Deutschland - Der Name

 

Der Name deutsch taucht als "diutisc" und "theodisc" im Althochdeutschen zum ersten Mal auf, ist jedoch vor dem Jahre 1000 nicht sicher belegt. "Theod" oder "deot" bedeutet Volk, so daß das Wort als "dem Volke eigen" oder "zum Volke gehörig" übersetzt werden kann. Schon seit 786 erscheint in lateinischen Quellen das Wort "theodisce" und der Begriff "lingua theodisca" als Bezeichnung für die Volkssprache der Germanen. Die Gelehrten der damaligen Zeit unterscheiden zwischen der "vulgären" lingua theodisca und der "hohen" Sprache der Priester und Gelehrten, dem Latein. In Anpassung an die deutsche Lautentwicklung kam es über viele Jahrhunderte zur heutigen Aussprache und Schreibweise. Die noch um 1890 kursierende Deutung, die das Wort auf den germanischen Stamm der Teutonen zurückführte, läßt sich dagegen sprachgeschichtlich nicht belegen.

 

Ist der Begriff deutsch uns also zuerst als Bezeichnung für die Sprache unserer frühen Ahnen überkommen, so erscheint er etwa seit Ende des 11. Jahrhunderts auch in der Verwendung als Volksname und Landesname: diutsche lant, deutsche Lande ist erstmals aus dem Anno‑Lied, das um 1100 entstand, überliefert; ungefähr zur gleichen Zeit auch diutschi liute, deutsche Leute. Der Begriff Deutschheit, im letzten Jahrhundert von Friedrich Ludwig Jahn wieder belebt, findet sich zum ersten Male als teutschikait in den Werken Oswald von Wolkensteins (um 1377‑1445).

 

Die Epoche der deutschen Klassik, die Zeit Lessings, Goethes und Schillers, läßt den Begriff deutsch auch zu einem europäischen Kulturbegriff werden. In den Jahren der Befreiungskriege erschien erstmals das Wort Deutschtum, das später auch als Deutschtümelei ironisiert wurde. Der Deutschlandbegriff für den Staat ist verhältnismäßig jung. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde in Kurzform nicht Deutschland, sondern einfach Reich genannt. Das Wort Reich ‑ althochdeutsch rihhi, mittelhochdeutsch riche  ‑ ist germanischen Ursprungs und wurde schon im Althochdeutschen für "das einer Herrschaft unterworfene Gebiet" genutzt, später bedeutete es auch einfach "Herrschaft" oder "Regierung". In den Jahrhunderten des Dahindämmerns, der Agonie des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, war der Reichsbegriff in Sagen und Legenden, z. B. in der Barbarossa­-Sage, der Symbolbegriff für die Sehnsucht nach der Gemeinsamkeit aller Deutschen unter einem Volkskaiser und entwickelte eine fast mystische Kraft. Nicht selten wurde der Reichsbegriff im 18. Jahrhundert nur für einen Teil des Reiches gebraucht, über "dessen Abgrenzung", wie Hermann Paul in seinem "Deutschen Wörterbuch" formuliert, "die Anschauungen schwanken, insbesondere für Franken und Schwaben, das Gebiet der kleinen Territorien, in dem das Gefühl der Abhängigkeit von der Reichsgewalt lebendiger war als in den größeren Fürstentümern; doch erscheint auch Bayern eingeschlossen". Mit der Reichseinigung durch Bismarck 1871 konnte sich auch der moderne politisch-staatliche Deutschlandbegriff entwickeln, der durch die Grenzen des neu entstandenen Staates eine völkerrechtliche Dimension erlangte. Für den deutschen Staat als Rechtseinheit wurde aber der Begriff Reich weiterhin verwendet. "Deutschland" taucht erst verstärkt nach 1918 und prägend nach 1945 auf, nicht zuletzt, weil die Siegermächte den Ausdruck Deutsches Reich vermieden. Aber auch die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 definiert: "Das Deutsche Reich ist eine Republik". Erst unser Grundgesetz vom 23. Mai 1949 stellt sich als vorläufige Verfassung "für die Bundesrepublik D e u t s c h 1 a n d " dar. Das Dritte Reich hatte sich nach seiner Machtausdehnung Großdeutsches Reich genannt, aber auch das Wort "Großdeutschland" fand häufig Verwendung.

 

Die staatlichen Veränderungen zogen über die Jahrhunderte Sprachwandlungen auf verschiedener Ebene mit sich. War noch bis weit ins 19. Jahrhundert ein Deutscher, wer Deutsch als seine Muttersprache bezeichnen konnte, so tauchte später das Wort "deutschsprachig" z. B. für die Bewohner des deutschen Teiles der Schweiz auf, nach 1945 auch für die Österreicher. Auch Begriffsverbindungen wie Deutsch-Schweizer oder Schweizer‑Deutsche wurden zunehmend in der Öffentlichkeit genutzt.

 

Die deutsche Teilung im Jahre 1945 brachte in bezug auf den Deutschlandbegriff eine schlimme Sprachverwirrung. Selbst der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, sprach  z. B. oft von Ostdeutschland, wenn er das mittlere Deutschland meinte. Nach dem Grundgesetz ist der Deutschland-Begriff zwar an die Grenzen vom 31. Dezember 1937 gebunden, aber es entwickelten sich auch starke Tendenzen, den Deutschlandbegriff auf den westlichen Teil Deutschlands zu verengen. Die Landsleute in der DDR wurden fälschlicherweise immer wieder als Ostdeutsche bezeichnet und auch Formulierungen, wie "Deutsche aus Polen" werden für Spätaussiedler aus den deutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße in den Medien im wachsenden Maße verwendet. Die Bewohner der DDR wie auch die in den Vertreibungsgebieten in den Grenzen von 1937 verbliebenen Deutschen sind jedoch Deutsche im Sinne unseres Grundgesetzes und die e i n e  g e s a m t d e u t s c h e Staatsangehörigkeit darf ihnen gegen ihren Willen nicht entzogen werden. Die DDR dagegen spricht von einer Staatsbürgerschaft der DDR.

 

Wie schlimm die Sprachunordnung bei uns gediehen ist, kann z. B. an Hand der Sport­berichterstattung besonders gut verfolgt werden. Da berichtete etwa während der Olympiade in Moskau ein Reporter, daß bei einem Schwimmwettkampf "kein Deut­scher unter die ersten zehn" gelangt sei, während auf dem Treppchen des Sieger­podests drei Deutsche aus der DDR gerade die Medaillen entgegennahmen. Dabei hat unsere vorläufige Verfassung die Dinge klar angesprochen. Das Grundgesetz gilt "zunächst" im Gebiet der 11 Bundesländer (Art. 23), aber "es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken ver­sagt war". Auch die Diskussion um die Ver­wendung der Abkürzung BRD zeigt das sprachliche Dilemma unserer Zeit in Bezug auf die Begriffswelt "deutsch". Die geringe staatliche Präge‑ und Führungskraft in der Deutschlandfrage hatte zur Folge, daß obwohl sich die Länderregierungen und die Bundesregierung darin einig sind, in amtlichen Dokumenten die Abkürzung nicht zu verwenden ‑ das Kürzel BRD doch im wachsenden Maße in Medien und Umgangssprache auftaucht.

 

Die Herausstreichung des Wortes deutsch aus zahlreichen Formulierungen der DDR-Verfassung und die Umbenennung verschiedener Institutionen, in deren Bezeichnung das Wort deutsch enthalten war, im Jahre 1974, zeigen auf der anderen Seite das Identitätsdefizit im kommunistischen Mitteldeutschland an.

 

Trotz dieser Probleme kann eines festgestellt werden: Der Begriff und die politische Zielsetzung eines geeinten Deutschlands überlebte den Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das Ende des Deutschen Bundes, den Niedergang des zweiten Kaiserreiches 1918, den Tod der Weimarer Republik 1933, den Untergang des Dritten Reiches 1945! Das bleibende Ziel deutscher Einheit und Gemeinsamkeit ist aus unterschiedlichen Gründen zwar immer wieder gescheitert, aber die Deutschen können sich dieser Aufgabe nicht entziehen, denn die deutsche Teilung ist nur das Symbol für die Teilung unseres Kontinents. So bleibt die Herausforderung, das ganze deutsche Vaterland zu schaffen ‑ unabhängig davon, daß die gegenwärtigen Mächtegruppierungen und Blockbildungen derzeit schnelle Erfolge als nicht möglich erscheinen lassen die bedeutendste staatspolitische Aufgabe gerade der in Freiheit lebenden Deutschen, denn ohne die deutsche wird es auch keine europäische Gemeinsamkeit geben, die diesen Namen verdient.

 

Bleibt die Frage, was denn deutsch eigentlich sei? Völker sind, wie Hegel sagte, "organisierte Körper gemeinsamen Lebens" nicht im Sinne eine kollektiven Zwanges von oben, sondern freien Gemeinschaftswillens. Gleiche Sprache, gemeinsamer Lebensraum, gemeinsame Kultur und gemeinsames Brauchtum, sowie gemeinsame geschichtliche Erlebnisse und oft auch gemeinsame Religion sind die typischsten Kennzeichen eines Volkes, das durch die Entwicklung eines Staatswillens zur Nation wird, also zur Willensgemeinschaft, wie es auch in Deutschland der Fall war. Bei all den unterschiedlichen Stammesgrundlagen und Wesensunterschieden der Deutschen einen Nationalcharakter herauszukristallisieren, ist ebenso schwer wie bei anderen Völkern. Und doch verbanden sich mit dem Worte deutsch über die Jahrhunderte typische Eigenschaften; im positiven Sinne u. a.: Arbeitsamkeit, Zähigkeit, Gründlichkeit, Ordnungssinn, Echtheit, Treue, die Fähigkeit, Anregungen aufzunehmen und selbsttätig weiterzuformen, faustische Tiefe des Denkens und vielfältige geistige Begabung, gemütsbetonte Veranlagung, Verinnerlichung; im negativen Sinne u. a.: Unterwürfigkeit, übertriebene Gründlichkeit, Ungestümheit, Maßlosigkeit in Sieg und Niederlage, die Untugend, in "entweder‑oder"- statt in "sowohl als auch"‑Kategorien zu denken und zu handeln, das Einrichten in spießbürgerlicher Behaglichkeit, Politikferne im Geistesleben, Selbstvergessenheit und abstrakter Humanismus, Selbstverleugnung.

 

Aufgabe einer solchen, geschichtlich geprägten Erkenntnis und Selbsterkenntnis ist es, die Tugenden weiterzuentwickeln und die Fehler abzuschleifen.

 

Quelle: "Deutschland - Was ist das?" von Uwe Greve (kulturelle arbeitshefte Nr. 5 - herausgegeben vom Bund der Vertriebenen, Bonn 1980 / 1983, S. 1 - 3