Professor Konrad Löw
"Eingedenk seiner mehr als tausendjährigen
Geschichte"
Dokumentation: Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte / Ein Aufsatz
des Politikwissenschaftlers Konrad Löw in der Zeitschrift "Deutschland
Archiv" fällt aus Gründen der politisch-historischen Korrektheit der
Zensur zum Opfer / Restauflage soll vernichtet werden
Konrad Löw
Denk ich an
Deutschland in der Nacht,/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht," schrieb
Heinrich Heine 1843 unter der Überschrift "Nachtgedanken" in der
"Zeitung für die elegante Welt". Mit dem Wort "Deutschland"
verband er bestimmte Vorstellungen, Erwartungen, Empfindungen, wie den
nachfolgenden Zeilen Heines zu entnehmen ist:
"Deutschland
hat ewigen Bestand,
Es ist ein
kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen
Linden,
Werd' ich es immer
wiederfinden."
Die Vorstellungen,
die das Wort "Deutschland" bei den Deutschen auslöst, können als der
Begriff Deutschland, als "deutsche Identität" (nach den subjektiven
Urteilen und Empfindungen) bezeichnet werden. Denn, so belehrt uns "Das
große Wörterbuch der deutschen Sprache", Identität bedeutet in der
Psychologie die "als Selbst erlebte innere Einheit der Person", hier
also der imaginären Kollektivperson "deutsches Volk".
Woran denken wir
Deutsche, wenn von Deutschland die Rede ist? Eine schriftliche Befragung, z.B.
hier und jetzt, würde sicherlich zeigen: Die Antworten sind sehr mannigfaltig
und reichen von Land und Leuten auf Sylt und in Berchtesgaden, in Cottbus und
Aachen, über Sprache und Symbole, über Kultur und Geschichte, Politik und
Staat, Recht und Philosophie bis hin zu Wirtschaft und Industrie, made in
Germany, Sport und Spaß.
Der vorliegende
Beitrag beschränkt sich auf Verfassung und Geschichte, Geschichte, so weit sie
die Besonderheiten der Verfassung verständlich macht.
Das Grundgesetz als Baustein deutscher Identität
"Eingedenk
seiner mehr als tausendjährigen Geschichte" hat sich, wie es in der
Präambel heißt, das Bayerische Volk seine Verfassung gegeben. Auch die deutsche
Geschichte reicht über tausend Jahre zurück. Deutschland wurde im 10.
Jahrhundert nach der Dreiteilung des Karolingerreiches der Verband der Franken,
Sachsen, Schwaben und Bayern. Im 11. Jahrhundert erhielt dieses
"Ostfränkische Reich" die Bezeichnung Regnum Teutonicum. Doch die
Landesherren und die Städte erstarkten. Das Reich verlor im Laufe der
Jahrhunderte an Bedeutung. In den Wirren der Napoleonischen Kriege legte der
besiegte Kaiser Franz von Österreich die römisch-deutsche Kaiserkrone nieder.
Erst 65 Jahre
später konnte wieder ein deutscher Kaiser gekrönt werden, ausgerechnet im
Spiegelsaal von Versailles, wo die preußische Streitmacht und ihre Alliierten
infolge des Sieges über Frankreich das Sagen hatten. Eine Reichsverfassung
regelte den Aufbau des Staates und die Kompetenzen der Reichsorgane. Sie hatte
47 Jahre Bestand, bis die Monarchie in den Wirren der Niederlage im Ersten
Weltkrieg unterging. Die erste deutsche Republik gab sich, obwohl staats- und
völkerrechtlich mit dem Kaiserreich identisch, eine gänzlich neue Verfassung,
die den Reichstag zum obersten staatlichen Machtorgan emporhob und den
organisatorischen Teil um einen umfangreichen Grundrechtsabschnitt ergänzte.
Das "Dritte
Reich" hat diese Verfassung, die Weimarer Reichsverfassung, nie förmlich
außer Kraft gesetzt. Dennoch blieb, bildlich gesprochen, kein Stein auf dem
anderen. Der radikale Umbau begann mit der "Verordnung zum Schutz von Volk
und Staat" (28. Februar 1933), durch die alle politisch relevanten
Grundrechte suspendiert wurden. Weitere rasche Schritte auf dem Wege zur
absoluten Macht tragen die Namen: Ermächtigungsgesetz, Gleichschaltungsgesetz,
NSDAP-Gesetz, Neuaufbaugesetz, Staatsoberhauptgesetz. Schon im Sommer 1934 war
Hitler in einer Person: Reichspräsident, Reichskanzler, Reichsgesetzgeber,
oberster Befehlshaber der Wehrmacht, Regierungschef und oberster Gerichtsherr.
Alle Merkmal des totalitären Staates waren geradezu idealtypisch erfüllt: eine
Partei, Medienmonopol, terroristische Geheimpolizei und die für alle
verbindliche einheitliche Weltanschauung. Damit wäre die politische deutsche
Identität jener Ära knapp, aber doch aussagekräftig skizziert.
Es ist eine
Selbstverständlichkeit, daß das Grundgesetz alle diese Verfassungsgrundsätze
des "Dritten Reiches" Punkt für Punkt entschieden negiert. Doch das
Resultat war nicht die Wiederherstellung der Weimarer Verfassung, vielmehr gab
es im Verhältnis zu ihr zahlreiche fundamentale Neuerungen.
Klaus Stern, einer
der namhaftesten deutschen Staatsrechtslehrer, begann einen Vortrag mit der
Feststellung: "Dem Grundgesetz standen 1948/49 bei seiner Entstehung
mehrere ausländische Verfassungen Pate, etwa die der USA, der Schweiz,
Österreichs und Italiens. So gab es Rezeptionen bei den Grundrechten, bei der
Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch beim Vermittlungsausschuß zwischen
Bundestag und Bundesrat."
Als das Grundgesetz
entstand, war Deutschland ein besetztes Gebiet und den Weisungen der Sieger
ausgeliefert. Dennoch waren die Westmächte nach dem Scheitern der
Viermächtekonferenz (November/Dezember 1947) bestrebt, die Zügel locker zu
lassen, um dem Eindruck entgegenzuwirken, die rechtliche Basis der zu
schaffenden Bundesrepublik sei ein Oktroi der Alliierten. Auch kam hinzu, daß
sie untereinander längst nicht in allen Fragen einer Meinung waren. So
befürwortete Frankreich, selbst das Muster eines Einheitsstaates, für
Deutschland einen extremen Föderalismus.
Die Empfehlungen
der Westmächte "beschränkten sich in Dokument Nr. 1 auf die Errichtung
eines demokratischen, föderalistischen Staates, der mit einer hinreichenden
Zentralgewalt ausgestattet, eine Gewähr von Recht und Freiheit für die Bewohner
bieten sollte." Dokument Nr. 2 hatte den Föderalismus zum Gegenstand,
wobei im Prinzipiellen die Meinungen der Beteiligten nicht geteilt waren. Dafür
gab es eine Reihe von Gründen, so auf deutscher Seite die romantische
Erinnerung an "glücklichere Zeiten", von denen Friedrich Schiller in
Notizen zu einem Gedicht "Deutsche Größe" schwärmt: "Keine
Hauptstadt und kein Hof übte eine Tyrannei über den deutschen Geschmack aus. So
viele Länder und Ströme und Sitten, so viele eigne Triebe und Arten."
Hinzu kam die im Bewußtsein aller gegenwärtige Tatsache, daß der überwundene
NS-Staat die äußerste Machtkonzentration verkörpert hatte und auch die als
Bedrohung empfundenen Sowjets den Einheitsstaat favorisierten.
Weithin bekannt ist
der große Einfluß der US-Gegebenheiten, insbesondere des US Supreme Court, auf
die Ausgestaltung des Bundesverfassungsgerichts.
Doch wenn wir den
Rang einer Norm vor allem nach seiner Stellung im Grundgesetz bemessen und
daher den ersten Artikeln besondere Bedeutung zusprechen, so ist das
Grundgesetz weit mehr als nur ein Derivat aus zahlreichen anderen Urkunden. Es
hat eine ganz eigene Note und sucht unter allen ausländischen Verfassungen
ihresgleichen. Dieser "Sonderweg" wird schon mit der Präambel
beschritten, deren erste Worte bekanntlich lauten: "Im Bewußtsein seiner
Verantwortung vor Gott und den Menschen [...] hat sich das deutsche Volk kraft
seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."
Auch andere
einschlägige Urkunden sprechen von Gott, so die englische Magna Charta des
Jahres 1215 und die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die
wie ein Gebet beginnt: "Im Namen Gottes, des Allmächtigen!" Doch dann
ist dort der Transzendenz Genüge getan und der Staatsaufbau wird nüchtern
beschrieben. Im Grundgesetz hingegen wird die Anrufung Gottes ergänzt durch die
feierliche, fast sakrale Feststellung: "Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt." Der zweite Absatz des ersten Artikels nennt eine der wichtigsten
Konsequenzen: "Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten [...]" Artikel 2 Absatz 1 verdient
gleichfalls besondere Erwähnung, da das in ihm angesprochene Sittengesetz mit
der Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen und mit dem
Bekenntnis zu den Menschenrechten korrespondiert: "Jeder hat das Recht auf
die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer
verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz
verstößt." Dies alles beweist einen fundamentalen Mentalitätswandel des
Grundgesetzes nicht nur gegenüber dem Geist des "Dritten Reiches", sondern
auch gegenüber der Weimarer Republik, wo wir dergleichen vergeblich suchen.
Natürlich sind auch "Rechtsstaat", "Demokratie",
"Sozialstaat" usw. Steckbriefmerkmale der Bundesrepublik, doch ist
insofern die Eigenheit im internationalen Vergleich weit geringer.
Der Schluß liegt
nahe, daß wir diesen neuen Geist dem Parlamentarischen Rat verdanken, der das
Grundgesetz erarbeitet hat. Dem ist aber nicht so. Bereits in der ersten
deutschen Nachkriegsverfassung, der des Landes Württemberg-Baden vom 24. November
1946, begegnen wir den charakteristischen Schlüsselworten Gott, Würde,
Menschenrechte und Sittengesetz. Der erste Absatz des ersten Artikels lautet:
"Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in
Freiheit und in der Erfüllung des ewigen Sittengesetzes zu seinem und der
anderen Wohl zu entfalten." Die Präambel hat den Wortlaut: "In einer
Zeit großer äußerer und innerer Not hat das Volk von Württemberg und Baden im
Vertrauen auf Gott sich diese Verfassung gegeben als ein Bekenntnis zu der
Würde und zu den ewigen Rechten des Menschen als einen Ausdruck des Willens zu
Einheit, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit."
In dem erwähnten
Essay schildert auch Klaus Stern die Ausstrahlung des Grundgesetzes auf eine
Reihe von Verfassungen anderer Staaten. Er nennt Griechenland, Portugal,
Spanien und ehemalige Mitglieder des Ostblocks. Doch die Gemeinsamkeiten
reichen nicht so weit, daß die zitierten ersten Artikel des Grundgesetzes nicht
länger für die deutsche Identität bezeichnend wären.
Auswirkungen dieses
rechtsphilosophischen Mentalitätswandels sind wohl bis heute spürbar, auch wenn
sie nicht exakt zu beweisen sind. Jede Diskussion über Embryonenschutz, Schutz
des ungeborenen Lebens, Organtransplantation und Euthanasie vollzieht sich in Deutschland
vor dem Hintergrund einerseits dieser Verfassungsvorgaben, andererseits der
menschenverachtenden Praktiken und Prinzipien des NS-Staates, weshalb der
Lebensschutz in Deutschland auf den genannten Problemfeldern strenger ist als
in den meisten anderen europäischen Staaten.
Die zitierten
Passagen des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 wurden bis heute nicht geändert,
ja die in Artikel 1 niedergelegten Grundsätze sind gemäß Artikel 79 Absatz 3
jedem Zugriff entzogen. Aber Gesetze, auch Verfassungen, unterliegen häufig
einem stillen Wandel, der sich um Ewigkeitsklauseln wenig kümmert. Was zur
deutschen Verfassungsidentität zählt, bleibt von diesem Erosionsprozeß nicht
verschont. Die Frankfurter Allgemeine brachte am 3. September 2003 einen
ungewöhnlich umfangreichen Aufsatz unter der Überschrift: "Die Würde des
Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern. Die
Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes markiert einen
Epochenbruch". Verfasser war der frühere Richter des Bundesverfassungsgerichts
Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die ausführliche Überschrift skizziert den Inhalt.
Was er unter dem Stichwort "Menschenwürde" an Verfassungswandel
veranschaulicht, hat sich längst vorher mit Blick auf die Zentralbegriffe
"Verantwortung" und "Sittengesetz" zugetragen. Die Sammlung
der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts füllt mehr als einhundert
Bände, vom Sittengesetz des Artikels 2 war aber nur einmal die Rede, und das
liegt fast fünfzig Jahre zurück. Seit dieser Zeit ist das Sittengesetz für die
Richter geradezu inexistent ebenso wie die "Verantwortung vor Gott und den
Menschen". Dabei kommt weder das moderne Recht noch die moderne
Philosophie ohne die Annahme eines Sittengesetzes, einer rechtsverbindlichen
Minimalmoral aus, auch wenn andere Bezeichnungen dafür gewählt werden.
Die Ausblendungen
zentraler Vorgaben der Verfassung werden dadurch noch brisanter, daß sie durch
andere Worte ersetzt werden, die geradezu das Gegenteil des Intendierten
besagen. So deutet das Gericht den "ethischen Standard" des
Grundgesetzes als "Offenheit gegenüber dem Pluralismus
weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das
von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist". Die Worte
"freie Entfaltung der Persönlichkeit" sind dem Artikel 2 entnommen,
an die Stelle des dort als Schranke genannten Sittengesetzes ist die
Selbstbestimmung getreten, an die Stelle der Verantwortung vor Gott und den
Menschen die Eigenverantwortung. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung passen
besser zur Fun-Gesellschaft unserer Tage als die ernsten Verfassungsworte der
Nachkriegszeit. Aber folgt daraus, daß das Vermächtnis derer, die den
schlimmsten Fall Deutschlands durchleiden mußten und 1948/49 das Grundgesetz
schufen, en passant weggewischt werden darf?
Die Auswirkungen
dieser Entwicklung sind geradezu mit Händen greifbar und müssen zumindest kurz
veranschaulicht werden, da andernfalls die deutsche Identität in einem falschen
Lichte erscheint. Erwähnt sei nur der weitgehend durchlöcherte Ehrenschutz, der
nach Auffassung bestqualifizierter Verfassungsrechtler kaum noch existiert, und
die faktische Schutzlosigkeit des ungeborenen menschlichen Lebens gegenüber der
eigenen Mutter. So werden Jahr für Jahr in Deutschland allein nach der
amtlichen Statistik 130.000 Kinder im Mutterleib getötet. Die Kosten, die der
Staat trägt, belaufen sich auf 40 Millionen Steuer-Euro im Jahre 2003,
Beihilfen des Staates für in der Regel rechtswidrige Tötungen menschlichen
Lebens. Das hätten sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht träumen
lassen, als sie ihre Verantwortung vor Gott und den Menschen beteuerten.
"Eigenverantwortung"
und "Selbstbestimmung" leisten der Selbstsucht Vorschub, die in
unseren Tagen immer mehr in diverse Süchte entartet, Magersucht, Freßsucht,
Spielsucht, Trunksucht, Drogensucht usw. Auch diese Feststellung ist Teil der
deutschen Identität, eine ihrer tristen Seiten.
Der Holocaust als Teil der historischen Identität
Die Biographie
eines Menschen prägt weitgehend seine Identität. Ähnlich verhält es sich mit
menschlichen Gemeinschaften. Deutsche Identität und deutsche Geschichte sind
aufs engste miteinander verwoben. Die deutsche Geschichte reicht, wie erwähnt,
tief zurück ins Mittelalter. Allein mit der Aufzählung der einschneidenden
Ereignisse könnte ein langer Vortrag gefüllt werden. Daher ist auch insofern
eine radikale Beschränkung angezeigt, die uns die Texte der
Nachkriegsverfassungen nahelegen.
Vom prägenden Einfluß
der Verfassung des Landes Württemberg Baden auf die ersten Artikel des
Grundgesetzes war schon die Rede. In der Präambel dieser Länderverfassung wird
mit größtmöglicher Deutlichkeit jene Kraft erwähnt, die den geradezu einmaligen
geistigen Umschwung im Verfassungsdenken ausgelöst hat: "In einer Zeit
großer äußerer und innerer Not..." Insofern noch anschaulicher das Vorwort
der gleichaltrigen Bayerischen Verfassung: "Angesichts des Trümmerfeldes,
zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne
Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges
geführt hat..." Die zwölf Jahre Nationalsozialismus bilden also ein
wesentliches Element deutscher Identität, und es gibt, wenn ich recht sehe,
niemanden, der dies bestreitet, der diese zwölf Jahre verschweigt, auch wenn
wir sie noch so gerne ungeschehen machen möchten. Mehr noch: Schon der erste
Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, hat auf historisch
einmalige Weise begonnen, Wiedergutmachung zu vereinbaren, die nun schon über
50 Jahre geleistet wird.
Das offene,
nachdrückliche Bekenntnis zu den dunkelsten Seiten der deutschen Geschichte und
die Wiedergutmachung im Rahmen des Möglichen sind keine
Selbstverständlichkeiten. Frankreich, La Grande Nation, zum Beispiel rühmt sich
der Revolution von 1789. Als erste Nation auf dem Kontinent habe sie den Ideen
der Aufklärung zum Durchbruch verholfen. Sie verschwieg lange die
Hunderttausende, die im Verlauf der Revolution ermordet wurden. Noch vor zehn Jahren
war es für französische Staatsmänner selbstverständlich: Vichy ist nicht
Frankreich. Mit anderen Worten: Die Verbrechen der Regierung der Jahre
1940-1944 wurden nicht als genuiner Bestandteil der französischen Geschichte
wahrgenommen.
Detlef Junker, von
1994 bis 1999 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington D.C.,
schildert, was er auf den Stufen des Kapitols erlebte: "wie diese
Hunderttausende, umgeben von patriotischen Denkmälern wie dem Washington
Monument, dem Jefferson- und Lincoln-Memorial, in Liedern und Hymnen die
amerikanische Dreieinigkeit von Gott, Vaterland und Freiheit besingen; wie
diese Nation von Einwanderern... sich an solchen Festtagen immer aufs neue
konstituiert, indem sie ihrem Gründungsmythos vom ‚süßen Land der Freiheit'
(‚sweet land of liberty') Dauer und Zukunft verleiht."
Junker beschreibt
den "ironischen" Verlauf des Streits um neue Richtlinien für die
Vermittlung von Geschichte. Eine von Präsident Bush sen. unter patriotischen
Vorzeichen eingesetzte Kommission kam zu dem Schluß, daß die mangelnden
Geschichtskenntnisse durch neue, nationale Standards verbessert werden müßten.
Doch die von Historikern erarbeiteten Richtlinien erregten einen Teil der
Öffentlichkeit und den Senat so sehr, daß der Senat die Richtlinien mit 99 zu 1
Stimmen als unverantwortlich verdammte. Die Vertreibung und Vernichtung großer
Teile der Indianer, die Ausbeutung und Mißhandlung der schwarzen Sklaven sollen
tunlichst nicht thematisiert werden.
Der Holocaust
spielte, als er sich ereignete, in der amerikanischen Publizistik nur eine
geringe Rolle. Daran änderte der Sieg der Alliierten über die Achsenmächte
nicht viel. Der Schock, den die Bilder aus befreiten Vernichtungslagern und von
Leichenbergen auslösten, hielt nicht lange vor. Erst Jahrzehnte später kam es
zu einer Rückbesinnung auf das Schreckliche, das fast vergessen schien.
"Amerikanisierung des Holocausts" ist zum Schlagwort geworden. Henryk
Broder zählt auf, was in den nächsten zehn Jahren auf diesem Gebiet alles geschah
und resümiert: "Amerika erlebt einen Holocaust-Rausch". Ein
brennendes Verlangen sei ausgelöst worden, "sich nachträglich ein Stück
Geschichte anzueignen, bei dessen Erstaufführung man lange Zeit uninteressiert
abseits gestanden hatte."
"Der
wichtigste Grund der Popularität des Holocaust bei den 98 Prozent der
nichtjüdischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten [scheint] allerdings gerade
der zu sein, daß die Amerikaner sich selbst in ihrer Rolle als Erlöser der Welt
bestätigen können. Die Erinnerung an das Verbrechen eines fremden Volkes, der
Deutschen, führt zugleich zu einer Externalisierung des Bösen und einer
Bestätigung der eigenen, heroisch-patriotischen Geschichtsbetrachtung."
Daß sich
Deutschland insofern ganz anders verhält, könnte von uns Deutschen als Teil der
positiven deutschen Identität empfunden und ausgespielt werden, könnte uns mit
etwas Nationalstolz erfüllen. Aber bekanntlich ist das Gegenteil der Fall, war
unsere Verteidigungsbereitschaft in der Zeit des Kalten Krieges die geringste
und ebenso verhält es sich mit dem nationalen Selbstbewußtsein, dem
Nationalstolz. Danach gefragt, lag Österreich auf Platz eins gefolgt von den
USA, Deutschland aber auf dem vorletzten Platz, vor der Slowakei.
Welches sind die
Gründe für diese miese deutsche Stimmung? In seiner Untersuchung "Der
deutsche Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit" stellt
Hans-Ulrich Thamer zutreffend fest: "Die deutsche
Zusammenbruchsgesellschaft, die von Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen,
Ausgebombten und Kriegsinvaliden geprägt war und eine Gesellschaft in Bewegung
darstellte, haderte vor allem mit dem eigenen Schicksal und war auf dessen
Bewältigung bedacht; sie war weniger dazu bereit, über die persönliche oder
kollektive Mitverantwortung an dieser Situation nachzudenken: Man verstand sich
als Opfer, nicht als Täter." Dann kam Ende der sechziger Jahre die
rebellische Generation der Söhne, die, so Thamer, "ihre Väter pauschal als
Täter oder Helfershelfer anklagten, die Bundesrepublik als neofaschistischen Nachfolgestaat
des Dritten Reiches denunzierten, sich selber allzu rasch auf das hohe Roß des
Anklägers setzten..."
Einer dieser
Ankläger von damals ist Außenminister Joseph Fischer. Auch heute klagt er, so
am 11. Mai 2002 in der Frankfurter Allgemeinen: "Salomon Korn stellt fest,
daß viele der deutschen Juden sich in diesen Monaten allein gelassen fühlen. Er
beschreibt das Gefühl, als Jude in Deutschland in 'Kollektivhaftung' genommen
zu werden für jegliches Vorgehen Israels gegen die Palästinenser".
Diese Klage des Vizepräsidenten
des Zentralrates der Juden in Deutschland ist gerechtfertigt, zumal kein
deutscher Jude die israelische Regierung gewählt haben dürfte. Aber ist dieser
Vorwurf nicht verständlich angesichts der Tatsache, daß bis heute den
Deutschen, die unter Hitler lebten, Kollektivhaftung, ja Kollektivschuld
angelastet wird, auch von Samuel Korn? In der Frankfurter Rundschau vertritt er
die Auffassung, daß in Deutschland kaum "das Bewußtsein einer zwischen
1933 und 1945 verursachten tiefgreifenden kulturellen und zivilisatorischen
Selbstamputation [zu spüren sei]. Dazu hätte es eines Unrechtsbewußtseins der
Deutschen nach Kriegsende bedurft."
"... der
Deutschen", das heißt doch aller oder fast aller Deutschen. Doch wer hat
bis heute den Nachweis für die Richtigkeit dieses Vorwurfs angetreten? Als Sohn
eines behördlich anerkannten NS-Opfers spreche ich nicht pro domo. Es geht mir
nicht um die Rettung der deutschen Ehre um jeden Preis, nicht: right or wrong
my country, sondern um die historische Wahrheit. Je intensiver man die
zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen heranzieht, um so deutlicher zeigt sich,
warum Hitler die Vernichtung der Juden mit allen Mitteln geheimhalten wollte.
Das Volk, das ihn mehrheitlich über Jahre hinweg fast abgöttisch verehrte,
hatte kein Verständnis für seine brutale Judenpolitik.
Der Antisemitismus
war um die Jahrhundertwende in Europa weit verbreitet, manifest vor allem in
Rußland mit den zahlreichen Pogromen (dieses russische Wort steht für Terror,
Verwüstung) und Frankreich, Stichwort: Dreyfus-Affäre (1894 ff.). Deutschland
blieb von diesen Strömungen nicht gänzlich verschont. Aber sie gewannen im
politischen Raum keine Oberhand, so daß die rechtliche Emanzipation der Juden
unangetastet blieb und sogar noch weiter ausgebaut werden konnte. Daher fühlten
sich die Juden mehrheitlich in Deutschland recht wohl. "Im europäischen
Kontext galt bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus die deutsch-jüdische
Geschichte durchaus als eine Erfolgsgeschichte. In kaum einem anderen Land war
die Integration, aber auch die Assimilation der Juden so weit fortgeschritten
wie in Deutschland."
Ein Jude erinnert
sich: "Was Amram die ersten Schritte im Leben erleichterte, waren gute
Freunde. F., aus dem selben Milieu wie er und aus derselben Schule... und S. aus
einer ostjüdischen Familie, die wie viele andere Juden mit dem Beginn
antisemitischer Ausschreitungen aus Osteuropa nach Deutschland geflüchtet
waren, das nach Ende des Ersten Weltkrieges als eines der freundlichen
Zufluchtsländer galt."
Die meisten Juden
empfanden gesellschaftliche Brüskierungen als geradezu notwendige
Begleiterscheinungen einer heterogenen Gesellschaft, in der die Bayern und
Sachsen ihre antipreußischen Ressentiments kultivierten und umgekehrt, in der
die Diskriminierung der Katholiken als rückständige, unzuverlässige
Ultramontanisten an der Tagesordnung war, die ihrerseits das Laisser-faire der
Liberalen tadelten. Die Juden wußten, daß sie selbst nicht verlegen waren, wenn
es galt, eigene Interessen zu vertreten oder andere auf die Schippe zu nehmen.
Martin Buber pries die "Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen"
und ihre große "Fruchtbarkeit".
Die turbulenten
Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die Vorgänge in Rußland, die Massenimigration
von Juden aus dem Osten, die von Juden angeführte Räterepublik in Bayern gaben
dem Antisemitismus auftrieb, obwohl, bildlich gesprochen, in München Juden auf
beiden Seiten der Barrikaden standen. Es waren turbulente, ja chaotische Tage.
Der Jude Kurt Eisner wurde in München ermordet. Doch auch der Mörder war ein
Jude. Walther Rathenau fand als "Erfüllungspolitiker", wie das
Schimpfwort lautete, ebenso einen gewaltsamen Tod wie auch der nichtjüdische
Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger und andere. Der Münchener Kardinal
Faulhaber wurde bestürmt, dem Anschwellen judenfeindlicher Haßgesänge
entgegenzutreten. Nur wenige Tage vor Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle am 9.
November 1923 sprach er in seiner Allerseelenpredigt "von der
gegenseitigen Liebe im gemeinsamen Leid." Mit blindem Haß gegen Bauern und
Bayern, gegen Juden und Katholiken würden keine Wunden geheilt. Der Text
verdeutlicht, wie weite Teile der Bevölkerung gegenseitig Animositäten schürten
und keineswegs nur die Juden zur Zielscheibe solcher Angriffe wurden. Das Ende
der Inflation 1923 verbesserte die wirtschaftliche Lage und hob so die
allgemeine Stimmung.
Viele deutsche
Juden als Teil der deutschen Gesellschaft sonnten sich nun im Licht der
"Golden Twenties", wie wir den Erinnerungen Nahum Goldmanns, 1949 zum
Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses gewählt, entnehmen: "Der
Höhepunkt jüdischen Einflusses wurde in der Weimarer Republik erreicht - wohl
eine der größten Kulturepochen deutscher Geschichte. Die drei bedeutendsten
deutschen Banken - Deutsche Bank, Disconto-Gesellschaft und Dresdner Bank -
hatten jüdische Direktoren; die drei größten Tageszeitungen - Berliner
Tageblatt, Vossische Zeitung und Frankfurter Zeitung - gehörten Juden und
wurden meist von Juden redigiert; die zwei einflußreichsten deutschsprachigen
Zeitschriften - Die Fackel und Die Weltbühne - wurden von Juden geleitet; der
wichtigste Theaterdirektor dieser Epoche - Max Reinhardt - war Jude..."
Also kann man mit Fug und Recht behaupten, daß gerade Juden den Geist dieser
Jahre nachhaltig beeinflußt haben.
Der schöne Schein der
zwanziger Jahre wurde getrübt durch antisemitische Kriminalität, schwankend
entsprechend der Stärke der NSDAP. Die Ideologie, die sie propagierte, war
nicht tonangebend, wenngleich sie gerade in akademischen Kreisen ein positives
Echo auslöste. Ein schöner Beleg für jüdische Integration ist die Tatsache, daß
noch 1932, als der FC Bayern zum ersten Male deutsche Meister wurde, sowohl der
Präsident, Kurt Landauer, als auch der Trainer Jude waren.
Hitlers NSDAP, die
Antisemitenpartei, nahm erstmals an den Reichstagswahlen des Jahres 1924 teil
und erhielt die Stimmen von 6,5 Prozent der Wähler im Mai und 3,0 Prozent im
Dezember; am 20. Mai 1928 waren es noch 2,6 Prozent, die NSDAP also eine
Splitterpartei. Innerhalb von nur 28 Monaten schnellte der Anteil auf 18,3
Prozent empor. Die Zahl der Abgeordneten stieg von 12 auf 107. Für Hitlers
rasanten Aufstieg gibt es nur eine Erklärung, nämlich die sprunghaft steigende
Arbeitslosigkeit, die schier unvorstellbare Not, gegen die die etablierten
Parteien offenbar kein Rezept hatten; Hitlers Antisemitismus spielte eine
untergeordnete Rolle. In ihrer Verzweiflung versuchten es die Massen mit
Hitler, der eine rasche Besserung versprach und der nur darum bat: "Gebt
mir vier Jahre Zeit!"
Die raschen innen-
und außenpolitischen Erfolge Hitlers als Kanzler dürften, so wird allgemein
angenommen, ursächlich dafür gewesen sein, daß eine große Mehrheit der
Deutschen von der neuen Regierung sehr angetan gewesen ist. Gilt dies auch für
die Judenverfolgung, die Reichspogromnacht und die Tage danach, die
Stigmatisierung durch den Judenstern, die Judenvernichtung?
Die Übergriffe der
ersten Jahre wurden offenbar nicht von oben angeordnet, wenngleich auch nicht
energisch unterbunden. Eingang in die Medien fanden sie nicht. Der Boykott jüdischer
Einrichtungen am 1. April 1933 wurde als Gegenboykott deklariert und
gerechtfertigt. Was die Reaktion der Bevölkerung auf die Ausschreitungen
insbesondere der SA in und nach der Reichspogromnacht anlangt, so heißt es in
einer eingehenden Untersuchung zusammenfassend: "Fast alle diplomatischen
Berichte stellten die Passivität der Bevölkerung heraus, das stumme Entsetzen,
Zornesausbrüche einiger weniger, die Scham der meisten. Die Diplomaten
beobachteten Leute, die die Entehrung der Juden unmittelbar als Verletzung der
eigenen Ehre, als Entehrung des deutschen Namens empfanden. Die auswärtigen
Beobachter nahmen vor allem ein Volk in tiefer Depression wahr. Jeder, der
widersprechen wollte, hatte längst begriffen, daß er auf keinerlei Schutz durch
Behörden, Gerichte oder Nachbarn hoffen durfte."
Dompropst Bernhard
Lichtenberg betete am 10. November 1938 in der katholischen Hauptkirche
Berlins, in der St. Hedwigskathedrale: "für die Priester in den
Konzentrationslagern, für die Juden, für die Nichtarier" und fügte hinzu:
"Was gestern war, wissen wir. Was morgen ist, wissen wir nicht. Aber was
heute geschehen ist, haben wir erlebt. Draußen brennt der Tempel. Das ist auch
ein Gotteshaus". Lichtenberg betete weiter für alle Verfolgten, auch für
die Juden, und zwar fast drei Jahre lang, bis sich am 29. August 1941 zwei
nichtkatholische Mädchen in die Hauptkirche Berlins verirrten und Anzeige
erstatteten, was zu seiner Verhaftung führte. Vor diesen Mädchen haben im
Verlaufe der Jahre Tausende die Fürbitten gehört, jedoch gegenüber der Geheimen
Staatspolizei geschwiegen, ja die meisten wohl für die Juden mitgebetet.
Die Tochter eines
Berliner Juden erinnert sich: "Mein Vater trug am Mantel den gelben Stern,
so daß alle verstanden, wer er war. Die Menschen machten alle sehr betretene
und beschämte Gesichter, es herrschte tiefes Schweigen. Rechts und links wurde
mein Vater von seiner Frau und mir gestützt, um die Stufen [beim Einsteigen in
die Straßenbahn] nehmen zu können. Was ich damit sagen will: Die ... so häufig zitierte
Judenhetze von damals hat doch ein sehr viel differenzierteres Gesicht. Kein
Einziger hat ein verunglimpfendes Wort gesagt, die wartenden Menschen bildeten
ganz betreten schweigend ein Spalier."
Noch weit
aussagekräftiger ist die Schilderung des Juden Eugen Herman-Friede, daß ein
ganzer Ort, Blankenburg, über sein Versteck Bescheid wußte. Doch niemand
verriet ihn an Hitlers Geheime Staatspolizei. Blankenburg war nicht der einzige
Ort, wo alle Bewohner den Häschern ihre Mitarbeit versagten.
In einer
einschlägigen Untersuchung, herausgegeben im Auftrag des Zentrums für
Antisemitismusforschung, Berlin, heißt es: "Es zeichnet sich auch ab, daß
für jede untergetauchte Person bis zu zehn, bisweilen auch erheblich mehr,
nichtjüdische Helfer aktiv wurden, um das Überleben im Untergrund zu
ermöglichen. Hinzu kamen oft zahlreiche Mitwisser, die zwar nicht selbst den
Mut oder die Gelegenheit zur Hilfe hatten, die aber die Rettungsaktion deckten,
indem sie schwiegen." So gelang es in Berlin rund 1.500 Juden, den
Häschern, darunter auch Juden, zu entkommen.
Gibt es einen
zuverlässigeren Chronisten der deutsch-jüdischen Symbiose unter dem Hakenkreuz
als den Juden und Literaten Victor Klemperer, dessen Tagebuchaufzeichnungen der
Jahre 1933-1945 sieben Bände füllen? Im Februar und März 1942, als Hitler noch
im Zenit seiner Macht stand, mußte der mit dem Gelben Stern stigmatisierte
Professor in Dresden Schnee schaufeln. In dieser Zeit erlebte er Mitgefühl (
"Das ist doch zu schwer für Sie"), Anstand ("Der Pg., vor dem wir
gewarnt waren: Fünfzig Jahre, das Gesicht scharf geschnitten, ein bißchen an
die Lieblingstypen der NSDAP erinnernd, leidenschaftlicher Arbeiter... Er wurde
bald gegen uns alle freundlich zutunlich, plauderte, half, trieb
niemanden...") ebenso wie antisemtische Ausfälle von Passanten ("Laßt
die nur arbeiten! Gut, daß sie auch mal arbeiten.'") und von Pimpfen
("...verfolgten uns mit Hohngeschrei"), aber auch politische
Resignation ("'So weit ist es mit Deutschland gekommen!'") und
stillen Widerstand (Verteilung derLohnbeutel. Name ohne 'Israel'",
[Straßenmeister: 'Dazu bin ich zu taktvoll.']). Klemperer faßt seine Eindrücke
zusammen: "... ich glaube, auf einen solchen [Hitler-]Gläubigen kommen
doch wohl schon fünfzig Ungläubige. Genauso ist wohl das Verhältnis derer, die
uns mit Vergnügen arbeiten sehen oder beschimpfen, zu den
Sympathiekundgebern..."
Nach den
Erfahrungen Klemperers kamen also auf einen deutschen Judenhasser fünfzig
Deutsche, die Mitleid mit den verfolgten Juden empfanden. In die gleiche Richtung
weisen die anderen zitierten Dokumente. Nimmt es wunder, daß sich die
Sympathisanten der Juden und jene, die aus Anstand ihr Wissen nicht der Gestapo
preisgaben, nach Kriegsende nicht schuldig fühlten? Auch sie lebten häufig in
Angst, litten Not, waren auf vielfältige Weise Opfer des Krieges. Würde man
ganz konkret auf die Schicksale der Einzelnen eingehen, würde man wohl zu der
Einsicht gelangen, daß sie weit mehr Opfer als Täter waren, Opfer freilich in
nicht so schrecklichem Ausmaße wie das Gros der Juden. Sicherlich haben viele
dieser Deutschen in den dreißiger Jahren Hitler zugejubelt. Aber dieser Jubel
galt dem Manne, der die Schmach des "Versailler Diktatfriedens" - so
das Urteil aller deutschen Parteien, die KPD nicht ausgenommen - getilgt hatte.
Dieser Jubel begründet doch keinen Vorwurf mit Blick auf den Holocaust, der
damals noch nicht einmal geplant war.
Es darf nicht
übersehen werden, daß das "Dritte Reich" vom ersten Tag seines
Bestehens an schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hat. Aber, verglichen
mit später, ab Kriegsbeginn, waren die Zahlen gering; die Medien durften nicht
darüber berichten. Viele entschuldigten Hitler mit der Annahme, daß er davon
nichts wisse, es sich um Exzesse im Siegesrausch handle, anderswo, so in der Sowjetunion
und später in Spanien, der Terror noch weit schlimmere Ausmaße angenommen habe.
Daher die
Schlußfolgerung: Wir dürfen nicht zögern, die Verbrechen des NS-Regimes als
wichtigen Teil der deutschen Geschichte, der deutschen Identität zu bekennen.
Aber wir sollten jenen entgegentreten, die allgemein von deutscher Schuld
sprechen, wenn damit gemeint ist, daß die große Mehrheit der damals lebenden
Deutschen mitschuldig gewesen sei an einem der größten Verbrechen in der
Menschheitsgeschichte. Ein solcher Vorwurf ist ungeheuerlich, wenn er nicht
bewiesen wird. Dieser Nachweis wurde bis heute nicht erbracht. Das Grundgesetz
deklariert in Art. 20 (4) das Recht zum Widerstand. Von Pflicht ist nicht die
Rede. Wo ist die Ethik, die ohne Rücksicht auf eigene Gefährdung den Widerstand
gegen eine mörderische Gewalt zur Norm erhebt.
Deutsch-jüdische Symbiose als Element deutscher Identität
Wie kann es zu
einer fruchtbaren deutsch-jüdischen Symbiose als neuem Element der deutschen
Identität kommen? In dem Essay des deutschen Außenministers, aus dem bereite
zitiert wurde, heißt es ferner: "...recht uneigentlich lauert, wie immer,
wenn es in Deutschland um Israel geht, eine urdeutsche Identitätsdebatte gleich
hinter der nächsten Ecke. Darf man Israel kritisieren?... Die deutsche
Demokratie hat seit damals ... die fortgeltende historische Verantwortung
Deutschlands für den Völkermord am deutschen und europäischen Judentum
angenommen, und diese Verantwortung ist der feste und zentrale Grundstein der
Selbstbegründung der deutschen Demokratie nach 1945. Nur so konnte über den
tiefen Graben zwischen den Tätern und Opfern von einst neues Vertrauen
wachsen."
Nun, zwischen den
"Tätern und Opfern von einst" ist kein Vertrauen gewachsen. Mit den
Tätern würden die allermeisten Opfer gar kein Gespräch führen. Vermutlich meint
er mit "Täter" die Deutschen. Wer leichtfertig mit Blick auf ein
furchtbares Verbrechen den Tätervorwurf erhebt, begründet neue schwere Schuld.
Wenn jemand so ungehemmt den Schuldvorwurf ausstreut, möge er konkret werden.
Andernfalls setzt er sich dem Vorwurf aus, daß er einem substanzlosen Kult mit
der Schuld huldigt, der die Vortragsreise eines Daniel Goldhagen im Oktober
2002 zu einem Triumphzug gemacht hat, wie ihn noch kein seriöser
Wissenschaftler erleben durfte.
Aber Goldhagen hat
doch bewiesen, daß Hitler schier zahllose Helfer bei der Umsetzung seiner
Endlösungspläne fand: Deutsche, Ukrainer, Letten usw. Was nicht in sein Bild
paßt, sind Juden. Doch auch von ihnen leisteten einige einen beachtlichen
Beitrag als Judenräte, als Häscher, als Polizisten, in den Gaskammern. Bei den
Juden war es sicherlich ausnahmslos Angst um das eigene nackte Leben, bei den
anderen überwiegend Mordlust oder Sadismus, Kollektivgeist, soweit die Täter
nicht von der absoluten Verbindlichkeit eines Befehls ausgingen, oder die
Sorge, andernfalls der Ächtung durch Vorgesetzte und Kameraden zu verfallen,
eine Schwäche, die selbst in einem freiheitlichen Gemeinwesen auf Schritt und
Tritt anzutreffen ist. Wäre Antisemitismus das Hauptmotiv gewesen, hätten die
Vollstrecker nicht den anderen "Minderwertigen" gegenüber, den
geistig Behinderten, den Polen, den Russen, den Sinti und Roma, die gleiche
Brutalität gezeigt wie gegenüber den Juden.
Michael Wildt ist
in seiner Habilschrift des Jahres 2002 den Lebensläufen von 221 leitenden
Mitarbeitern des aus Gestapo, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst
zusammengefügten Reichssicherheitshauptamtes (RSAH) nachgegangen und fand bei
keinem "zu Beginn des 'Dritten Reiches' irgendwelche Anzeichen für einen
'eliminatorischen' Antisemitismus, obgleich etliche von ihnen ein paar Jahre
später die Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen befehligten". Die
Mordbereitschaft entstand und wuchs in und mit dem NS-System.
Das alles sind für
viele unbequeme Wahrheiten. Aber eine fruchtbare Symbiose auf
wissenschaftlicher Ebene kann es nur geben, wenn alle Beteiligten auf der Suche
nach der deutschen Identität folgende Grundsätze respektieren: Keine Tabus;
keine Vergleichsverbote, auch wenn die Vergleiche anstößig sein sollten;
gleiche Maßstäbe für alle Völker und Menschen; in dubio pro reo; die
Wirklichkeit ist zumutbar.