wäre
eigentlich eine inner‑linke Debatte über diese linke Traditionslinie
fällig. Eine solche Debatte müßte das schlichte dualistische Weltbild von Gut
(links) und Böse (rechts) erschüttern, könnte nachdenklich machen, wenn sich
erweist, daß ein Übel unserer modernen Welt (Antisemitismus) nicht nur auf der
Rechten zu finden ist, mit der Antisemitismus im allgemeinen (weitgehend zu
Recht) assoziiert wird, sondern, bei näherem Zusehen, auch bei Teilen der
Linken, zumindest in weitgehenden Ansätzen.
Quelle: "Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit" von
Prof. Dr. Imanuel Geiss, Berlin 1988, S. 134 - 136