Keine Erbsünde!
Im Kontext der Debatte zwischen Martin Walser und
Ignaz Bubis veröffentlichte der SPIEGEL ein Gespräch mit jüdischen Studenten
... Alle drei distanzierten sich entschieden von Walsers Friedenspreis-Rede ...
Die jungen Juden sprachen über Auschwitz, die vielbeschworene neue Normalität
in Deutschland sowie über Sinn und Unsinn eines Holocaust-Mahnmals in Berlin.
Ihnen antwortete Kathi-Gesa Klafke, nicht-jüdische Jura-Studentin an der
Ruhruniversität Bochum. Sie setzt sich mit den Standpunkten ihrer jüdischen Altersgenossen
auseinander und macht deutlich, daß sie Staatsangehörigkeit und Religion
keinesfalls vermischt sehen will:
Von
den Interviewpartnern des SPIEGEL unterscheidet mich als 23jährige Studentin
deutscher Nationalität lediglich die Tatsache, daß ich an Jesus glaube. Macht
mich das in irgendeiner Form zur Täterin? Meine Eltern wurden nach dem Krieg
geboren, meine Großeltern kurz vorher, meine Urgroßeltern wurden teilweise
selbst verfolgt. Auch wenn meine Urgroßeltern seinerzeit persönlich Menschen
getötet hätten, machte mich das noch lange nicht zu einem schlechteren
Menschen.
Viele, stellvertretend dafür
Igor, scheinen jeden, der nicht jüdischen Glaubens ist, für grundsätzlich
schlecht zu halten und maßen sich an, alleingültig die Erinnerung verwalten und
dosieren zu dürfen ("Die Holocaust‑Gedenktage sind ... dazu da, der
nichtjüdischen Gesellschaft die Geschichte nahezubringen. Ich als Jude denke
daran jeden Tag.") Ich als Christin denke auch jeden Tag an das furchtbare
Verbrechen, das auf europäischem Boden vor einem halben Jahrhundert verübt
wurde. Ich bin aber sehr wohl in der Lage zu differenzieren. Das beginnt schon
damit, daß es für mich nicht "die Juden", "die Christen",
"die Atheisten", "die Deutschen"",die Täter" oder
"die Opfer" gibt. Denn es handelt sich dabei nicht um abgrenzbare
Gruppen.
Igor, wofür soll ich mich
schuldig fühlen? Dafür, daß viele Deutsche (verschiedener und auch keiner
Religion) zusammen mit Österreichern, Niederländern oder Franzosen in
unterschiedlicher Form an dem Massenmord an vielen Juden, Homosexuellen,
Christen, Kommunisten beteiligt waren? Merkwürdig, daß ich noch von keinem Christen,
Kommunisten oder Homosexuellen dazu aufgefordert wurde, schuldig zu sein, woran
auch immer.
Wenn Hilda alle Nichtjuden für
den Tod der Verwandten ihrer Großmutter verantwortlich macht, so begeht sie
ebenfalls Unrecht: Es sind auch andere Menschen verfolgt worden als Juden, es
haben nicht alle Nichtjuden Juden ermordet, und schließlich waren auch nicht
alle Juden unschuldig. Es haben auch Juden Verrat begangen.
Und genau deshalb sprach mir
Dohnanyi aus der Seele, als er fragte, wie sich die Juden verhalten hätten,
wären sie nicht Opfer gewesen. Das richtet sich doch nicht an die Opfer,
sondern an unsere Generation. An Erbsünde glaube ich nicht, das lehne ich schon
ab, wenn mir die katholische Kirche einreden will, ich als Frau sei schuld an
der Vertreibung aus dem Paradies. Sowenig wie alle Deutsche christlichen
Glaubens pauschal Täter sind, sind alle Deutsche jüdischen Glaubens unfehlbar.
Oder würde Mark Roman Frister zu den Juden mit abstrusen Meinungen zählen? (Der
jüdische Autor Roman Frister schockierte vor zwei Jahren mit seinem KZ-Roman
"Die Mütze oder Der Preis des Lebens" vor allem die Israelis, weil er
jüdische Häftlinge als Verräter, Betrüger und Erpresser beschrieb.)
Nein, Hilda, die Vietnamesen,
die seinerzeit in Rostock in einem Wohnheim lebten, welches von Brandstiftern
angezündet wurde, müssen nicht den Brandstiftern Absolution erteilen oder auch
nur für sie Verständnis entwickeln. Wer kann das schon nachvollziehen, was dort
geschah? Aber würden in 60 Jahren alle Vietnamesen der Welt pauschal alle
Nachgeborenen auf deutschem Territorium verdammen, dann wäre die Frage nicht
absurd, die Dohnanyi stellte.
Wenn ich als 1975 in
Deutschland geborene, 1976 getaufte Christin den einzigen Unterschied zwischen
uns, die Religion, nicht als Erbanlage erworben habe, so waren wir ja am Ende
von Geburt an gleich. Die Einstellung, daß alle Menschen gleich sind und sich
erst durch ihre Handlungen unterscheiden, wurde mir von meinen Eltern durch
ihre Erziehung vermittelt. Dann aber, Hilda, Mark und Igor, seid Ihr entweder
auch Täter oder ich auch Opfer, oder wir sollten endlich von diesem
Schubladendenken Abstand nehmen.
Die Gefahren, denen jeder sich
und seine Nachwelt aussetzt, wenn er die Menschheit in Täter und Opfer
einteilt, scheinen leider keine Rolle zu spielen? Wer spricht denn immer noch
von "den Deutschen" als Gegensatz zu "den Juden"? Igor,
damit sind nicht "die Deutschen" antisemitisch, sondern Du bist
rassistisch. Mir ist es fremd, Staatsangehörigkeit und Religion zu vermischen.
Entweder Du bist Deutscher oder nicht, entweder Du bist Jude oder nicht. Aber
das eine schließt das andere nicht aus.
Dieses sogenannte
antisemitische Gedankengut, diese Vorurteile gegen "die Juden", die
waren mir unbekannt. Erfahren habe ich dadurch erst durch die immerwährenden
Beteuerungen vieler Menschen jüdischen Glaubens. Würde Herr Bubis nicht so
darauf bestehen, Juden hätten nicht ein über das Maß herausragendes
Gewinnstreben, hätte ich Geld nicht mit dem Judentum in Verbindung gebracht.
In Diskussionen
gleichberechtigter Partner nimmt derjenige mit den schlechteren Argumenten
seine "Niederlage" entweder hin oder schlägt mit unsachlichen
Beleidigungen zurück, wenn er sonst nicht weiter kommt. Nur den Argumenten Deutscher
nicht‑jüdischen Glaubens wird an dieser Stelle dann gern und oft
entgegengeschleudert, Rassisten, Antisemiten, Verbrecher zu sein, und damit ist
jede Auseinandersetzung im Keim erstickt.
Auch Herr Bubis
scheint sich lieber darauf zurückzuziehen, alle
ihm unangenehmen Äußerungen seien zwangsläufig antisemitisch. Damit ist dann
die Sache erledigt, und wir bleiben weiterhin in zwei Lager gespalten. Den
Antisemitismus schürt, wer die angeblichen Unterschiede zwischen "den
Deutschen" und "den Juden" ständig herbeiredet.
Von
mir aus laßt Religion Religion sein und uns endlich dazu übergehen, den
Holocaust in die Geschichte neben die Vernichtung der Indianer, Sklavenhandel,
Leibeigenschaft, Gulag, Kolonialisierung, Christenverfolgung, Inquisition,
Kreuzzüge einzureihen, damit alle daraus lernen können. Bislang ziehen sich
Nichtdeutsche auf ihr Ruhekissen zurück, es ist ja so bequem, die Deutschen zu
verteufeln, so etwas kann ja nur dort passieren. Oder?
Keine andere Nation hat so
wenig nationale Identität wie die deutsche und ist so bemüht darum zu erfahren,
was die Nachbarn von ihr denken. Hätten Kurden in Frankreich Pflastersteine
herausgerissen, Schaufensterscheiben eingeschlagen und Polizisten halbtot
geprügelt, es wäre sicher mit anderen Mitteln dagegen vorgegangen worden als in
meiner Heimatstadt.
Warum werde ich in meinem
deutschen Auto auf holländischen Autobahnen abgedrängt, wieso gibt es in den
Geschäften Scheveningens keine Toilette, wenn ich frage, aber für meine
englische Freundin plötzlich doch? Wieso werde ich in England und Frankreich
von meiner Generation als Nazi beschimpft, sobald man meinen Personalausweis
sieht? Weswegen schlägt mich ein farbiger Ladendieb nach seiner Entdeckung
zusammen, bezeichnet die zur Hilfe eilenden Kundinnen als Rassisten und fordert
eine Entschuldigung, nachdem er uns die fünf geklauten Uhren auf den Tresen
schleudert?
Warum können amerikanische
Hollywood‑Stars wie Dustin Hoffman Zeitungsanzeigen unterschreiben, in
denen Deutschland als Nazi‑Land beschimpft wird, weil der deutsche
Verfassungsschutz gegen die Sekte Scientology ermittelt? Weshalb bekomme ich
Briefe von wildfremden Männern aus Ghana, deren erster Satz regelmäßig lautet,
man verzeihe mir meine Vergangenheit, aber dafür solle ich eine Rolex
(Stereoanlage, Geld ... ) schicken? Das ist absurd und Rassismus. Und das ist
nichts anderes als die Instrumentalisierung von Auschwitz. Unwürdig der Opfer,
aber auch unwürdig mir gegenüber.
Ich habe zum Holocaust keinen
Beitrag geleistet, ebensowenig wie zur Vernichtung der Indianer, nur daß sich
kein Amerikaner auf der Welt vorwerfen lassen muß, Rassist zu sein, weil er
kein Indianer ist. Ich kann mir vorstellen, was Hilda, Mark und Igor mir jetzt
antworten: Es waren damals Deutsche, und auch ich bin Deutsche. Also doch
Erbsünde? Ich käme auch nicht auf den Gedanken, irgendeinen heute lebenden
Juden für die Kreuzigung Christi verantwortlich zu machen. Ach, das war jetzt wahrscheinlich
eine antisemitische Äußerung ‑ aber wer seine Mitmenschen mit dieser
Keule mundtot macht, darf nicht gleichzeitig klagen, es fände kein öffentlicher
Diskurs statt.
Die
deutsche Geschichte wird benutzt. Von viel zu vielen Menschen, die sich damit
selbst nur als Rassisten outen. Auch wenn es sich primär um deutsche Geschichte
handelt, es ist doch Geschichte. Daraus lernen sollten aber nicht die
Deutschen nichtjüdischen Glaubens, sondern alle Menschen auf der Welt. Hört
endlich auf, Täter zu benennen, die keine sind.
Ich
habe ein Recht darauf, nur für meine eigenen Taten verantwortlich gemacht zu
werden. Ich zahle Geld dafür, den heute noch lebenden Opfern eine Art Entschädigung
(kann man das?) zukommen zu lassen ‑ die einzige Erblast, die ich
insofern nicht angreife, als ich Bürgerin Deutschlands bin und irgend jemand
das Geld zahlen muß.
Als
Mensch schäme ich mich auch dafür, wozu Menschen fähig sein können. Als Mensch
bin ich auch gewillt, soviel wie möglich zu tun, damit so etwas niemals wieder
geschieht. Als Mensch bin ich entsetzt und sprachlos, wenn ich versuche, mir zu
vergegenwärtigen, was damals geschah.
Aber ich bin nicht bereit, mir
von Igor vorwerfen zu lassen, die will "sich nicht schuldig fühlen für
ihre Väter und Großväter", und, Hilda, meine Oma hat keine Möbel vom
jüdischen Nachbarn abtransportiert. Im Gegenteil, ihre eigenen wurden
verbrannt, zusammen mit ihrem Haus und ihrer Familie darin. Du nicht und niemand
sonst hat das Recht, derart abzuurteilen.
Du bist so alt wie ich und
anmaßend, wenn Du glaubst, Vorwürfe machen zu dürfen. Wenn Du das als Indikator
für "die neue Judenfeindlichkeit" wertest ‑ sorry, die redest
Du herbei und niemand sonst. Für mich sind wir gleichberechtigte Menschen. Du
teilst uns beide in Jüdin und Deutsche und hältst Lager aufrecht, die keine
sein sollten.
Nachdem die vor dem Krieg
Geborenen verstorben sind, und das wird bald der Fall sein, muß der Holocaust
von allen Menschen betrauert und für die Zukunft verhindert werden, aber ich
brauche keinen, der sich jetzt noch anmaßt, meine Generation als Täter zu
bezeichnen, damit erreichen die Mahner das Gegenteil von Reue und Besinnung:
Wut und Trotz.
Wenn niemand mehr sich erhebt
und für sich wegen seiner Religion Unschuld proklamiert und mich gleichzeitig
zum Schuldigen stempelt, erst dann wird Antisemitismus sich von selbst
erledigen. Akzeptiert, daß der jüdische Glaube in unserer Generation lediglich
eine Religion unter vielen ist. Uns unterscheidet, daß ich an Jesus glaube, ich
bin aber ein Mensch wie Ihr. Weil ich mich nur für meine eigenen Taten zur
Rechenschaft ziehen lasse, bin ich kein Antisemit. Im Gegenteil: Da ich
Sippenhaft ablehne, bin ich der Prototyp des Nichtantisemiten. Nur wer an
Stereotype glaubt, bei sich oder bei anderen, kann Antisemit sein. Ihr glaubt nicht
an typisch jüdische Eigenschaften, dann hört auf, an typisch deutsche zu
glauben.
Quelle: KATHI‑GESA KLAFKE
in DER SPIEGEL 53 / 1998 / 148 f