Der Geist der Deutschen  -  Johann Gottfried Herder

 

Nehmt den historischen Faden der Weltbegebenheiten, so wie er sich in unserem engen Gesichtskreise fortgeleitet, durchflochten, verwickelt und endlich halb entwickelt, halb zerrissen hat: ‑ und nun seht! an welchem Ende hat Deutschland ihn gefaßt; an welcher Stelle hält es noch bis jetzt? ‑ Leser! laß die Geschichte reden:

 

Der feine griechische Geschmack in Sprache, Wissenschaften und Künsten muß erst unter dem römischen Himmel halb verbleichen und seinen Duft verhauchen: Wahrheit und Schönheit halb verwelkt trauert, wie eine sinkende Blume ‑ und nun kommen nordische Horden, diese Blume ganz zu zertreten. Die verdorbene römische Literatur mischt sich mit den rohen Begriffen ihrer Überwinder: Römer und Barbaren vermischen ihre Denkart: ein heiliger orientalisch‑hellenistischer Geschmack kommt dazu, um ihr eine neue Richtung zu geben. So gären griechisch‑römisch‑nordisch‑orientalisch-­hellenistische Dämpfe ganze Jahrhunderte: sie brausen gewaltig auf: die Hefen sinken endlich langsam, und nun! was ist ausgegärt? ein neuer moderner Geschmack in Sprachen, Wissenschaften und Künsten. Habe ich wider die Geschichte geredet? ‑ Nein! ‑ Und wäre es also nicht eine nützliche Bemühung für einen historisch‑philosophischen Scheidekünstler, diesen Geschmack in seine Teile aufzulösen: und für eine ganze Nation das schwere Geschäft zu übernehmen: eine Geschichte des menschlichen Verstandes zu liefern ‑ über das ganze menschliche Geschlecht? ‑ wer kennt dies? ‑ nur über die Völker, die auf uns einen wirklichen Einfluß gehabt! ‑ und über ihren ganzen Geist? Auch nicht! Er forsche nur, wie nach den verschiedenen Wanderungen und Verwandlungen der Geist der Literatur seine gegenwärtige Gestalt angenommen. Solch ein Werk würde den entweihten Namen: histoire de l'esprit humain und Geschichte des menschlichen Verstandes wieder adeln ...

 

Die alten Deutschen nannten die Sprache der Römer eine barbarische, fürchterliche und hochmütige Sprache, weil das Volk sie redete, das zum Herrschen über die Welt geboren zu sein glaubte. Sie war das unglückliche Werkzeug, das freien Nationen despotische Gesetze gab: durch sie machten die Römer zu Geiseln die Kinder und die Väter zu Sklaven: durch sie und durch die Wissenschaften, die mit ihr eingeführt wurden, wanden sie tapferen Nationen das Schwert aus der Hand, daß sie den Arm entnervt sinken ließen und den Becher der Üppigkeit annahmen; durch sie suchten die Römer die Haine der deutschen Tapferkeit, Freiheit und Aufrichtigkeit zu zerstören, die Bewohner dieser Wälder in Städte und Schulen zu zwingen und sie mit Gelehrsamkeit und Unglück zu beschenken. Daher schauderten die Deutschen vor dieser Sprache und fochten gegen sie unüberwindlich! arme Helden! tapfre Väter! ihr strittet vergebens: eure Urenkel nahmen endlich diese Fessel der Freiheit halb gezwungen, halb willig an, als eine Fessel der Ehre ‑ am Altar!

 

Wir sehen diese dunkle Zeit oft aus einem viel zu einseitigen Gesichtspunkt an: Karl der Große wird als ein ruhmwürdiger und verdienstvoller Monarch angepriesen, der die deutsche Sprache und Dichtkunst geliebt, die lateinische Sprache und mit ihr die Wissenschaften, die Religion, und mit ihr das Glück ausgebreitet hätte. Betrachtet ihn näher und sein Verdienst sinkt, wenn sein Ruhm billig prangt: er ward ein unglücklicher Mann, der als ein Geschöpf von Rom, ein Sohn des Papstes, ein Eiferer bis zur Menschenfeindschaft, ein Vertilger der bardischen Literatur, der Vater eines unglücklichen Geschlechts, bloß eine neue Epoche voll Unruhe, Unheil und nie zu erstattenden Schadens anfing ‑ und das alles ohne Schuld und meistens wider seinen Willen.

 

Mönche und fränkische Priesterhorden führten, das Schwert in der einen und das Kreuz in der andern Hand, den Götzendienst des Papstes, die schlechtesten Trümmer der römischen Wissenschaften, und den niedrigsten Gassen‑ und Klosterdialekt der römischen Sprache in Deutschland ein: drei Schwestern der Barbarei und des Unglücks, die mit verschlungenen Händen triumphierend einzogen und das Joch über eine Nation warfen, der es schwer fiel, es zu tragen, die unter allen Ländern Europas am meisten darunter gelitten und vielleicht noch leidet. Die lateinische Religion lehrte gedankenlose Hartnäckigkeit im Behaupten, die lateinische Literatur erstickte den Geist und schnitzelte den Geschmack an Spekulationen und Unsinn, die Mönchssprache führte ewige Barbarei in der Sprache des Landes ein. ‑ Und diese Sündflut muß viele Jahrhunderte durch in fauler Ruhe stehen, bis sie sich in das Mark der Literatur einzog, den Geist der Nation vergiftete, und in Gelehrsamkeit und Sprache und dem äußeren Zustande, der die Form zur Bildung ist, ewige und unauslöschbare Eindrücke nachließ. So bildet in dem zarten weißen Leim der toskanischen Marmorbrüche eine faule Sumpfader ewige Figuren: sie härten sich, werden poliert, ihnen wird nachgeholfen, und nun findet ein Tor in ihnen weise Spiele der Natur, vortreffliche Risse der Kunst, Schönheiten, die zum wirklichen Wesen des Marmors gehören sollen.

 

Wie aber? Ist nicht dies Labyrinth durch die christliche Barbarei immer noch ein Richtsteig gewesen zum Tage, zur Mittagssonne? Wie wenn Deutschland seinem natürlichen Fortgang der Kultur überlassen geblieben wäre, sollte es denn durch sich selbst, in so kurzer Zeit, so hoch gekommen sein, als es ist? Die fremde Zumischung von Hefen war eben ein Gärungsmittel, es zu reinigen: hätte es sich selbst klären sollen, es stünde noch trübe. ‑ Ich habe so wenig Macht, alles dies völlig zu leugnen, als der andre, es völlig zu behaupten. Weißt du denn, ob die römische Barbarei dir in Betracht der bardischen Barbarei raubte oder zubrachte: ob sie mehr niederriß oder besser baute? ‑ Und siehe! sie hat dir alles soweit geraubt, daß du nicht einmal urteilen kannst: indessen besieh die einzelnen Überbleibsel einiger benachbarten Barbarei, welche der römischen Wut entronnen sind: so wirst du vielleicht diese bardische Barbarei mit anderen Augen anzusehen anfangen, als du sie gemeiniglich sahst: du wirst zweifeln!

 

Jetzt denke weiter! Kein größerer Schade kann einer Nation zugefügt werden, als wenn man ihr den Nationalcharakter, die Eigenheit ihres Geistes und ihrer Sprache raubt: überdenkt dies, und du wirst den unersetzlichen Schaden sehen. Nun suche in Deutschland den Charakter der Nation, den ihnen eigenen Ton der Denkart, die wahre Laune ihrer Sprache: wo sind sie? ‑ Lies Tacitus, da findest du ihren Charakter: »Die Völker Deutschlands, die sich durch keine Vermischung mit anderen entadelt, sind eine eigene, unverfälschte originale Nation, die von sich selbst das Urbild ist. Selbst die Bildung ihres Körpers ist in einer so großen Menge Volks noch bei allen gleich: u.s.w.« Nun sieh dich um und sage: »Die Völker Deutschlands sind durch die Vermischung mit andern entadelt, haben durch eine langwierige Knechtschaft im Denken ganz ihre Natur verloren: sind, da sie lange Zeit mehr als andere ein tyrannisches Urbild nachgeahmt, unter allen Nationen Europens am ungleichsten sich selbst.« Mit ihren Wäldern ist ihre Freiheit ausgehauen; den Winden und fremden Sitten ein Durchzug verschafft: für Sonnenstrahlen und fremde Gewächse Raum gemacht: der Aberglaube erniedrigte die Denkart in den Staub, die subtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geist verunstaltende Krümmung: die Sprache erlag. Haben wir mehr bekommen oder aufgeopfert? Das zähle ein Weiser nach, der den päpstlichen Aberglauben mit der alten rauhen Tugend, die politischen Unruhen mit der alten rauhen Stille, den Auskehricht der Mönchsgelehrsamkeit mit der alten bardischen Armut, die sogenannte bäurische römische Sprache mit der altdeutschen zusammenwägen könnte: Wäre Deutschland bloß von der Hand der Zeit, an dem Faden seiner eigenen Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsere Denkart arm, eingeschränkt; aber unserem Boden treu, ein Urbild ihrer selbst, nicht so mißgestaltet und zerschlagen.

 

Wer die Geschichte kennt, wird die Ursachen wissen, warum Deutschland mehr als andere Nationen in dieser päpstlichen Barbarei gelitten und unter den meisten Völkern seine hohe und edle Originaldenkart sich hat müssen rauben lassen: weil seine Lage, seine politische Verfassung u.s.w. es fesselte, und selbst bei der Wiederauflebung der Wissenschaften fesselte. O wäre es in diesen Zeitpunkten eine britannische Insel gewesen!

 

Der Lauf der Dinge, der Wurf der Zufälle ist freilich nicht zu ändern: wie aber? wenn Europa eine Sklavin von dem griechischen Konstantinopel gewesen wäre statt vom lateinischen Rom? ‑ Immer lieber und besser in Absicht auf Religion, Gelehrsamkeit und Sprache. Diese Hypothese können die überdenken, die da glauben, es sei notwendig eine Wolke der Unwissenheit dazu nötig, daß hinter ihr eine Juno entstehe. Wie? wenn es eine Denkungsart und einen Geschmack im allgemeinen gibt, der sich, trotz aller Umwandlungen der menschlichen Natur und der Völker der Welt, aufrecht erhält und wieder erhebt: so untersucht bei dieser großen ungeheuren Behauptung auch die kleinere Hypothese: ob es der Denkart des Ganzen vorteilhafter gewesen wäre, unter Rom oder Griechenland zu stehen.

 

Sollte es nicht verdienen, daß man dem Leitfaden in den dunkeln Zeiten sorgfältig nachginge, wie sich allmählich der alte Geist der Deutschen verloren und der neue Geist gebildet habe? ‑ Sollten es nicht die Zeiten der schwäbischen Kaiser verdienen, daß man sie mehr in ihr Licht der deutschen Denkart setzte: wir sind den Schweizern allen Dank schuldig, daß sie durch die Ausgabe einiger Denkmäler dieses Zeitalters einen etwas helleren Strahl auf die Literarseite dieses Jahrhunderts geworfen. ‑ Sollte es nun nicht Friedrich der Zweite aus diesem Hause insonderheit verdienen, daß ein Kenner der mittleren Geschichte ihn mehr in sein Licht setzte, da er jetzt bloß in der Dunkelheit hervorschimmert. Dieser Mann, den der Schutzgeist Deutschlands brauchen wollte, um der Wiederhersteller der griechischen und morgenländischen Literatur, der echten römischen Sprache, der Weltweisheit und Naturkunde zu sein, der selbst ein Kenner voll Gelehrsamkeit und Geschmack war, der aber, ungeachtet aller seiner Mühe, nichts als der Märtyrer seiner Zeit wurde: dieser ruhmwürdige Kaiser hat nicht einmal das leidige Verdienst, von unserer Zeit als der Morgenstern eines besseren Tages in allem seinem Lichte betrachtet zu werden. ‑ Die Wolke, die auf dieser Zeit lag, mußte jeden Keim der Weisheit ersticken: jeder Fromme war Barbar und Knecht, und jeder, der sich unterstand, weise zu sein, heißt in der Geschichte ein Dummer und Gottloser oder wurde gar ein Unglücklicher. ‑ Sollte es also Rudolf von Habsburg auch bloß aus Unwissenheit getan haben, daß er die Muttersprache Deutschlands so weit einzuführen suchte, als er konnte: ‑ man hätte dies lange vor ihm tun sollen. Jedoch ich schreibe keine Geschichte über diese Zeit, da Deutschland an Geist und Körper unterdrückte, durch Zwietracht, Unwissenheit und Bosheit entnervt, völlig seinen Charakter verloren.

 

Es kam endlich der Zeitpunkt, da alles eine neue Bildung bekam: Denkart und Religion, Gesetze und Sitten: es kam die Zeit, da die Gärungen ganzer Jahrhunderte sich senkten, die in Staub gesunkenen Nationen sich erhoben, und ein Land nach dem anderen die Finsternisse zerstreute und sich zu einem neu aufgehenden Lichte drängte: es kam die Zeit, da die Wissenschaften wieder auflebten und sich die Natur der Menschen umschuf.