Südtirol - altdeutsches Kernland
Der frühere italienische
Staatspräsident Cossiga hat in Österreich und Südtirol Anstoß erregt, weil er
die Österreicher und deutschsprachigen Südtiroler der deutschen und nicht einer
eigenständigen österreichischen Volksgruppe zurechnet. Betrachtet man die
Herkunft, Sprache und Geschichte der Österreicher, so hat Cossiga recht.
Österreich einschließlich des früher zu Österreich gehörenden Südtirols gehörte
als altdeutsches Kernland seit der Entstehung Deutschlands jahrhundertelang zu
Deutschland, und Wien hat eine lange Geschichte nicht nur als österreichische,
sondern auch als deutsche Hauptstadt, in der bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
die deutschen Kaiser residierten. Das staatsrechtliche Ausscheiden Österreichs
aus Deutschland datiert erst auf das Ende des Deutschen Bundes 1866 und die
Gründung des kleindeutschen Reiches von 1871, die zu einer machtpolitisch
begründeten deutschen Teilung in Reichsdeutsche und Deutschösterreicher führte,
ohne daß die bis dahin völlig unbestrittene gemeinsame deutsche
Volkszugehörigkeit damit wegfiel.
Auch nach diesem Zeitpunkt
betrachteten sich die Österreicher als Deutsche. So bezeichnete sich Anfang des
20. Jahrhunderts der damalige österreichische Kaiser Franz Joseph als
"deutschen Fürsten", und nach dem Ersten Weltkrieg votierten die
Österreicher im Jahre 1921 mit sehr großer Mehrheit in einer demokratischen
Entscheidung für den Anschluß an die Weimarer Republik, der allerdings wegen
des damit verbundenen Machtzuwachses Deutschlands von den Siegermächten des
Ersten Weltkrieges verboten wurde. Angesichts der politischen Entwicklung im
Deutschland der dreißiger Jahre verlor der Anschlußwunsch an Boden, war aber immer
noch vorhanden. Der Jubel vieler Österreicher beim Einmarsch Hitlers in Wien
1938 bedeutete nicht zwangsläufig Zustimmung zur nationalsozialistischen
Ideologie, sondern entsprach oft lediglich dem historisch und ethnisch
begründeten Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland und den Deutschen. Der Anschluß
war ursprünglich ja eine absolut ehrbare, populäre und dem Bewußtsein einer
gemeinsamen Volkszugehörigkeit von Österreichern und Deutschen entspringende
Zielsetzung, die allerdings dann später durch die Art und Weise des Anschlusses
und die folgenden Ereignisse gründlich diskreditiert wurde.
Die Distanzierung der
Österreicher von den Deutschen nach 1945 war nicht frei von opportunistischen
Erwägungen. Mit der These vom ersten Opfer Hitlers wollte man vergessen machen,
daß viele Österreicher das Dritte Reich von 1938 bis 1945 loyal mitgetragen
haben und führende Nationalsozialisten Österreicher waren. Übrigens konnte noch
zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts der damalige deutsche
Bundespräsident Heinrich Lübke bei einem Staatsbesuch in Wien die Österreicher
als einen sich in der österreichischen Republik manifestierenden Teil des
deutschen Volkes bezeichnen, ohne deswegen in Österreich auf nennenswerte
Kritik zu stoßen.
Man kann die Österreicher auch
heute noch mit einiger Berechtigung als einen Teil des deutschen Volkes
betrachten, der aber seit Ende des 19. Jahrhunderts eine besondere Entwicklung
genommen hat und dessen staatliche Eigenständigkeit zu respektieren ist, zumal
sie heute dem Mehrheitswillen der Österreicher entspricht. Diese staatliche Selbständigkeit
bedarf mithin auch nicht der Rechtfertigung durch eine reichlich verkrampfte
These von einem selbständigen österreichischen Volk, die ohne Not die deutsche
Herkunft der Österreicher leugnet oder herunterspielt. Die Irritationen in Lienz, Innsbruck und Wien dürften auch daher rühren, daß
man Cossigas Behauptung, die Österreicher seien Deutsche, für politisch
unangemessen hält, ohne sie jedoch einfach für unzutreffend erklären zu können.
Hier würde man den Österreichern mehr Souveränität wünschen, indem sie ihre
ethnische Gemeinsamkeit mit den übrigen Deutschen nicht bestreiten und
gleichwohl ihre historisch gewachsene staatliche Eigenständigkeit betonen. Das
eine schließt das andere ja keineswegs aus.
Quelle: Klaus Müllereisert,
Frankfurt am Main im FAZ-Leserbrief vom 27.8.2005