Rudi Dutschke und die nationale Frage

 

In den siebziger Jahren breitete sich in der westdeutschen Linken jedoch eine Position der nationalen Enthaltsamkeit aus. Wer die Frage nach der deutschen Nation stellte, zog jetzt den Vorwurf auf sich, er verbreite »nationalistisches Opium«. (Vgl. Arno Klönne, Vorsicht, nationale Sozialisten, in: die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, hrsg. Von Peter Brandt und Herbert Ammon, Reinbek b. Hamburg, im Januar 1981, 352 f). Als im Juli 1977 Rudi Dutschke dafür plädierte, daß die unabhängige Linke in beiden deutschen Teilstaaten ihre Angelegenheiten selber in die Hände nehmen sollte, reagierte ein Großteil der undogmatischen Linken in Westdeutschland verschreckt. Dutschke schrieb damals aus seinem dänischen Exil: »Amerikanisierung und Russifizierung sind vorangeschritten, aber nicht die Wiedergewinnung eines realen Geschichtsbewußtseins der Deutschen. Ganz zu schweigen von einem nationalen Klassenbewußtsein der deutschen Arbeiterklasse . .. Unter solchen Bedingungen fängt der linke Deutsche an, sich mit allem möglichen zu identifizieren, aber einen Grundzug des Kommunistischen Manifestes zu ignorieren: Der Klassenkampf ist international, in seiner Form aber national. Die Bourgeoisie im Westen und die Monopolbürokratie im Osten versuchen, den Arbeitern, Werktätigen, Studenten usw. immer wieder einzureden, wo >Sozialismus< und wo >Freiheit< ist. Diese Venebelung zu durchbrechen, an die konkrete Wahrheit vorzustoßen, ist die erste Voraussetzung der Zurückgewinnung der Identität und Geschichte. Ohne weitere, viel weitere Annäherung der beiden deutschen Staaten, ohne reale Annäherung der Menschen wird die Zurückgewinnung der Identität und Geschichte unmöglich werden. Ganz zu schweigen von der Kooperation der sozialistischen und demokratischen Opposition in beiden deutschen Staaten.« (Vgl. Rudi Dutschke, Die Deutschen und der Sozialismus, in: Ebd., S. 334f). Rudi Dutschke übertrug die Konzeption der nationalen Befreiung Algeriens oder Vietnams - so Bernd Rabehl 25 Jahre danach - auf die beiden deutschen Teilstaaten, denn in diesem Befreiungskampf könne die Bevölkerung ihr falsches Bewußtsein verändern. (Bernd Rabehl, Dutschke, Springer und die taz, in: die tageszeitung vom 10. April 1993, S. 41). Die »deutsche Misere« war für Dutschke immer auch eine »linke Misere«. Beide Gesellschaften steckten deshalb in einer Krise. (Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und die Wiedervereinigung. Zur heimlichen Dialektik von Internationalismus und Nationalismus, in: Mittelweg 36, Heft 2, Juni/Juli 1992, S. 12 ff).

Rudi Dutschke wußte, worüber er sprach: Geboren 1940 in Luckenwalde, aufgewachsen in der DDR, hatte er dort den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee verweigert und aktiv in der protestantischen Jungen Gemeinde mitgearbeitet. Kurz vor dem Bau der Mauer floh er in den Westen und studierte an der Freien Universität Berlin Soziologie. 1963 beteiligte er sich an der Gründung der »Subversiven Aktion« in München und trat im September 1964 in den Berliner SDS ein. Dort gehörte er schon bald zu den informellen Führern der Neuen Linken. Aufgrund dieser für den Aktivistenkern des Berliner SDS durchaus nicht untypischen Biographie fühlte sich Rudi Dutschke zeit seines Lebens als linker Antistalinist und gesamtdeutscher Sozialist. Die Spaltung Deutschlands bedeutete für ihn ein Hindernis beim Emanzipationskampf hüben wie drüben. Der Ex-Studentenführer aus der Mark Brandenburg starb am 24. Dezember 1979 an den Spätfolgen des Bachmann-Attentats im April 1968. Hätte Dutschke die Herausbildung der Bürgerbewegung in der DDR in den achtziger Jahren noch erlebt, hätte er ganz sicher in den Reihen der dortigen Dissidenten seinen Platz gefunden.

Quelle: "Die SPD und die Nation - Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit", von Tilman Fichter, Ullstein, Berlin - Frankfurt/Main 1993