Kritischer Geist stellt die richtigen Fragen
aber verweigert Patentrezepte!
Die 68er-Revolte
(...)
In den knapp vier Jahrzehnten zwischen damals und heute war der Umgang
mit den 68ern freundlicher; Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte
ihnen attestiert, die Republik demokratisiert zu haben, auch viele
Medien hatten im Rhythmus der Gedenktage das Lob verbreitet über
das bunte, schöne, zivilisatorische Erbe ihres Aufstands. In den vergangenen
Jahren jedoch ist die Klage über die böse, kaputte und verfluchte Erblast schriller geworden - eine deutsche Besonderheit.
Die Jugendrevolution von 1968 war ein
globaler Aufstand, aber es gibt neben Deutschland kein zweites Land, in
dem die Folgen der 68er-Revolte bis heute so verbissen debattiert werden.
„Die 68er“ gab es schon 1968 nicht, und in den
Jahrzehnten danach gab es sie - als geschlossene Bewegung - immer
weniger; sie waren eine heterogene Masse mit unterschiedlichen
Auffassungen: gleichzeitig gewaltfrei, gewaltbereit; pazifistisch, bellizistisch;
marktgläubig, plangläubig; autoritär, antiautoritär;
chauvinistisch, feministisch; maoistisch, trotzkistisch, stalinistisch, spontaneistisch,
sozialdemokratisch, liberal; gläubig, ungläubig; antikommunistisch, prokommunistisch;
karrieregeil, hedonistisch; kinderfeindlich, kinderfreundlich; bürgerlich, kleinbürgerlich, antibürgerlich; konsumfixiert,
konsumfeindlich; staatsgläubig,
anarchistisch; sie waren alles und nichts, und das gleichzeitig.
Sie
waren stark darin, zusammen die richtigen
Fragen zu stellen an eine kriselnde Gesellschaft; aber in den Antworten auf diese Fragen kamen sie zu widersprüchlichen Antworten. Erst im Rückblick wurden sie zu einer einheitlichen Bewegung.
Die
Macht der 68er ist eine Projektion in den Köpfen ihrer Kritiker, die
eingebildete Herrschaft einer Kaste von Gleichgesinnten. In Wirklichkeit sind
die Bewohner dieser Festung längst von der Höhe der Weltanschauung
hinabgestiegen ins Tal des Lebens und sehen kopfschüttelnd zu, wie immer neue
Truppen anstürmen gegen etwas, was für ihr
Vermächtnis gehalten wird.
Die, um die es in diesen Debatten immer geht,
sitzen heute in der SPD, bei den Grünen oder in der FDP, sie sind links,
rechts, konservativ
oder unpolitisch, sie sind Single, geschieden oder verheiratet, sie sind kinderlos oder kinderreich, sie sind noch unterschiedlicher, als sie damals waren, und deshalb haben sie keine gemeinsame
Stimme in diesem Debattenzirkus. (...)
Quelle: DER SPIEGEL 44 / 2007 / 75 f (Auszug aus
„Bürgerlich bis in die Knochen“)
Anmerkung: In der Tat, der Wind hat sich gedreht.
Heute sind sich die BILD-Zeitung („Haut dem Springer auf die Finger“), die
JUNGE FREIHEIT und Eva Herman einig in der angeblich gigantisch
wertezerstörenden Wirkung der 68er. DER SPIEGEL weiß natürlich, daß das alles
Quatsch ist und die, die dabei waren, können sich noch heute daran erinnern,
wie die beiden Rudis (Dutschke und Augstein) Seite an Seite auf dem Podium des
Audimax der Universität Hamburg zusammensaßen und der vermögende Verleger die
Aktionen (denn eine Bewegung im eigentlichen Sinne gab es ja nicht) mit einem
großzügigen Scheck unterstützte. Es begann für uns mit einigen
Großdemonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Da lag es natürlich nahe, eine
Generalabrechnung mit den ständigen imperialistischen Schweinereien der
US-Regierung bzw. ihrer Stichwortgeber aus der amerikanischen Ostküste
vorzunehmen. Klar war auch, daß die BRD in Staat, Gesellschaft und – natürlich
ebenso – in ihren Hochschulen („Unter den Talaren / der Muff von tausend
Jahren“) dringend einer Demokratisierung bedurfte. Demokratisierung heißt u.a.
Mitbestimmung und Transparenz. Was uns in Rage brachte, waren viele alte Säcke,
die den größten Teil ihrer Ehre unter den Naziverbrechern eingebüßt hatten und
damals noch mit den nämlichen Betonköpfen in hohen Ämtern saßen. Und so nach
und nach haben wir so gut wie jedes Thema aufgegriffen, was mehr oder weniger
zum Himmel stank und so haben wir die Nadelstreifenfuzzis vor uns her
getrieben. Provokation war eines unserer beliebtesten Hilfsmittel und wir haben
immerhin gelernt, über unseren Tellerrand hinaus zu schauen und uns unseres
Verstandes kritisch zu bedienen. Heute ist der Kulturredakteur von
„luebeck-kunterbunt“ 59 Jahre alt, blickt etwas verklärt zurück auf diese
wunderbare wilde Zeit, die er um nichts in der Welt missen möchte und würde
(fast) alles noch mal so anstellen. Brüder zur Sonne zur Freiheit ...
Zum gleichen Thema findet der interessierte Leser
auf dieser Weltnetzseite u.a. folgende Beiträge:
Denkmodelle der 68er
Gewaltmythos der 68er
Harfouch zu ‚68