Deutschland - Der Raum

 

Über die Anfänge größerer germanischer Staatsgründungen im heutigen deutschen Sprachraum wissen wir nur wenig. Das erste Gotenreich des Ermanrich z. B. soll sich über kurze Zeit von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt haben. Die Vorgänge der Zusammenballung germanischer Kleinstämme zu Großstämmen sind zumindest zum Teil aus dem Zusammenprall mit dem Römischen Imperium und der Herausforderung des Christentums entstanden. Als Karl der Große im Jahre 800 seine Herrschaft und Königsautorität durchsetzte und sein Reich aufbaute, knüpfte er sowohl an germanische Überlieferungen und Ideale als auch an die Idee des Römischen Weltreiches und des christlichen Friedensweltstaates an.

 

Das Ostfränkische Reich, mit dem unsere eigentliche deutsche Staatsgeschichte begann, umfaßte nach dem Vertrage von Verdun (843) in seinem Kein die in Mitteleuropa gebliebenen deutschen Stämme der Sachsen, Franken, Alemannen, Bayern und Friesen. Durch den Vertrag von Mersen (870) kamen noch große Teile Lothringens hinzu. Die Grenzen dieses Ostfränkischen Reiches bildeten im Osten die Elbe, Böhmerwald und Raab, im Süden die Alpen, im Westen Maas und Schelde, im Norden die Nordsee.

 

Vom 10. Jahrhundert an begann die Neugründung von Bistümern an der Nord‑ und Ostgrenze: Schleswig, Havelberg, Brandenburg, Meißen, Zeitz, Merseburg und Magdeburg. In der Zeit der Staufer brachten die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Dänemark, Polen, Böhmen und Burgund in nähere Beziehung zum Reich und bemühten sich besonders um die Herstellung der kaiserlichen Macht in Italien. Durch Heirat erwarben sie Neapel und Sizilien.

 

Obwohl die Versuche Karls des Großen, die heidnischen Wilzen und Pomoranen zu christianisieren, ebenso gescheitert waren, wie Unterwerfungsversuche der Polen unter Boleslaw Chobry, gingen ab 1124 die Pomeranen doch im wachsenden Maße zum christlichen Glauben über. 1170 nahmen die pommerschen Fürsten den Herzogtitel an und als sie 1181 vom deutschen Kaiser das Land als Lehen erhielten, wurde Pommern Reichsgebiet.

 

Im 12. Jahrhundert begann verstärkt die deutsche Ostsiedlung im schlesischen Raum, insbesondere als der Stauferkaiser Friedrich I. (1125‑1190) im Jahre 1163 die Söhne des polnischen Piastenherzogs Wladislaw II. zu selbständigen Herzögen von Schlesien machte. Teilungen ließen hier nach und nach viele kleine Fürstentümer entstehen und auch die Fürstenbischöfe von Breslau erwarben in Neisse und Grottkau eigene Landesherrschaft. Die schlesischen Piasten wandten sich frühzeitig der deutschen Kultur zu und förderten die deutsche Einwanderung. In den Jahren 1327 bis 1329 stellten sich die meisten schlesischen Herzöge unter die böhmische Lehenshoheit. Die Verbindung zu Böhmen ließ Schlesien zwischen 1310 und 1437 am böhmischen "goldenen Zeitalter" teilhaben, als das Königreich zwischen Erzgebirge, Sudeten und Böhmerwald europäische Bedeutung erlangte. In der Zeit, als bereits länger als zwei Jahrhunderte die Habsburger über Böhmen herrschten, kam Schlesien 1742 durch den Schlesischen Krieg an Preußen.

 

1126 rief der polnische Herzog Konrad von Masowien den Hochmeister des Deutschen Ordens, Hermann von Salza, gegen die Pruzzen zu Hilfe. Damit begann die Christianisierung und die deutsche Besiedlung West‑ und Ostpreußens und die Schaffung des deutschen Ordensstaates, der allerdings nur eine lose Verbindung zum Reich hatte. Auch Flamen und Wallonen beteiligten sich an dieser Siedlungsbewegung. In langwierigen Kämpfen gelang es dem Orden, die heidnischen Pruzzen zu unterwerfen und zum Christentum zu bekehren. Der Ordensstaat wuchs zu einem mächtigen Gebilde heran, das durch seine Städtegründungen, seine Methoden zur Landurbarmachung, seine Rechtsnormen und sein Heerwesen europäischen Rang erlangte. Als 1386 der litauische Großfürst Jagiello zum Christentum übertrat und die bis dahin heidnischen Litauer den Wandel ohne äußere Einwirkung mitvollzogen, verlor der Orden seine Hauptzielsetzung: die Christianisierung der Völker im Nordosten. Die im gleichen Jahr vollzogene Heirat der polnischen Thronfolgerin Hedwig mit Jagiello brachte dem Ordensstaat zugleich die gemeinsame litauisch‑polnische Gegnerschaft ein, der er 1410 in der Schlacht bei Tannenberg sich beugen mußte. Markgraf Albrecht von Brandenburg wandelte den Ordensstaat 1525 in ein weltliches Herzogtum um.

 

Was die Entwicklung des Gesamtreiches angeht, so begann nach dem Untergang der Staufer die Reichsmacht immer weiter zu verfallen. Die einzelnen Territorialstaaten bildeten sich stärker heraus. Dieser Partikularismus schwächte das Reich zusehends.

 

Zur Zeit der Goldenen Bulle von 1356 bestand das Deutsche Reich aus dem Königreich Böhmen, dem Erzherzogtum Österreich, der Freigrafschaft Burgund, der Eidgenossenschaft, Friesland, Vogtland, dem Deutschen Ordensstaat, 27 Herzogtümern, 3 Fürstentümern, 10 Markgrafschaften, 3 Pfalzgrafschaften, 6 Landgrafschaften, 4 Burggrafschaften, 95 Grafschaften, 59 Reichsstädten, 7 Erzbistümern, 41 Bistümern, 16 Reichsabteien, 2 Reichsprobsteien.

 

Der Mitte des 13. Jahrhunderts von Lübeck ausgehende und auf das ganze Reich übergreifende Städtebund der Hanse, der den Ostseeraum beherrschte, gab der deutschen Ostsiedlung starke Impulse. Der Stärkung im Osten stand aber die Schwächung im Westen gegenüber. Burgund entfremdete sich zusehends dem Reich und wuchs unter Karl dem Kühnen zu einem gewaltigen Zwischenreich zwischen Deutschland und Frankreich. Besiegelt wurde der Niedergang der kaiserlichen Zentralgewalt im 16. und 17. Jahrhundert durch Gegenreformation und Dreißigjährigen Krieg. Das Reich bestand jetzt nur noch auf dem Papier, denn die Landesfürsten erhielten volle Souveränität einschließlich Bündnisrecht mit ausländischen Mächten. Die Unabhängigkeit der Schweiz und der Niederlande wurde im Westfälischen Frieden von 1648 anerkannt, Frankreich im Besitz von Metz, Toul und Verdun bestätigt, außerdem erhielt es den habsburgischen Besitz im Elsaß. Schweden erhielt Vorpommern mit Stettin und Wismar sowie die Bistümer Bremen und Verden. Lediglich Preußen konnte aus dem Kriege gestärkt hervorgehen und baute die Grundlagen für seine politische Vormachtstellung in Norddeutschland aus.



Der französische Kardinal Mazarin verstand es 1658, eine Anzahl deutscher Fürsten unter Führung der Kurfürsten von Köln und Mainz zum Rheinbund zusammenzuschließen und damit eng an Frankreich und Schweden zu binden. Im Frieden von Rijswik 1697 wurde Frankreich der Besitz des ganzen Elsaß einschließlich Straßburgs zugesprochen. Zur gleichen Zeit gelang im Südosten des Reiches die Niederringung der türkischen Gefahr und der Ausbau der habsburgischen Großmacht Österreich-Ungarn nach Südosten. Zu den Opfern, die Karl VI. zur Anerkennung einer weiblichen Erbfolgeregelung bringen mußte, gehörte auch die Preisgabe Lothringens an Frankreich.

 

In der Regierungszeit Friedrichs des Großen (1740‑1786) entstand Preußen als europäische Großmacht, während Österreich aus den deutschen Grenzen nach Südosten herausstrebte. Die Teilungen Polens zu Ende des 18. Jahrhunderts stärkten zwar Preußen wie Österreich territorial, aber der genialen Kriegführung Napoleons waren die beiden deutschen Großmächte nicht gewachsen. Der Korse erneuerte die Rheinbundpolitik Ludwig XIV. und setzte erfolgreich auf die deutsche Uneinigkeit. Sechzehn deutsche Fürsten, die ein Drittel Deutschlands beherrschten, traten in ein ständiges Bundesverhältnis zu Frankreich. Deutschland war in drei Teile, Preußen, Österreich und den Rheinbund aufgelöst. Im Frieden von Tilsit im Jahre 1807 verlor Preußen alle linkselbischen Besitzungen, die an das unter dem Prinzen Jérome gegründete Königreich Westphalen fielen, sowie den größten Teil des Gewinns aus den Teilungen Polens. Aus diesen Gebieten, außer Westpreußen, wurde das Herzogtum Warschau gebildet. Danzig wurde zur freien Stadt erklärt.

 

Auf dem Wiener Kongreß im Jahre 1815 nach dem Scheitern Napoleons wurde der alte Zustand Deutschlands wiederhergestellt: an die Stelle der 269 Reichsglieder des Westfälischen Friedens waren 38 Mitglieder des neuen Staatenbundes getreten. Ein erster Schritt, um sich aus der restaurativen Epoche, die jetzt folgte, zu lösen, war die von Friedrich List propagierte und von Preußen durch Eichhorn und Motz durchgeführte Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1834. Sieben Jahre später drückte Hoffmann von Fallersleben die Sehnsucht der Deutschen nach Einigkeit in seinem Deutschlandlied aus, das 1922 zur Nationalhymne des Deutschen Reiches erklärt wurde. In der Formulierung "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" umriß er den tatsächlichen geographischen Umfang Deutschlands zur damaligen Zeit, denn das nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennte Nordschleswig lag am Kleinen Belt; das heute holländische Maastricht gehörte zum Gebiet des Deutschen Bundes; mit der Etsch, die an Meran und Bozen vorbeifließt, ist die Südtiroler Grenze umrissen; das Memelland gehörte zwar nicht zum Deutschen Bund, war jedoch das östlichste geschlossene deutsche Siedlungsgebiet.

 

Nach der Revolution von 1848/49 schlug der preußische König Friedrich Wilhelm IV. Österreich die Bildung einer unlösbaren "Deutschen Union" vor, aber Wien lehnte ab. Während Österreich sich mit Reformideen für den Deutschen Bund befaßte, schwang sich Preußen unter der Führung Bismarcks zur Einigung Deutschlands auf. Über den Norddeutschen Bund als Zwischenstufe erreichte er die Einigung. Noch während des Krieges gegen Frankreich im Jahre 1870 traten Baden und Hessen dem Norddeutschen Bund bei. Am 23. November 1870 schloß sich nach schwierigen Verhandlungen auch Bayern und zwei Tage später Württemberg an. Am 18. Januar 1871 wurde in Versailles während der Belagerung der französischen Hauptstadt Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser proklamiert, ‑ eine alte deutsche Sehnsucht wurde Wirklichkeit, wenn auch die Tatsache, daß Österreich als Vielvölkerstaat außerhalb des Zusammenschlusses blieb, Wasser im Wein aller gesamtdeutsch oder wie es damals oft hieß, "großdeutsch" Denkenden darstellte. Die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens jedoch löste überall in Deutschland neue nationale Begeisterung aus. Bismarck baute das neue, das zweite Deutsche Reich als Bundesstaat auf, dem 26 Bundesstaaten angehörten. In einer langen Friedensepoche bis 1914 wuchs das neue Reich zusammen und die deutsche Bevölkerung entwickelte ein starkes deutsches Nationalbewußtsein, das seine eigentliche Bewährungsprobe nach dem Ersten Weltkrieg bestehen mußte.

 

Entwaffnung Deutschlands, riesige Reparationsforderungen und moralische Ächtung Deutschlands als Kriegsverursacher allein genügten den Siegermächten des Ersten Weltkrieges nicht. Von Deutschland wurden außerdem große Gebietsteile abgetrennt. Ziel der Siegermächte war, Deutschland nach Möglichkeit zu verkleinern und ihm industrie- ­und landwirtschaftlich wichtige Gebiete zu nehmen, um seine Macht zu schwächen. Von dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der als einer von Wilsons 14 Punkten ein Bestandteil des von Deutschland mit der Entente am 5. November 1918 abgeschlossenen Vorvertrags geworden war, wurde nur zuungunsten Deutschlands Gebrauch gemacht; entgegen diesem Grundsatz wurde Österreich der Anschluß an Deutschland verboten!

 

Deutschland mußte abtreten: Elsaß-Lothringen mit einer zu achtzig Prozent deutschen Bevölkerung ohne Volksbefragung an Frankreich; Moresnet und Eupen-Malmedy an Belgien nach einer manipulierten Volksbefragung; Teile Ostpreußens, nämlich die Kreise Memel, Heydekrug und Teile des Kreises Tilsit und Ragnit als "Memelland" an die Siegermächte, die es später als Sondergebiet an Litauen weitergaben; den Bezirk um Soldau an Polen; fast ganz Westpreußen und Teile von Pommern an Polen, wodurch Ostpreußen vom Reiche abgetrennt wurde; Danzig als "Freie Stadt Danzig" an den Völkerbund; die Provinz Posen an Polen; das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei; nach zum großen Teil manipulierten Abstimmungen Nordschleswig an Dänemark und weitere Gebiete Westpreußens an Polen. Teile des durch Gesetz des Deutschen Reiches vom 14. Oktober 1919 eine eigene Provinz gewordenen Oberschlesiens wurden nach der Volksabstimmung im März 1921 durch die Entscheidung der Siegermächte Polen zugeschlagen. Das Saargebiet wurde für fünfzehn Jahre einer Völkerbundregierung unterstellt, wonach der endgültige Verbleib durch Volksabstimmung entschieden werden sollte. Das Eigentum an den Kohlegruben im Saarbecken wurde der Ausbeutung durch Frankreich zugesprochen. Bei der Volksabstimmung am 13. Januar 1935 entschieden sich 477.119 Saarländer für die Rückkehr zu Deutschland (90,5%), 2124 für Frankreich, 46.513 für die Fortdauer der Völkerbundsverwaltung; darauf erfolgte am 1. März 1935 die Rückgliederung.

 

Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges trennten nach 1945 noch weit größere Teile vom deutschen Siedlungsraum ab. Das Memelgebiet annektierte Sowjetrußland, ebenso das nördliche Ostpreußen, der südliche Teil Ostpreußens, sowie die östlichen Teile Pommerns, Brandenburgs und fast ganz Schlesien kamen unter polnische Verwaltung. Das Sudetenland wurde erneut an die Tschechoslowakei angegliedert. Die Deutschen wurden zum größten Teil aus ihrer Heimat vertrieben ‑ nicht nur aus den deutschen Ostgebieten, sondern weitgehend auch aus ihren anderen ost- und südosteuropäischen Siedlungsräumen.

 

Es lebten in den Ostgebieten des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937:

 

in Ostpreußen                   2.473.000 Einwohner

in Ost‑Pommern               1.884.000

in Ost‑Brandenburg             642.000

in Schlesien                     4.557.000

zusammen                       9.575.000

 

Vor der Vertreibung lebten außerdem an Deutschen:

 

im tschechoslowakischen Staatsgebiet von 1938

 

(insbes. Sudetenland) 3.477.000 Einwohner

 

in den Baltischen Staaten und im

Memelland         250.000     

in Danzig            380.000

in Polen           1.371.000

in Ungarn           623.000

in Jugoslawien    537.000

in Rumänien       786.000

zusammen       7.424.000

plus Ostgebiete 16.999.000

 

Geburtenüberschuß

 

1939‑1945            659.000

 

Ergibt zusammen: 17.658.000         

Davon starben im Krieg: 1.100.000 Deutsche!



Die unmenschliche und mit größter Brutalität durchgeführte Vertreibung kostete 2.111.000 Deutschen das Leben. Von den in den Vertreibungsgebieten 1939 ansässigen Deutschen fiel somit jeder Fünfte der Vertreibung oder dem Krieg zum Opfer. Zu den 1945‑1950 vertriebenen 11.730.000 Deutschen kam später noch eine große Zahl von Aussiedlern, die, ihrer kulturellen Selbständigkeitsrechte beraubt, und ohne Volksgruppenrechte, keine Zukunft in ihrer Heimat mehr sahen.

 

Wenn man von den Grenzen des Jahres 1937 ausgeht, dann umfassen die in der Folge des Zweiten Weltkrieges abgetrennten Gebiete 114.140 qkm, das entspricht etwa der gesamten Fläche der Schweiz, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs oder fast der Hälfte der Fläche der britischen Inseln. (...)

 

Quelle: "Deutschland - Was ist das?" von Uwe Greve (kulturelle arbeitshefte Nr. 5 - herausgegeben vom Bund der Vertriebenen, Bonn 1980 / 1983, S. 3 - 7