Tag des Erinnerns
Das Leid von 15 Millionen vertriebenen Deutschen. Auch nach dem Krieg
dauerte die Unmenschlichkeit an. Der 8. Mai sollte ein Tag des vollständigen
Erinnerns sein / Von Erika Steinbach - Präsidentin des Bundes der
Vertriebenen
Am 8. Mai 1945 endete der
Zweite Weltkrieg. Das war fürwahr ein Grund zur Erleichterung, eine Erlösung
für alle betroffenen Völker. Das nationalsozialistische Grauen, für das
Auschwitz zum Synonym wurde, hatte ein Ende gefunden. Dennoch ist dieser Tag nicht
allein ein Tag der Befreiung, sondern auch ein Tag des Erinnerns ‑ des
vollständigen Erinnerns, nicht des partiellen Erinnerns.
Wer damals glaubte, mit dem
Ende des Krieges würden auch Unmenschlichkeit und Gewalt in Europa aufhören,
der irrte. Der jüdische Schriftsteller und Zeitgeschichtler Hans‑Günther
Adler, der die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt hatte,
schrieb dazu in seinem Standardwerk "Theresienstadt 1941‑1945":
"Die Befreiung von Theresienstadt hat das Elend an diesem Ort nicht
beendet. Nein, nicht allein für die ehemaligen Gefangenen, deren Leid mit dem
Wiedergewinn der äußeren Freiheit gewiss nicht abgeschlossen war, sondern auch
für neue Gefangene, deren Elend jetzt erst begann. In der "Kleine
Festung" wurden Deutsche des Landes und reichsdeutsche Flüchtlinge
eingeliefert. Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich während der
Besatzungsjahre manches hatten zu Schulden kommen lassen, aber die Mehrzahl,
darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurde bloß eingesperrt, weil sie
Deutsche waren. Nur weil sie Deutsche waren ... ? Der Satz klingt erschreckend
bekannt; man hatte bloß das Wort "Juden" mit "Deutschen"
vertauscht. Die Fetzen, in die man die Deutschen hüllte, waren mit Hakenkreuzen
beschmiert. Die Menschen wurden elend ernährt, misshandelt, und es ist ihnen um
nichts besser ergangen, als man es von deutschen Konzentrationslagern her
gewohnt war ... Das Lager stand in tschechischer Verwaltung, doch wurde von ihr
nicht verhindert, dass Russen gefangene Frauen vergewaltigten. Zur Ehre der
Theresienstädter Juden sei gesagt, dass sich an diesen Gefangenen, die zum
Straßenkehren und anderen niedrigen Arbeiten, aber auch zur Pflege von
Flecktyphuskranken in die Stadt kommandiert wurden, keiner der alten Gefangenen
vergriff, obwohl Russen und Tschechen dazu aufforderten."
Theresienstadt war kein
Einzelfall; im gesamten mittel‑, ost‑ und südosteuropäischen Raum
ging es ähnlich zu. In einem vertraulichen Bericht an das Foreign Office vom
Jahre 1945 über den polnischen Machtbereich heißt es: "Konzentrationslager
sind nicht aufgehoben, sondern von den neuen Besitzern übernommen worden.
Meistens wurden sie von polnischer Miliz geleitet. In Swientochlowice
(Oberschlesien) müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zu Tode geprügelt
werden, Nacht für Nacht bis zum Hals im kalten Wasser stehen, bis sie sterben.
In Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht die Schreie der Opfer
dringen.
In Polen, in der
Tschechoslowakei und in Jugoslawien gab es Zwangsarbeits- und Vernichtungslager
für Millionen von Deutschen. Praktisch alle Deutschen in diesen Ländern wurden
bis zu ihrer Ausweisung zur Zwangsarbeit herangezogen, auch außerhalb von
Lagern. In Polen und in den Gebieten unter polnischer Verwaltung gab es nach
Kriegsende 1255 Lager. Allein im Lager Lamsdorf in Oberschlesien starben 6048
von 8000 Insassen. Auch in anderen oberschlesischen Zwangsarbeitslagern
herrschte unbeschreibliche Grausamkeit. Das Erschießen von arbeitsunfähigen
Alten und Kranken gehörte in verschiedenen Lagern zum Tagesgeschäft.
In der Tschechoslowakei wurden
nach dem Krieg 2061 Arbeits-, Straf‑ und Internierungslager unterhalten.
Die Grausamkeiten in diesen Lagern waren unbeschreiblich. Allein im Lager
Mährisch‑Ostrau wurden bis Anfang Juli 1945 rund 350 Insassen zu Tode
gefoltert. Es spricht für sich, dass Gefangene dieser Lager über Nacht weiße
Haare bekamen, andere wahnsinnig wurden.
Die Zustände in den
jugoslawischen Lagern unterschieden sich nicht wesentlich von denen im
tschechischen oder polnischen Herrschaftsgebiet. Dort ging es oft noch
schlimmer zu. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes hat ermittelt, dass es
in diesem Raum 1562 Lager und Gefängnisse gegeben hat. Im Mai 1945 waren
praktisch alle damals noch lebenden Jugoslawien‑Deutschen in Lagern interniert,
wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten. Man unterschied offiziell dreierlei
Lager: Zentralarbeitslager, Ortslager und Konzentrationslager für
Arbeitsunfähige. Die Letzteren wurden inoffiziell auch Endlager oder
Vernichtungslager genannt. Allein im größsten Lager diese Art, Rudolfsgnad,
sind nach den geretteten Aufzeichnungen eines Lazarettarztes von 33.000
Insassen 9503 umgekommen, darunter 491 Kinder unter 14 Jahren. Ortsnamen wie
Gakowo, Jarek oder Rudolfsgnad im damaligen Jugoslawien, Potulitz, Lamsdorf
oder Schwientochlowitz in den Oder‑Neiße‑Gebieten unter polnischer
Herrschaft oder Theresienstadt und Olmütz-Hodolein in der Tschechoslowakei
stehen für tausende Zwangsarbeitslager in diesen Ländern.
Zu den Nachkriegsopfern gehört
auch fast eine Million deutscher Zivilisten, die mit oder nach Ende des Krieges
unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion
verschleppt wurden; auch darunter Frauen
und Kinder. Allein auf den Transporten starb ein Zehntel der Deportierten an Misshandlungen,
Hunger und Kälte. Aber der Transport war erst die Vorhölle. Fast die Hälfte der
Verschleppten starb in den Lagern.
Der britische Philosoph
Bertrand Russel schrieb am 19. Oktober 1945 empört an die "Times":
"In Osteuropa werden jetzt von unseren Verbündeten Massendeportationen in
einem unerhörten Ausmaß durchgeführt, und man hat ganz offensichtlich die
Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, sondern
dadurch, dass man ihnen ihr Zuhause und die Nahrung nimmt und sie einem langen,
schmerzhaften Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als
Teil einer bewussten Friedenspolitik."
Das alles geschah, während vor
dem Nürnberger Militärtribunal Hans Frank, Hermann Göring, Alfred Rosenberg,
Fritz Sauckel und Arthur Seyß‑Inquart angeklagt und zum Tode verurteilt
wurden, ausdrücklich auch wegen ihrer Beteiligung an Deportationen von
Zivilisten aus besetzten Gebieten zur Zwangs- und Sklavenarbeit.
Mit
dem 8. Mai 1945 hatten Unmenschlichkeit und Grausamkeit in Europa noch kein
Ende gefunden. Millionen von deutschen Kindern, Frauen und Männern in den
früheren deutschen Ostgebieten und in den mittel‑ und südosteuropäischen
Staaten waren recht‑ und schutzlos. Bis 1950 wurden mehr als 15 Millionen
Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben. Mehr als 2,5 Millionen haben
Vertreibung, Zwangsarbeit und Lagerqual nicht überlebt. Albträume begleiten
die überlebenden Opfer ein Leben lang.
Bis
heute sind diese millionenfachen Menschenrechtsverletzungen aus der Mitte des
zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend ungeheilt. Was Not tut, sind das
Bekenntnis und der Wille zur Heilung dieser Menschenrechtsverletzungen
durch die Staaten, in deren Herrschaftsgebiet das Ungeheuerliche geschah. Was
Not tut, ist die Verurteilung der noch lebenden Verantwortlichen. Menschenrechte
sind unteilbar und unabdingbar. Die europäischen Völker müssen sich gemeinsam
ihrer Vergangenheit stellen, um eine auf Dauer friedvolle und fruchtbare
Zukunft zu gewinnen. Dabei geht es nicht darum, eine Kollektivschuld aufzuarbeiten.
Sie gibt es nicht. Weder sind die einen ein Volk von Vertreibern, noch sind wir
Deutsche ein Volk von nationalsozialistischen Verbrechern. Zur jeweiligen
Bürde gehört aber das Erbe aus einer anderen Epoche: hier die Verantwortung
gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Regimes, dort die
Verantwortung für das Schicksal der deutschen Opfer.