Anarchismus

 

Freiheit geht nur aus Anarchie hervor

Ludwig Börne

 

Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt

Immanuel Kant

 

 

 

Mit Anarchismus bezeichnet man Utopien und Theorien freiheitlicher Gesellschaften ohne Macht und Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Freiheit des Menschen als höchster Wert erträgt keine Regierung, gleich welcher Legitimation, auch nicht die Demokratie, da deren Realisierung die Herrschaft der Mehrheit auf repräsentativem Wege bedeutet. Neben dem Staat bekämpfen die Anarchisten das von diesem geschützte Eigentum, meist in der Form des Privateigentums an Produktionsmitteln, das Herrschaft von Menschen über Menschen ermöglicht. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit sind die theoretischen Ziele des Anarchisten; Gewalt, Attentat, Mord waren allzu oft ihre Praxis; <Anarchie ist (eine) Ordnung> ging vergessen und wurde nicht nur im allgemeinen Verständnis ersetzt durch <Anarchie ist Chaos>. Die vielen Mischformen und Spielarten anarchistischen Denkens können in dem vorliegenden Beitrag nur in wenigen Hauptströmungen vorgestellt werden, die die eben erwähnten Hauptziele verschieden begründeten und mit verschiedenen Methoden erreichen wollten: individualistischer, sozialer, kollektiver und kommunistischer Anarchismus, wobei diese Etikettierung wie alle Typologien ein problematisches Ordnungsschema bleibt.

 

Auf anarchistische Bewegungen und anarchistische Praxis kann in diesem Beitrag nicht eingegangen werden; ihre den theoretischen Grundlagen entsprechende Vielfalt würde die Darstellung sprengen. Anarchistische Praxis verdient jedoch besondere Beachtung in der Verbindung des revolutionären Anarchismus mit dem Syndikalismus zum Anarcho‑Syndikalismus; seine Grundsätze und seine Strategie zur Schaffung einer freiheitlichen Gesellschaft werden in Grundzügen vorgestellt. Mit der Niederlage


der Spanischen Revolution durch den Sieg der Faschisten wurde der <libertäre sozialismus> ‑ wie der Anarchismus auch bezeichnet wurde ‑ um eine große Chance gebracht, mehr als eine Utopie zu sein; der <autoritäre Sozialismus>, eroberte dagegen in vielen Ländern die Staatsmacht.

 

Quelle: "Handbuch politischer Theorien und Ideologien" von Franz Neumann (Hg.), Reinbek 1977, S. 223 f (Vorbemerkung zum Kapitel "Anarchismus", S. 222 - 294)

 

 

 

 

 

Regiert zu werden heißt überwacht zu werden, inspiziert, ausspioniert und dirigiert zu werden, dem Gesetz unterworfen zu sein, reguliert, in Listen eingetragen und indoktriniert zu werden, Predigten hören zu müssen, kontrolliert, eingeschätzt, gewogen, zensiert und herumbefohlen zu werden ... Regiert zu werden heißt, bei jeder Transaktion, bei jeder Bewegung bemerkt, registriert, besteuert, gemessen, ausgewertet, patentiert und lizensiert, autorisiert, gebilligt, verwarnt, behindert, reformiert, zurechtgewiesen und festgenommen zu werden ... gegen Lösegeld festgehalten zu werden, ausgebeutet, monopolisiert, genötigt, ausgequetscht, verarscht, beraubt zu werden und dann, beim allergeringsten Widerstand ... unterdrückt, bestraft, mißbraucht, belästigt, verfolgt, angepöbelt, geschlagen, entwaffnet, erdrosselt, eingesperrt, unter Maschinengewehrbeschuß genommen, beurteilt, verurteilt, deportiert, geschunden, verkauft, beschissen zu werden und schließlich verspottet, lächerlich gemacht, beleidigt und entehrt zu werden.

 

Quelle: Pierre Joseph Proudhon (1809 - 1865)


 

 

 

Die Eigenarten des Anarchismus

 

Unseres Erachtens unterscheidet sich der Anarchismus von den anderen sozialen Bewegungen ‑ Kommunismus, Sozialismus und Sozialdemokratie ‑ vor allem durch vier Eigenarten, die verschiedene Aspekte seines Wesens sind.

 

Erstens erstrebt er die Abschaffung des Staates als Haupt‑ und Primärziel. Er will sich also nicht mit einem Wechsel der Staatsform begnügen. Soweit er auch für die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln eintritt, was nur bei einem Teil der Anarchisten der Fall ist, gilt dieses Ziel als zweitrangig. Seiner Überzeugung nach stellt der Staat die wichtigste Schutzmacht des Eigentums dar, das sich auf seiner Grundlage immer wieder erneuert, selbst wenn es vorübergehend durch einen revolutionären Akt abgeschafft wird.

 

Zweitens ist der Anarchismus zwar eine soziale, aber keine politische Bewegung. Die prinzipielle Staatsfeindlichkeit verleiht ihm einen apolitischen Charakter. Er kämpft nicht um die Macht, weil er sie für verderblich hält. Macht ist das entscheidende Mittel jener Herrschaft von Menschen über Menschen, die er unmöglich machen will. Da sie stets im Ergebnis politischer Kämpfe errungen wird, kann sie nach Überzeugung der Anarchisten durch Politik nicht abgebaut, sondern höchstens in ihrer Form verändert werden. So kam es zur Antipolitik, die eine Schöpfung des Anarchismus ist. Zwar haben einige seiner Anhänger während des spanischen Bürgerkrieges vorübergehend Ministerposten angenommen, doch gilt dies als Ausnahme von der Regel in einer außerordentlichen Situation. Im allgemeinen beteiligen sich die Anarchisten nicht einmal an Wahlen.

 

Drittens lehnen sie solche Organisationsformen wie die Partei fast grundsätzlich ab. Man bevorzugt die Föderation, einen lockeren Dachverband, dem in der Vergangenheit meist nur eine Agitations‑ oder Geschäftskommission vorstand. Die einzelnen Gruppen der Föderation sind autonom. Sie können vom Dachverband zu nichts gezwungen werden. Anstelle von Vorständen haben die Gruppen Obleute, deren Vollmacht über die Aufrechterhaltung von Kontakten kaum hinausgeht. Daher gab es bei Kongressen und Beschlüssen fast immer Schwierigkeiten. Meist lehnte ein Teil der Gruppen die Beschickung des Kongresses oder diesen selbst als unnütz ab. Beschlüsse, die von allen Anarchisten respektiert wurden, waren selten. Viele Gruppen behielten sich unter Hinweis auf das Prinzip der Autonomie die Ausführung vor. Schon die Erhebung von Beiträgen stieß auf Widerstände, von der Beitragsabführung an die Dachorganisation ganz zu schweigen. Die Föderation ist ja als organisatorisches Gegenstück zur Partei wie auch zum Zentralstaat gedacht. Prinzipiell kennt sie keine beamtenähnlichen Funktionäre. Alles soll ehrenamtlich gemacht werden. Die Notwendigkeit kontinuierlicher Tätigkeit in den Redaktionen anarchistischer Zeitungen und in den Büros syndikalistischer Gewerkschaften hat dieses Prinzip freilich manchmal durchlöchert. Jedoch soll die Föderation zunächst als organisatorisches und später auch als gesellschaftliches Ordnungsprinzip dienen, wobei man in der Gesellschaft an eine Vielzahl lose verbundener Föderationen der verschiedensten Art denkt.

 

Viertens ist der Anarchismus nicht nur international, sondern auch anational. Außer dem Nationalstaat verneint er auch die Nation und jeglichen Patriotismus.

 

Versuchen wir eine zusammenfassende Definition. Der Anarchismus ist eine soziale, aber antipolitische, antiparteiliche und anationale Bewegung, die sich primär die Aufhebung des Staates und seine Ersetzung durch eine vielförmige Föderation zum Ziel gesetzt hat, deren Modell die anarchistische Organisationsform sein soll.

 

Man könnte den Anarchismus auch ganz kurz als antiautoritäre Bewegung bezeichnen. Das würde jedoch gerade heute zu oberflächlichen Gleichsetzungen führen. Erst die Verbindung der vier genannten Merkmale grenzt ihn hinreichend von den anderen sozialen Bewegungen, von Modeströmungen und von Tendenzen ab, die nur teilweise anarchistisch sind. Der geistige Kern des Anarchismus ist die Idee einer herrschaftslosen Ordnung, die mit dem Begriff »antiautoritär« nur negativ umschrieben wird.

 

Quelle: "Anarchismus in Deutschland" Band 1 / 1945-1965 von Günter Bartsch, Hannover 1972, S. 12 f


 

 

 

 

Anarchismus: kleinbürgerliche pseudorevolutionäre politische und ideologische Strömung, die jede staatliche Organisation und Gewalt prinzipiell ablehnt. Infolge seiner Mißachtung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse um die Staatsmacht, seiner feindlichen Haltung gegenüber der marxistisch‑leninistischen Partei der Arbeiterklasse und seiner Ablehnung der Diktatur des Proletariats als Instrument zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft spielte der Anarchismus eine negative, hemmende Rolle in der Arbeiterbewegung. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. hatte er auf die Arbeiterbewegung in den romanischen Ländern (Italien, Spanien, Frankreich, Schweiz) und in Lateinamerika stärkeren Einfluß. Die soziale Grundlage des Anarchismus war der durch die kapitalistische Entwicklung verursachte Ruin des kleinbürgerlichen Privateigentümers. Der ökonomische Ruin brachte den Kleineigentümer gegen den kapitalistischen Staat auf; zugleich fürchtete er auch den sozialistischen Staat, weil er in ihm keine Perspektive für sein Privateigentum sah. "Der Anarchismus ist ein Produkt der Verzweiflung. Die Mentalität des aus dem Geleise geworfenen Intellektuellen oder des Lumpenproletariers, aber nicht des Proletariers." (W. I. Lenin) Die theoretisch‑philosophische Grundlage des Anarchismus ist ein extremer subjektiv-­idealistischer Individualismus und Voluntarismus. Die Begründer des Anarchismus waren W. Godwin, M. Stirner und P.‑J. Proudhon. K. Marx und F. Engels setzten sich mit M. Stirner in der "Deutschen Ideologie" auseinander und wiesen die Unhaltbarkeit seiner Ideen nach. In "Das Elend der Philosophie"­ unterzog K. Marx auch die Anschauungen P.‑J. Proudhons einer vernichtenden Kritik und entlarvte ihren unwissenschaftlichen und kleinbürgerlichen Charakter. Einer der bekanntesten Vertreter des Anarchismus war M. A. Bakunin, der in den 60er Jahren des 19. Jh. mit seinen Anhängern in die Internationale Arbeiterassoziation eintrat und die Arbeiterbewegung unter seinen Einfluß zu bekommen suchte. K. Marx und F. Engels sowie viele hervorragende Führer der internationalen Arbeiterbewegung führten einen energischen Kampf gegen die Wühlarbeit der Bakunisten und wiesen nach, daß diese mit den Zielen der Arbeiterklasse nichts gemein haben. Auf dem Haager Kongreß (1872) wurden die Bakunisten aus der Internationale ausgeschlossen. Gegen Ende des 19. Jh. wirkte der Anarchismus vor allem in Form des Anarchosyndikalismus. Er war eine kleinbürgerliche, halbanarchistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, die von Frankreich ausging und in den Gewerkschaften hauptsächlich der romanischen Länder und Südamerikas Einfluß gewann. Wie der Anarchismus so verneinte auch der Anarchosyndikalismus die Notwendigkeit des politischen Kampfes der Arbeiterklasse, die führende Rolle ihrer Partei und die Diktatur des Proletariats. Er vertrat die Auffassung, daß die Gewerkschaften (Syndikate) durch einen Generalstreik der Arbeiter, ohne Revolution den Kapitalismus stürzen, die Produktionsmittel vergesellschaften und die Verwaltung und Organisation der Produktion in ihre Hände nehmen könnten. Die Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus in der UdSSR und in den anderen sozialistischen Ländern sowie im Kampf gegen den Imperialismus haben die völlige Unhaltbarkeit des Anarchismus praktisch bewiesen. Heute existiert er daher nur noch in Gestalt unbedeutender Splittergruppen; seine Anschauungen wirken in verschiedenen Formen des Dogmatismus und Revisionismus nach.

 

Quelle: "Kleines Politisches Wörterbuch" von G. König, G. Schütz, Dr. K. Zeisler (Zusammenstellung und Redaktion), Berlin 1967, S. 29 f