Kollektive Neurose
Ohne Nation geht's nicht - Deutsche Identität: Es ist höchste Eisenbahn,
daß wir unsere kollektive Neurose überwinden
Am Horizont erhebt sich
drohend die gestundete Zeit. Die sogenannten "78er", die "lebenskulturellen
Kriegsgewinnler der 68er Revolte", für die (laut ihrem Erfinder Reinhard
Mohr) Politik nur "in der ersten Person" stattfand und die es sich
als postnationale Frührentner bequem gemacht hatten, befinden sich in der
Lebensphase zwischen Prostata-Vorsorge und Rentenloch. Die von den Aufbau-Generationen
hinterlassenen Vorräte sind aufgebraucht, eigene haben sie nie angelegt. Aug'
in Aug' mit der eigenen Hybris, stellt Spiegel-Redakteur
Matthias Matussek (Jahrgang 1954), Autor des Buches
"Wir Deutschen", jetzt fest: "Ohne eine positive Identifikation mit
unserer Nation ( ... ) fliegt uns in den Zeiten der Globalisierung und der dschihadistischen Konfrontationen unser Land um die
Ohren."
Wohl wahr! Vom deutschen
Sozialhilfeempfänger bis zum freigekauften Entführungsopfer im Irak wissen
alle, daß eine effektivere Ordnungsstruktur als der Nationalstaat noch nicht
erfunden ist. Er bietet den Individuen einen Schutz‑ und Freiraum und
sorgt, indem er ihre Kräfte und Fähigkeiten bündelt, nach außen für Wehr‑
und Handlungsfähigkeit. Ohne diese Struktur blieben die einzelnen haltlose
Individuen, die von den Stürmen der Globalisierung umhergewirbelt werden.
Wenn ein Vertreter der "Nie
wieder Deutschland"‑Generation jetzt
Identifikation, innere Verbundenheit, Zuneigung zum eigenen Land verlangt, dann
in der Einsicht, daß Deutschland nur so lange Bestand haben und handlungsfähig
bleiben kann, solange seine Bewohner, wie Brecht sagt, es "lieben und
beschirmen". Denn was würde sie sonst daran hindern, wie Heuschrecken über
es herzufallen und Unberufene zum großen Fressen einzuladen, blind für den
Schaden, den sie sich und nachfolgenden Generationen zufügen?
Dieses Lieben und Beschirmen
heißt: Patriotismus. Dessen Abwesenheit hat uns gehindert, das Eigene den
anderen als etwas Erstrebenswertes anzubieten. Als Folge, so Matussek, bestimmt die "Kanak"‑Sprache
von "Türkenprolls" Schulhöfe und
Diskotheken, potentiell sogar das geistig‑kulturelle Niveau. Die
Angsträume in Deutschland, die wirklichen, werden künftig nicht durch
Rechtsextremisten definiert, deren Zahl bereits aus demographischen Gründen
überschaubar bleibt, sondern von ethnischen Unterschichten.
Nur hat man halbmutige
Vorstöße wie diesen schon zu oft erlebt, um an die kathartische Wirkung zu
glauben. Ein oder zwei virtuelle Akte sogenannter Ausländerfeindlichkeit haben
genügt, um die Diskussion über eine rationale Ausländer‑ und
Integrationspolitik abzubrechen und das Land in die Paralyse zurückzuführen.
Bestimmte Funktionseliten aus dem linken und linksliberalen juste milieu haben sich dabei besonders
hervorgetan ‑ schließlich ist es der paralytische Zustand des Landes, der
ihnen den Elitestatus sichert.
Es ist unergibig,
sich länger mit denen auseinanderzusetzen, die meinen, das Land habe sich wegen
höherer Prinzipien (Menschenrechte!) seinen zumeist ungebetenen Neuaufsiedlern anzupassen, nicht umgekehrt. Alles führt auf
die Forderung des Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas
zurück, die Deutschen hätten ihren Identitätsanspruch und ihr kollektives
Selbstwertgefühl "durch den Filter universalistischer
Wertorientierung" zu treiben. Der Bezug auf universelle Werte ist nicht
falsch, doch in der Formulierung von Habermas von
sadistischer Konsequenz. Eine derart gefilterte Identität wäre eine reine
Abstraktion, ein ungeschichtlicher, lebensverneinender, unlebbarer Wahnsinn.
Diese vorweggenommene Selbstabschaffung heißt: Verfassungspatriotismus.
Wie tief er in das Bewußtsein
der bundesdeutscher Funktionseliten eingesenkt ist, die selber Kinder der
Bundesrepublik sind, demonstrierte die Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt mit der Erklärung, die
"spezifische" Geschichte Deutschlands erlaube nicht, "als zu
Rettendes die Nation" zu betrachten. Bevor die Dame als doppelte Quotilde (SPD‑Mitglied plus Frau) nach Karlsruhe
berufen wurde, war sie eine unbedeutende Landesministerin in Hessen. Sie sagte
nicht: "das Rettende", sondern das "zu Rettende". Die
deutsche Nation verdient es ihrer Meinung nach nicht, erhalten zu werden.
Solche Autoaggressionen lassen
sich nicht, wie Matussek meint, allein darauf
zurückführen, daß Deutschland einst zu tief in die "Pulle" des
Nationalismus geschaut hatte. Dem Nationalrausch wäre der antinationale Kater
gefolgt, und 60 Jahre danach hätte sich das Bewußtsein auf eine gesunde
Mittellage eingepegelt. Nein, es handelt sich um
Pathologien, hervorgerufen durch zwei universalistisch angelegte Ideologien
bzw. Weltmodelle, die siegreich über Deutschland hinweggebraust sind.
Zum einen das linke Modell,
das die Weltgeschichte von einem einzigen Punkt, vom Klassenkampf aus erklärt
und den Nationalstaat als Vokabel eines falschen Bewußtsein bestimmt. Erst
dessen Überwindung erlaube den Marsch in das Reich der Freiheit. Dieses
theoretische Glücksversprechen verband sich in der Praxis mit der Macht des
sowjetischen Riesenreichs. Dessen unrühmliche Geschichte erscheint deshalb im
milden Licht, weil Stalin schließlich Hitler besiegt hat!
Das andere Modell ist das
liberal-kapitalistische, das idealtypisch vom "American way of life"
verkörpert wird. Dieses Modell stellt das Zusammenleben auf die Basis eines
Gesellschaftsbegriffs, der auf die unmittelbarste Regung der menschlichen
Seele, den Hunger nach Sättigung und Besitz, zurückgreift, um sie in den
Mittelpunkt des Lebens selbst zu stellen. Patriotismus ist eine millionenfach
sich wiederholende Geschäftshandlung, in der die eine Seite Glück und Aufstieg
verspricht, die andere den Bürgereid zusichert. Für eine Einwanderungsnation
wie die USA ist das die bestmögliche Selbstdefinition, für Deutschland, weil es
über andere historische Wurzeln verfügt, bedeutet es Selbstaufgabe.
Beiden universalistischen
Modellen gemeinsam ist die Dynamik, der Anspruch auf Beherrschung und
Durchdringung von Großräumen und, im Umkehrschluß, die Feindschaft gegenüber
kleinräumigen Kulturen, Nationen, Identitäten. Beide reichten sich 1945 über
der Elbe die Hand, die totale Niederlage Deutschlands besiegelnd. Seither ist
seine Zeit eine gestundete, auch aus eigener Schuld und Schwäche. Das
emphatische Bekenntnis, die Deutschen hätten "ihre Lektion gelernt",
impliziert Unterwürfigkeit und geschichtliche Resignation. Anstatt nach
Machtinteressen zu fragen und die Niederlage zu historisieren, wird sie als
Gottesurteil angenommen. Manchen dämmert jetzt, was aus ihrer Schwäche für sie
selber folgt.
Quelle: DORIS NEUJAHR in JUNGE FREIHEIT vom 2.
Juni 2006
Anmerkung: Der Kulturredakteur von "luebeck-kunterbunt" hat - das sei in aller
Bescheidenheit angemerkt - bereits vor Jahren prophezeit, daß dieses getretene,
geschundene, umerzogene und von fremdvölkischen Ignoranten/Bösewichtern
verleumdete Deutschland eines Tages auferstehen wird wie Phönix aus der Asche.
Vielleicht werden wir es noch erleben.