Zeitgeist als Prinzip des geringsten Widerstandes
Die Masse der Bevölkerung
lernt und richtet sich aus nach dem Prinzip des geringsten Widerstands. Ihr
innerer Drang in allen Ausrichtungen wird bestimmt von dem Wunsch, für modern
zu gelten. Sie möchte dem jeweils herrschenden Zeitgeist entsprechen. Weil der
bei uns herrschende Zeitgeist durch fremde Absichten bestimmt wird, empfinden
die meisten gar nicht, wie man sich fremden Einflüssen unterwirft und sich
fremder Gewalt ergibt, solange diese ihre Absichten im öffentlichen Bewußtsein
als Modernität schlechthin hinstellen. Zudem brachte man es fertig, nicht nur
das Fremde als modern, sondern das Eigene als minderwertig erscheinen zu
lassen. Wodurch sich jeder, der über keine eigene Urteilsfähigkeit verfügt und
von den durch fremde Absichten ausgestreuten Sprachregelungen der Modernität
geleitet wird, sich seines Deutschseins schämt und versucht, so
deutschfeindlich wie möglich aufzutreten.
Solche Erscheinungsbilder sind
nicht neu. Ein besiegtes Volk wurde den Römern zum Sklavenvolk. Sklaven konnte
man, wie käufliche Sachen, zu Marktpreisen in Besitz nehmen. Durch die
Einschränkung des Persönlichkeitsrechts und Selbstbestimmungsrechts verloren
Sklaven auch ihr Selbstbewußtsein. Manch einer, dessen Ehrgeiz darunter litt, nicht
durch seine Schuld, sondern durch Abstammung für minderwertig zu gelten, gab
seine eigene Sittlichkeit auf und ahmte die des römischen Herrenvolkes nach.
Das machte ihn nicht zum Römer, täuschte ihn aber darüber hinweg, zum besiegten
Volk zu gehören und für ehrlos zu gehen. Er galt nun für belehrbar, was
allerdings an seiner Rechtslage als Sklave nichts änderte.
Die Deutschen verloren mehr
als einen Krieg; sie verloren mit ihm ihr Ansehen und ihre Ehre als Nation. Sie
wurden nicht nur Verlierer, sondern als Ergebnis der Niederlage entdeckte
Verbrecher. Die Annahme von der Vergasung von sechs Millionen Juden wurde
zunächst allen Deutschen als Kollektivschuld zur Last gelegt, gleichgültig, ob
sie Nutznießer, Untermieter oder Opfer der besiegten Herrschaft gewesen waren.
Indem man die angenommene Schuldthese zur herrschenden Grundidee machte, mußte
jeder Zweifel daran wie ein Rechtsbruch und eine Unmoralität erscheinen. Die
deutsche Niederlage von 1945 war derart total, daß grobe Mängel im Rechtsdenken
der Sieger ganz übersehen wurden. Ist der Vorwurf der Kollektivschuld an sich
schon barbarisch, kennzeichnend für einen zu klein geratenen Sieger, so war der
Grundsatz, daß keine Beweise für die angenommene Schuld zu erbringen seien,
noch verdächtiger. Es wäre vorauszusehen gewesen, daß ein großes und
selbstbewußtes Volk wie das Deutsche den Vorwurf der Kollektivschuld verdrängen
würde. Dies geschah, indem man das, was kollektiv unterstellt wurde, kollektiv
an eine Minderheit weitergab, der, die sich einmal zum Nationalsozialismus
bekannte, schließlich jener, die sich noch zu ihm bekennt und, nachdem diese
auszusterben begann, allen, die sich überhaupt noch als Deutsche empfinden. Man
entlastete sich und gab damit dieser Minderheit ihre stärkste Bewegkraft, das
Recht und die Pflicht sich dessen auf eigene Art zu erwehren, was schon die
Gesamtheit des Volkes für sich als ungerecht und untragbar hielt ‑ der
Kollektivschuld.
Weil nach jenem angenommenen
Sündenfall der deutschen Nation, der als Begründung für eine probierte
Ermordung dieses Volkes mit Hilfe des Morgenthauplans dienen sollte, neue
Generationen an Deutschen heranwuchsen, die sich nicht mehr belastet fühlen,
können sie ungezwungen über die angebliche oder tatsächliche Schuld ihrer
Eltern und Großeltern nachdenken. Darum mußte man den Druck verstärken, damit
die Auflage des unbedingten Schuldgefühls und die daran geknüpften
Schuldverpflichtungen unendlich erhalten bleiben. Wo aber Druck ausgeübt wird,
entsteht Gegendruck. Der Reiz wächst, anders zu sein als jene, die sich an ihre
Unselbständigkeit und Minderwertigkeit gewöhnten. Anders sein bedeutet für
viele der jungen Deutschen, die sich kaum noch an Adenauer, geschweige an
Hitler erinnern, daß sie im selben Maße deutsch sein wollen, wie jene Masse der
Ehrlosen von keinem anderen Ehrgeiz getrieben sind, als für undeutsch oder gar
für antideutsch zu gelten. Sie fordern ihre Selbständigkeit zurück, nein, sie
nehmen sie wie selbstverständlich in Anspruch, sowohl in ihrem Handeln wie auch
in der Betrachtung der eigenen Geschichte und der nationalen Angelegenheiten.
Sie wollen sich nicht länger aufzwingen lassen, zu welchen Ergebnissen sie in
der Geschichtsforschung gelangen dürfen. Je heftiger man es ihnen verwehrt,
desto eigensinniger werden sie ihr Suchen und Denken darauf beschränken, in allem
nur das Gegenteil von dem für wahr anzunehmen, was heute als unbestreitbar wahr
gilt. Wir können davon ausgehen, daß auf die lange Enthaltungszeit, deutsche
Geschichte ohne auferlegten Schuldkomplex zu betrachten, eine Zeit
leidenschaftlicher Regungen folgt, in der man den bloßen Gedanken zurückweist,
mit vorgegebenen Ergebnissen an die Geschichtsbetrachtung heranzugehen. Und auf
die Zeit des Deutschenhasses wird eine Zeit folgen, die der vorhergehenden in
allem zuwiderläuft.
Darin liegt Hoffnung; darin
liegt auch Gefahr. Standen wir bisher unter dem Zwang, in allen
Geschichtsbetrachtungen zu einer Ausschmückung der uns auferlegten Gesamtschuld
zu kommen, so wäre das Gegenteil davon ein selbstauferlegter Zwang, über die
bloße Widerlegung des Schuldvorwurfs tunlichst nicht hinauszukommen. Das wäre
eine veränderte, selbstauferlegte Art von Unfreiheit. Wir wollen aber aus der
Unselbständigkeit heraus, nicht, um in eine andere Gebundenheit zu verfallen,
sondern um zu freiem Handeln und historischem Forschen zurückzufinden. Weil wir
aber irgendwo beginnen müssen und einen Anknüpfungspunkt brauchen, wollen wir
so beginnen: so wenig es für einen Amerikaner unehrenhaft ist, sich als
Amerikaner zu empfinden, die amerikanische Geschichte mit eigenen Augen zu sehen
und nicht mit den Augen ihrer Feinde, ebenso kann es auch für einen Deutschen
nicht unehrenhaft sein, sich als Deutscher zu bekennen.
Wir wollen uns als Deutsche an
keiner tatsächlichen Schuld vorbeidrücken, vorausgesetzt, daß sie nach gehenden
Gesetzen Rechtsverletzung war und nicht bloß eigenwillig unterschoben wird. Wir
wissen aus langer Erfahrung, daß man durch taktvolles Schweigen und durch
jegliche Art von Gefälligkeitsleistungen und freiwilligen Schuldannahmen keine
angenommene Schuld klärt; sie wird jeden Tag schiefer, wasserköpfiger und
lausiger. Der Haß als Massenwahn hat Veränderungen bewirkt, die jede Steigerung
des Hasses denkbar macht, aber keine Lösung des Problems bringt, das mit der
gnadenlosen Niederlage der Nation seinen Anfang nahm. Wir wollen darum an den
neuen Anfang das Bekenntnis setzen: ja, wir sind Deutsche.
Quelle: "Nationalvergiftung" von Gerd Schmalbrock, Gladbeck
1982, S. 19 - 21