Gefühl der Nation

 

Es ging (im Jahre 1870) ein Gefühl durch die Nation, daß das Deutsche Reich und Kaisertum wiederhergestellt werden müsse. Man könnte ein Buch darüber schreiben, welche Wandlungen die Idee des Kaisertums in den verschiedenen Jahrhunderten erfahren hat.

 

Es gab eine Zeit, wo das Kaisertum den Mittelpunkt der abendländischen Nationen bildete: Der Rang und das Emporkommen der deutschen Fürsten beruht darauf, daß sie es waren, die der gesamten Christenheit ein weltliches Oberhaupt gaben.

 

In diesem Sinn ist jedoch das Kaisertum niemals vollkommen realisiert worden. Das Römisch‑deutsche Reich, wie es im 12. und 13. Jahrhundert erscheint, war viel zu großartig angelegt, um in dem ganzen Umfang seiner Grenzen als eine Einheit zur Geltung zu kommen; aber allmählich erhielt die ursprüngliche universale Idee eine lediglich deutsche Bedeutung. Die Kaiser hörten auf, in Rom gekrönt zu werden, aber die in Deutschland erwählten Könige behielten die Würde auch ohne Krönung. Bei allem Gegensatz der auseinanderstrebenden Territorialmächte wurde die Autorität des Kaisertums nicht aufgegeben, solange bis das Reich unter Einwirkung eines fremden Eroberers in seinen Formen zertrümmert, bald darauf aber nach dessen Sturz in einen Bund unabhängiger Fürsten verwandelt wurde. Sollten nun diese, namentlich die gleichberechtigten Könige einen Kaiser über sich erkennen? Darin lag jedoch die einzige Lösung der vorliegenden Frage. Der König von Bayern, der mächtigste unter ihnen, ergriff dabei die Initiative, denn wie die alten Traditionen es mit sich brachten, von den Fürsten selbst mußte die Wiederherstellung des Kaisertums ausgehen. Daß dies geschehen ist ... ist von der größten historischen Wichtigkeit.

 

Die Tatsache an und für sich verknüpft die Jahrhunderte unserer Geschichte: Sie ist der Ausdruck des Gemeingefühls der Nation, wie es von Urzeiten her gebildet, die Gegenwart erfüllt. Und dadurch, daß die neue Würde erblich übertragen worden ist, bietet sie eine Gewähr der Einheit für die Zukunft, wie sie noch niemals vorhanden war.

 

Nur noch ein Moment war unerledigt. Einer der großen Stämme der Nation, durch den Lauf der Ereignisse auch von den letzten gemeinsamen Kämpfen und von der dadurch bedingten Gemeinschaft des neuen Reiches ausgeschlossen, schien sich sogar feindselig gegen dieselbe zu verhalten. Auch dieser Übelstand ist durch die jüngsten Ereignisse behoben worden. Das Kaisertum Österreich und das Deutsche Kaisertum sind in ein enges Verständnis miteinander getreten, das jede Feindseligkeit ausschließt.

 

Am Tage liegt, daß Österreich und Preußen bei dem Gegensatz, der sie voneinander trennt, zusammen nicht wohl Mitglieder des Reiches sein konnten, wenn dies zu innerer Gleichförmigkeit und wirksamer äußerer Aktion gelangen sollte. Unter der ausschließenden Führung Preußens hat sich eine Macht gebildet, welche auch ohne Teilnahme Österreichs den Feind bestanden hat, dem wir in früheren Zeiten eben infolge jener inneren Spaltung, und mehr als einmal, unterlegen waren. Deutschland hat auch in dieser Beschränkung seine Stellung gewaltig eingenommen.

 

Österreich hat nun seinen Anspruch, auf das Innere mitzuwirken, fallen lassen; das neue Reich ist mit ihm in einen Bund getreten, wie es den Verhältnissen einzig angemessen, das gesammelte Nationalgefühl kann der Zukunft ruhig entgegensehen.

 

Quelle: Leopold von Ranke (1795 - 1886), Professor der Geschichte in Berlin, Historiograph des preußischen Staates, im September 1871 zum Wesen der Gründung des Zweiten Reiches und zum Verhältnis zwischen Preußen und Österreich